Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Die Migrationsbehörden entzogen im April 2020 einem Spanier, der Sozialhilfe im Umfang von fast 290 000 Franken bezogen hatte, die 1993 erteilte Niederlassungsbewilligung. Seit April 2021 bezieht der Mann infolge Frühpensionierung eine AHV-Rente und Ergänzungsleistungen. Das Bundesgericht hat eine gegen die Aufhebung der Niederlassungsbewilligung eingereichte Beschwerde gutgeheissen. Grund: Der Widerrufsgrund der Sozialhilfeabhängigkeit im Sinn von Artikel 63 des Ausländer- und Integrationsgesetzes bestand im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils (Ende November 2021) nicht mehr; der Spanier bezog seit acht Monaten keine Sozialhilfe mehr, sondern eine AHV-Rente mit Ergänzungsleistungen. Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung fallen Ergänzungsleistungen nicht unter den Begriff der Sozialhilfe, auch wenn gewisse Ähnlichkeiten bestehen. Die Niederlassungsbewilligung kann nicht entzogen werden.
2C_60/2022 vom 27.12.2022
Artikel 83 litera b des Bundesgerichtsgesetzes besagt, dass bei Entscheiden über die ordentliche Einbürgerung eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht unzulässig ist. Kürzlich hatte das Bundesgericht die in der Lehre umstrittene Frage zu beurteilen, ob diese Bestimmung auch Beschwerden über die eidgenössische Einbürgerungsbewilligung ausschliesst. Zweck von Artikel 83 BGG ist laut Gericht der Ausschluss der Beschwerde bei technischen oder überwiegend politischen Entscheiden sowie, namentlich im Bereich des Asyls, in Rechtsgebieten mit einer sehr hohen Zahl von Fällen, die zu einer Überlastung des Bundesgerichts führen können. Dies sei bei der eidgenössischen Einbürgerungsbewilligung nicht der Fall, da nicht mit einer grossen Anzahl von Fällen zu rechnen ist. Aufgrund der systematischen Zusammenhänge und aus teleologischer Sicht bestehe kein Anlass, die Beschwerde gegen Entscheide über die Eidgenössische Einbürgerungsbewilligung ans Bundesgericht nicht zuzulassen.
1C_141/2022 vom 19.12.2022
Die im November 2021 im Kanton Basel-Landschaft angenommene Initiative «Ja zum echten Wohnschutz» sieht eine Änderung von zahlreichen Bestimmungen des kantonalen Gesetzes über die Wohnraumförderung vor. Neu gilt etwa, dass sämtliche Umbau-, Renovations- und Sanierungsarbeiten, die über den ordentlichen Unterhalt hinausgehen, in Zeiten der Wohnungsnot einer Bewilligungspflicht unterliegen. Eine Bewilligung wird nur erteilt, wenn den Mietparteien das Recht zur Rückkehr in die sanierte Liegenschaft zusteht und die im Gesetz festgelegten Mietzinse eingehalten werden. Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde gutgeheissen, weil das Rückkehrrecht der Mietparteien gegen den verfassungsmässig garantierten Vorrang des Bundesrechts verstösst.
1C_759/2021 vom 19.12.2022
Zivilrecht
Zum Schutz gegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen kann ein Gericht jemandem unter anderem verbieten, sich einer Person zu nähern, sie zu belästigen oder sich an bestimmten Orten aufzuhalten (Artikel 28 ZGB). Das Gericht kann auf Antrag auch anordnen, dass die Täterschaft eine elektronische Vorrichtung – eine Fussfessel – tragen muss, mit der fortlaufend der Aufenthaltsort ermittelt und aufgezeichnet wird. Das Bundesgericht hat in einem Grundsatzentscheid festgehalten, wann eine Anordnung dieser einschneidenden Massnahme angebracht und verhältnismässig ist. Das Tragen einer Fussfessel kann zwar nicht den Schutz des Opfers garantieren, aber ihn so weit wie möglich verstärken, einerseits durch eine abschreckende Wirkung, andererseits als Beweismittel im Falle eines Verstosses gegen die Auflagen.
5A_881/2022 vom 2.2.2023, 5A_420/2022 vom 8.12.2022
Die zwingende Bestimmung von Artikel 329 d OR (Bezahlung des Ferienlohns) will sicherstellen, dass der Arbeitnehmer im Zeitpunkt, in dem er die Ferien tatsächlich bezieht, über das notwendige Geld verfügt, um sie sorgenfrei verbringen zu können. Bei unregelmässiger Beschäftigung liess die Rechtsprechung Abweichungen von dieser grundsätzlich zwingenden Bestimmung zu. Damit soll Schwierigkeiten bei der Berechnung des auf die Ferien entfallenden Lohns bei unregelmässigen Arbeitseinsätzen Rechnung getragen werden. Mit Blick auf die heute zur Verfügung stehenden Softwareangebote und Zeiterfassungssysteme erscheint die Berechnung des Ferienlohnes laut Gericht auch bei monatlichen Schwankungen nicht als unzumutbar. Eine Abweichung vom Abgeltungsverbot bei einer Vollzeitbeschäftigung eines Arbeitnehmers ist unzulässig.
4A_357/2022 vom 30.1.2023
Strafrecht
Das Polizeigericht des Kantons Waadt hatte einem Offizialverteidiger eine Entschädigung von 5328 Franken zugesprochen. Im Appellationsverfahren kürzte das zuständige Gericht die Entschädigung von sich aus um 373 Franken, was der Offizialverteidiger nicht akzeptierte. In einem Grundsatzentscheid hat das Bundesgericht jetzt festgehalten, dass eine Kürzung der Entschädigung des Offizialverteidigers durch die Oberinstanz einer Verletzung des Grundsatzes der «reformatio in peius» gleichkommt und nicht zulässig ist. Diese Lösung rechtfertigt sich gemäss dem Bundesgerichtsurteil umso mehr, als die Staats-anwaltschaft legitimiert ist, die Höhe der Entschädigung im Appellationsverfahren zu bestreiten.
6B_1362/2021 vom 26.1.2023
Nach Artikel 312 StGB macht sich ein Behördenmitglied unter anderem des Amtsmissbrauchs schuldig, wenn es die Amtsgewalt missbraucht, um einem andern einen Nachteil zuzufügen. Die Art des Nachteils ist im Gesetz nicht genauer definiert. Laut Rechtsprechung reicht eine unnötige Kränkung oder eine psychische Destabilisierung ebenso aus wie eine körperliche Misshandlung. Der vom Täter beabsichtigte Nachteil kann auch in der Zwangshandlung selbst liegen. Fall eines Polizisten, der laut Anklageschrift aus kurzer Distanz einen Pfefferspray einsetzte und dabei sein Opfer zwischen Brust und Stirn und insbesondere in den Mund traf. Ein Angriff des Opfers lag nicht vor. Damit hat der Polizist unverhältnismässigen Zwang ausgeübt und dabei gewusst, dass er dem Opfer einen Nachteil zufügt.
6B_101/2022 vom 30.1.2023
Ein Autofahrer, der die erlaubte Geschwindigkeit massiv (49 Kilometer pro Stunde) überschritten hatte, wurde mit Strafbefehl wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln zu 180 Tagessätzen und einer Busse verurteilt. Dagegen erhob der Lenker Einsprache. In der Folge erhob die Staatsanwaltschaft weitere Beweise und teilte dem Lenker mit, dass sie das Verfahren wegen besonders krasser Missachtung der signalisierten Höchstgeschwindigkeit weiterführe. Der Lenker zog seine Einsprache zurück, trotzdem erhob die Staatsanwaltschaft Anklage. Zu Recht, wie nun das Bundesgericht entschieden hat. Dieses Vorgehen entspricht der gesetzlichen Regelung und verstösst nicht gegen den Grundsatz «ne bis in idem». Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, Anklage zu erheben, wenn sie aufgrund abgenommener Beweise zum Schluss gelangt, dass die Angelegenheit nicht mehr im Strafbefehlsverfahren erledigt werden kann. Im konkreten Fall hatte ein Gutachten ergeben, dass die Tempoüberschreitung mindestens 50 Kilometer pro Stunde betragen hatte.
6B_222/2022 vom 18.1.2023
Sozialversicherungsrecht
Der Touring Club Schweiz (TCS) betreibt in der Schweiz verschiedene Service-Center, in denen auch amtliche Motorfahrzeugkontrollen durchgeführt werden. Die Suva verfügte gegenüber einer TCS-Sektion, dass die Angestellten ab Anfang 2020 bei ihr zu versichern sind. Sie stützte sich dabei auf das UVG und dessen Ausführungsbestimmungen. Gemäss Artikel 77 lit. f UVV fallen jene Betriebe unter die Versicherungspflicht der Suva, die «Motorfahrzeuge aufbewahren, reinigen, reparieren oder bereitstellen». Vor Bundesgericht war strittig, ob die in den Service-Centern vorgenommenen Fahrzeugprüfungen in den Zuständigkeitsbereich der Suva fallen. Mit dem Bundesverwaltungsgericht kommt das Bundesgericht zum Ergebnis, dass dies der Fall ist. Die erstellten Mängellisten im Rahmen von Fahrzeugprüfungen gelten als technische Vorbereitungshandlungen im Sinne von Artikel 66 Absatz 1 litera m UVG. Dass der Prüfbericht keine Anleitung zur Behebung des Mangels enthält, sondern die mit der Reparatur betreute Fachperson das Fahrzeug gestützt auf ihr eigenes Fachwissen repariert, spielt keine Rolle.
8C_109/2022 vom 22.2.2023