Der Bundesrat kann gestützt auf Artikel 184 und 185 der Bundesverfassung (BV) befristete Verordnungen erlassen, wenn «die Wahrung der Interessen des Landes» oder «drohende schwere Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit» es erfordern.
In den vergangenen zwei Jahren machte der Bundesrat von der zweiten Notrechtsklausel rege Gebrauch und erliess zahlreiche Corona-Notverordnungen. Etwa die Covid-19-Verordnung Erwerbsausfall, die Covid-19-Verordnung Miete und Pacht oder die Covid-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht. Andere wie die Covid-19-Verordnung 2 erliess er gestützt auf Artikel 6 und 7 Epidemiengesetz. Danach kann der Bundesrat bei einer «besonderen» oder «ausserordentlichen Lage» fürs ganze Land oder einzelne Landesteile die «notwendigen Massnahmen» anordnen.
Wer von einer Massnahme betroffen war, konnte die Anordnung nur im Einzelfall in Form der konkreten Normenkontrolle gerichtlich überprüfen lassen. Das dauert oft Jahre. Eine generell-abstrakte rasche Überprüfung auf ihre rechtliche Zulässigkeit ist unter heutigem Recht nicht möglich, Artikel 189 Absatz 4 BV schliesst die Anfechtbarkeit von Akten der Bundesversammlung und des Bundesrats beim Bundesgericht aus. Deshalb blieb gerichtlich ungeprüft, ob die Massnahmen des Bundesrats erforderlich und angemessen, also zulässig waren. Ein überparteiliches Komitee aus dem Kanton Zürich, dem auch viele parteilose Juristen angehören, will das mit einer Standesinitiative ändern.
Laut Initiative soll das Bundesgericht alle Verordnungen und Verfügungen von Bundesrat und Bundesversammlung, die sich auf die Verfassung stützen, als einzige Instanz innert drei Monaten überprüfen können. Dasselbe soll gelten für Verordnungen und Verfügungen gestützt auf Erlasse wie das Epidemien-, Embargo- oder Landesversorgungsgesetz, die «eine ähnliche Wirkung entfalten wie verfassungsunmittelbare Verordnungen oder Verfügungen». Die jeweilige Bundesbehörde müsse bei Grundrechtseingriffen belegen, dass sämtliche Voraussetzungen erfüllt sind.
Offensichtliche Lücke im geltenden Recht schliessen
Laut Thomas Gächter, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, zeigten sich bei den Covid-Massnahmen des Bundesrats die Lücken im Rechtsschutz. Gächter begrüsst aus rechtsstaatlicher Sicht, dass die Initiative sie schliessen will. Seines Erachtens schiesst der Wortlaut aber teilweise über das Ziel hinaus, indem das Volksbegehren die Aufhebung der gesamten Verordnung verlange, wenn die in der Verfassung genannten Kriterien für Notrecht nicht erfüllt sind.
Staatsrechtsprofessor Bernhard Waldmann von der Universität Freiburg weist darauf hin, dass weder die Rechtsweggarantie der Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 6) noch der Bundesverfassung (Artikel 29a) eine abstrakte Normenkontrolle verlangen. Die Überprüfung von verfassungsunmittelbaren Notrechtsverordnungen erfolgt nach seiner Auffassung nach heutigem Recht regelmässig zu spät.
Die Initiative geht aber laut Waldmann insofern zu weit, als sie eine direkte Anfechtbarkeit von Verordnungen und Verfügungen gestützt auf das Epidemien-, Embargo- und Landesversorgungsgesetz verlange. Dabei handle es sich nicht um «Notrecht», sondern um unselbständige, gestützt auf eine gesetzliche Delegationsnorm erlassene Verordnungen. «Eine Ausdehnung der direkten Anfechtbarkeit auf solche Verordnungen bedarf meines Erachtens einer Verfassungsänderung.»
Der mit der Zürcher Standesinitiative vorgeschlagene Weg über eine Gesetzesänderung ist zwar gemäss Waldmann denkbar. Er hält aber eine Teilrevision von Artikel 185 BV für sinnvoller. Sein Vorschlag: Der Bundesrat könnte etwa verpflichtet werden, die Verordnung dem Bundesgericht zur Vorprüfung vorzulegen und bis zum Entscheid nur provisorisch in Kraft zu setzen.
Beweislast bei anordnender Behörde
Artur Terekhov, Jurist aus Oberengstringen ZH und Präsident des Initiativkomitees, widerspricht: «Die Initiative setzt keine obligatorische Verfassungsänderung voraus.» Die konstante Rechtsprechung des Bundesgerichts lasse die Überprüfung einer Verordnung durch das Bundesgericht nach Artikel 190 BV mitunter zu, um zu prüfen, ob der Bundesrat auch bei weit gefassten Delegationsnormen den Ermessensspielraum nicht überschreite. Im Übrigen verweist Terekhov darauf, dass die konkrete Umsetzung der Initiative Sache des Bundesparlamentes ist.
Für Hansjörg Seiler, emeritierter Professor für öffentliches Recht und ehemaliger Bundesrichter, rennt die Initiative teilweise offene Türen ein. Artikel 189 Absatz 4 BV lasse eine abstrakte Normenkontrolle ausnahmsweise zu. Interessant findet Seiler den Vorschlag, wonach die anordnende Behörde die Beweislast trägt. Bisher trage sie nur auf Rüge hin eine Begründungslast.
So funktioniert eine kantonale Standesinitiative
Jedem Kanton steht laut Artikel 160 BV das Recht zu, dem Parlament eine Initiative zu unterbreiten. Ein Kanton kann damit vorschlagen, dass eine Kommission einen Entwurf für einen Erlass der Bundesversammlung ausarbeitet.
Wer eine Standesinitiative ergreifen kann, bestimmt das kantonale Recht. In der Regel ist das Sache des Parlaments. In neun Kantonen ist auch eine Volksinitiative möglich. Im Kanton Zürich braucht es dafür innert sechs Monaten 6000 Unterschriften von Stimmberechtigten.
Die für das Sachgebiet zuständige Kommission des eidgenössischen Parlaments prüft, ob der Anlass für eine Regelung grundsätzlich gegeben und die Form einer Standesinitiative zweckmässig ist (Artikel 116 und 110 Parlamentsgesetz). Der Beschluss, einer Initiative Folge zu geben, bedarf der Zustimmung der Kommissionen beider Räte. Stimmt eine Kommission nicht zu, entscheidet der Rat. Stimmt der Rat nicht zu, geht die Initiative an den anderen Rat. Eine zweite Ablehnung durch einen Rat ist endgültig. Wird einer Initiative Folge gegeben, arbeitet die Kommission innert zwei Jahren eine Vorlage aus und unterbreitet sie dem Plenum.
Der vollständige Initiativtext ist zu finden auf:
www.notrechtsinitiative.ch. Die Unterschriftensammlung läuft bis Ende März 2023.
Ein Unterschriftenbogen liegt der Zürcher Auflage von plädoyer bei.