Klare Verhältnisse herrschen im Büro von Pascal Pichonnaz: An der einen Wand sind die privatrechtlichen Bücher aufgereiht – an der anderen jene, die das internationale und europäische Recht betreffen. Die Ordnung steht sinnbildlich für die beiden juristischen Welten, in denen sich der 53-Jährige bewegt. Pichonnaz ist seit zwanzig Jahren Professor für Privatrecht und Römisches Recht an der Universität Freiburg. Über die Rechtsvergleichung wurde auch sein Interesse am europäischen Recht geweckt: «Man kann ein nationales Recht nur dann in seiner Gänze erfassen, wenn man es mit den Rechtsordnungen anderer Länder und Kulturkreise vergleicht», sagt er.
So war Pichonnaz seit Abschluss seines Studiums an der Universität Freiburg 1997 immer auch international ausgerichtet: Unter anderem unterrichtete er europäisches Privatrecht an der Sommeruniversität in Salzburg und war Gastprofessor in Georgetown, Washington, Hongkong und in Schanghai. Er setzte sich für die internationalen Beziehungen der Freiburger Rechtsfakultät ein und wirkt bis heute in mehreren internationalen Schiedsgerichten mit.
Als 2011 das European Law Institut (ELI) mit Sitz in Wien gegründet wurde, war Pichonnaz dabei. Im September wird er dessen Präsident. Hauptzweck des Instituts ist die Weiterentwicklung und «Verbesserung» des europäischen Rechts. «Gutes Recht – das ist im europäischen Kontext ein Recht, das in einem kulturell vielfältigen Kontinent breit anwendbar und den unterschiedlichen Adressaten so klar wie möglich ist», erklärt Pichonnaz.
Das ELI arbeitet Projekte aus, die im Idealfall direkt die europäische Rechtssetzung und die Arbeit der EU-Kommission beeinflussen. Aktuell gibt es zum Beispiel ein Projekt, das über 40 Prinzipien zum Thema Datenwirtschaft auflistet, die dereinst auch den Nationalstaaten als Richtschnur dienen könnten.
Mittlerweile zählt das ELI gut 1500 Personen als Mitglieder – die meisten davon sind Professoren, Richter, Anwälte oder Notare – sowie 115 Organisationen, darunter oberste Gerichte sowie Anwalts- und Notarverbände europäischer Staaten. Als Präsident werde er so etwas wie der «Motor» des Instituts sein, sagt Pichonnaz. In seiner neuen Rolle wird ihm die Aufgabe zukommen, laufende Projekte zu überwachen und voranzutreiben, sowie neue aufzugleisen. Er muss sich mit der Europäischen Kommission und anderen Gremien austauschen und sich um Sponsoren kümmern. Das ELI ist institutionell unabhängig, wird aber von der Europäischen Kommission und einigen staatlichen Organisationen unterstützt. Aus den Mitgliederbeiträgen kommen weitere Einnahmen.
Zweifel, ob ein EU-Beitritt richtig ist
Dass nach dem Scheitern des EU-Rahmenabkommens und dem Zerwürfnis in der Europapolitik zum 10-Jahres-Jubiläum des ELI ausgerechnet ein Schweizer dessen Vorsitz übernimmt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Unter den Mitgliedern habe die besondere Konstellation zu Diskussionen geführt, doch werde sie als positiv wahrgenommen: «Beim ELI handelt es sich nicht um ein EU-, sondern um ein europäisches Institut», sagt Pichonnaz. Es gehe darum, ein aus rechtlicher Sicht starkes Europa voranzutreiben. «Und da kann die Schweiz, die stark vom europäischen Recht beeinflusst ist, einen Beitrag leisten.»
Pichonnaz bezeichnet sich wenig überraschend als «überzeugten Europäer». Würde er einen EU-Beitritt befürworten? «Vor 20 Jahren hätte ich eindeutig Ja gesagt. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher», sagt er. Er betont die Vorteile des direktdemokratischen Modells: «In Frankreich muss man auf die Strasse gehen, um sich Gehör zu verschaffen – bei uns tut man dies mit dem Abstimmungscouvert.»
Die Kritik, wonach die EU zu weit weg von der Bevölkerung agiere, teilt Pichonnaz teilweise. «Die Schweiz sollte sich aber gerade deshalb nicht abkoppeln – sondern darauf hinwirken, dass Europa demokratischer und föderalistischer wird.» Es sei naiv zu glauben, dass man von EU-Einflüssen verschont bleibe, nur weil man nicht der EU beitrete.
Pichonnaz kann einige Bedenken der Gegner des Rahmenabkommens nachvollziehen – zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Lohnschutz. Er beurteilt den Verhandlungsabbruch durch den Bundesrat aber kritisch. Die Stellung der Schweiz in Europa sei seit dem Brexit nicht mehr dieselbe. «Zuvor waren wir der einzige Sonderfall und konnten uns mehr herausnehmen.» Pichonnaz glaubt, dass der Druck auf den bilateralen Weg und die Schweiz steigen werde. Dabei sei es um die Europafreundlichkeit der Schweiz eigentlich gut bestellt: «Wir sind eine der wenigen Bevölkerungen, die sich in Abstimmungen mehrfach positiv zu Europa geäussert haben», sagt er. Nur lasse der politische Diskurs und dessen Wiedergabe bisweilen ein anderes Bild vermuten.
Die Möglichkeiten, als ELI-Präsident positiv auf das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU einzuwirken, sieht Pichonnaz beschränkt. «Wir sind kein politisches Gremium», sagt er. Auch äussere sich das Institut eher allgemein statt einzelfallbezogen. «In einem Projekt befassen wir uns zum Beispiel mit der Frage, was die allgemeinen Voraussetzungen einer unabhängigen Justiz sind – aber nicht damit, wie es darum nun in Ungarn oder Polen steht.»
Flüchtlingsfrage “primär politisch lösen”
Auch die Flüchtlingsfrage und die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer seien primär politisch zu lösen. Immerhin habe das Institut 2017 aber ein Projekt ausgearbeitet, das sich dem Schutz von Erwachsenen in «internationalen Situationen» widmet – gemeint sind primär Grenzübertritte im Zuge von Flucht und Einwanderung. Dessen Grundsätze sollen die Haager Abkommen zum Schutz von Kindern oder Behinderten ergänzen.
Bei aller Befassung mit grossen Fragen und Problemen der Gegenwart kommt für Pichonnaz die Erdung nicht zu kurz: Diese verschafft er sich unter anderem als Klarinettist in einem Blasorchester, der «Landwehr de Fribourg». Laut Präsident Pierre-André Page ist Pichonnaz trotz beruflicher Belastung sehr präsent. «Mit seinem Humor und seiner kompetenten Ausstrahlung trägt er zur Bereicherung unseres ziemlich jungen Ensembles bei.» Pichonnaz nimmt im lokalen Orchester somit eine ähnliche Sonderrolle ein wie als Schweizer im europäischen Rechtsinstitut.