Nein, die Durchsuchung der Mailbox ist ein massiver Eingriff in die Grundrechte. Der in der Mailbox gespeicherte Mailverkehr widerspiegelt regelmässig das ganze Privatleben im Sinne von Artikel 13 Bundesverfassung und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Der Eingriff ist vergleichbar mit dem Abhören von Telefongesprächen. Das Bundesgericht hat die Spielregeln für die Durchsuchung der Mailbox vor 10 Jahren in einem Leitentscheid festgelegt (BGE 140 IV 28). Danach kann der E-Mail-Provider die Siegelung verlangen, aber auch der Inhaber der Mailbox. Wird eine Siegelung verlangt, darf die Mailbox weder durchsucht noch deren Inhalt ausgewertet werden.
Das rechtliche Gehör und das Siegelungsrecht muss dem Mailboxinhaber laut Bundesgericht von Amtes wegen vor einer Durchsuchung gewährt werden. Diese Praxis ist unbestritten und wird demnächst zum Gesetz: Der revidierte Artikel 248 der Strafprozessordnung wird per 1. Januar 2024 in Kraft treten.
In plädoyer 2/2023 wurde die eingangs gestellte Frage von Andreas Dudli anders beantwortet. Nach geltendem Recht habe nur der Provider das Recht, die Siegelung der zu übermittelnden Daten zu verlangen. Diese Aussage ist falsch. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und der Lehre sind nebst dem Inhaber von Aufzeichnungen auch Personen, welche unabhängig von den Besitzverhältnissen ein rechtlich geschütztes Interesse an der Geheimhaltung des Inhalts der Aufzeichnungen haben, berechtigt, die Siegelung zu beantragen.1
Die Siegelung ist sogar von Amtes wegen vorzunehmen, wenn die Sicherstellung ohne Vorankündigung erfolgt und die zur Siegelung Berechtigten ausserstande sind, sich an Ort und Stelle zu den Geheimnissen und/oder zur Relevanz der Aufzeichnungen zu äussern.2
Auch die zweite zentrale Aussage von Andreas Dudli ist falsch. Unrichtig ist nämlich, dass die Staatsanwaltschaft bei Beschlagnahmung der Mailbox bei einem Provider erst nach neuem Recht auch den Kontoinhaber informieren muss, damit dieser davon weiss und ein entsprechendes Gesuch stellen kann. Die Strafverfolgungsbehörde muss bereits nach geltendem Recht von Amtes wegen vor der Durchsuchung den Berechtigten das rechtliche Gehör gewähren und ihnen die Möglichkeit geben, die Siegelung zu verlangen. An der Regelung von Artikel 248 Absatz 2 der revidierten Strafprozessordnung ist nur gerade die ausdrückliche Frist von drei Tagen neu.3
In aussergewöhnlichen Fällen tolerierte das Bundesgericht zwar eine Grobsichtung von Aufzeichnungen unter der Bedingung, dass es sich um sehr grosse Datenmengen und schwere Kriminalität handelt sowie Gefahr in Verzug besteht. Im Rahmen einer normalen Datenedition bei E-Mail-Providern aber ist klar, dass den betroffenen Personen unmittelbar das rechtliche Gehör gewährt werden muss. Eine heimliche Durchsuchung der Mailbox ist unzulässig.
Fazit: Das Problem ist nicht eine unzureichende Rechtslage. Das Problem ist vielmehr, dass die Strafverfolgungsbehörden geltendes Recht nicht anwenden.
1 BGE 140 IV 28, E. 4.3.4; BGer 1B_49/2021 vom 14.12.2021, E. 5.7; BGer 1B_30/2020 vom 27.5.2020, E. 2.3; Appellationsgericht Basel-Stadt SB.2015.108 vom 8.8.2016, E. 3.3.2; Olivier Thorman / Beat Brechbühl, in: Marcel Alexander Niggli, Marianne Heer, Hans Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Basel 2014, 2. Aufl., N 6 ff. zu Art. 248.
2 Vgl. Thormann / Brechbühl, a.a.O., N 9 zu Art. 248.
3 BGE 140 IV 28, E. 4.3.5; BGer 1B_30/2020 vom 27.5.2020, E. 2.3; Thormann / Brechbühl, a.a.O., N 8 zu Art. 248.