Das gilt neu bei Zivilprozessen
Zivilprozessordnung · Kein Kostenrisiko mehr für die klagende Partei, tiefere Prozesskostenvorschüsse und neue Kompetenzen für die Schlichtungsbehörden: Die wichtigsten Änderungen der ZPO-Revision.
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Plädoyer 02/2023
03.04.2023
Michael Krampf
Ende Februar 2020 veröffentlichte der Bundesrat die Botschaft an das Parlament für eine revidierte Zivilprozessordnung (ZPO). Ein Jahr später beugte sich der Ständerat ein erstes Mal über die Vorlage. Ihm folgte der Nationalrat im Mai 2022. Danach ging der Entwurf zwischen den Räten zwei Mal hin und her. Am 15. März 2023 fanden sich die Parlamentarier in einer Einigungskonferenz über die letzten 13 strittigen Neuerungen. In der darauffolgenden Schl...
Ende Februar 2020 veröffentlichte der Bundesrat die Botschaft an das Parlament für eine revidierte Zivilprozessordnung (ZPO). Ein Jahr später beugte sich der Ständerat ein erstes Mal über die Vorlage. Ihm folgte der Nationalrat im Mai 2022. Danach ging der Entwurf zwischen den Räten zwei Mal hin und her. Am 15. März 2023 fanden sich die Parlamentarier in einer Einigungskonferenz über die letzten 13 strittigen Neuerungen. In der darauffolgenden Schlussabstimmung nahm der Ständerat die Vorlage mit 42:0 an.
Im Nationalrat hatten 139 Parlamentarier für die Vorlage gestimmt. Die SVP votierte – mit Ausnahme des Walliser Anwalts Jean-Luc Addor – geschlossen dagegen. Die Revision bringe lediglich «punktuelle Verbesserungen», schreibt der Schwyzer Nationalrat Pirmin Schwander, die SVP gewichte die Rechtssicherheit höher.
Treiber der Revision waren folgende Punkte:
- Prozesskosten: Die Gerichte dürfen von der klagenden Partei nur noch einen Vorschuss von höchstens der Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten verlangen (Artikel 98). Und die klagende Partei soll nicht mehr für die Kosten aufkommen müssen, wenn sie den Prozess gewinnt (Artikel 111). Die meisten Kantone waren gegen diese Änderung (plädoyer 1/2019). Daher kam es zu einem Kompromiss: Vor der Schlichtungsbehörde, im Summar- und Rechtsmittelverfahren können die Gerichte vom Kläger weiterhin den vollen Vorschuss verlangen. Die Gerichtskosten zahlt aber neu immer jene Partei, der sie vom Gericht auferlegt werden. Das heisst: der Kläger erhält den Vorschuss bei Obsiegen zurück.
- Kollektiver Rechtsschutz: Hier machte der Bundesrat einen Rückzieher und nahm diesen Teil aus der Vorlage (plädoyer 2/2020). Auf eine separate Botschaft des Bundesrates zum kollektiven Rechtsschutz trat die Rechtskommission des Nationalrats im Juni 2022 nicht ein. Begründung: Es seien noch zu viele Fragen offen. Die Kommission beauftragte das Justizdepartement mit einer Regulierungsfolgeschätzung sowie einem Rechtsvergleich zu Kollektivklagerechten in EU-Staaten. Frühestens Mitte 2023 wird die Kommission die Beratung der Vorlage wieder aufnehmen.
- Schlichtungsverfahren: Neu können die Schlichtungsbehörden in allen vermögensrechtlichen Streitigkeiten einen Urteilsvorschlag bis zu einem Streitwert von 10000 Franken unterbreiten (Artikel 210) – bisher lag die Schwelle bei 5000 Franken. Wer künftig unentschuldigt einer Schlichtungsverhandlung fernbleibt, kann neu mit einer Ordnungsbusse bis zu 1000 Franken bestraft werden (Artikel 206).
Neben diesen zentralen Themen wurden 80 der rund 400 Bestimmungen der bestehenden Prozessordnung geändert. Hier eine Auswahl der wichtigsten Änderungen von «B» wie «Begründung» bis «Z» wie «Zivilprozessrechtsstatistik»:
- Begründung (Artikel 318, 239): Neu kann auch die Rechtsmittelinstanz ihre Urteile nur noch im Dispositiv verschicken. Sie muss sie nur schriftlich begründen, wenn eine Partei das verlangt.
- Berufung (Artikel 314 und 317): Bei familienrechtlichen Streitigkeiten, die dem summarischen Verfahren unterliegen, wie etwa der Eheschutz, beträgt die Frist für die Berufung und die Berufungsantwort neu 30 Tage. Bei Verfahren, in denen die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt von Amtes wegen erforschen muss, hat sie neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung zu berücksichtigen.
- Einzige Instanz (Artikel 5): Für Klagen gegen den Bund müssen die Kantone erst ab einem Streitwert von 30000 Franken eine einzige Instanz bezeichnen.
- Fristenstillstand (Artikel 145): Die Regeln über den Stillstand der Fristen gelten auch für alle SchKG-Gerichtsklagen, mit Ausnahme der SchKG-Beschwerde.
- Fristenwahrung (Artikel 143): Eine Frist gilt bei Eingaben auch dann als gewahrt, wenn sie irrtümlich bei einem offensichtlich unzuständigen schweizerischen Gericht eingereicht wurde. Das Gericht muss dann die Eingabe von Amtes wegen an das zuständige Gericht in der Schweiz weiterleiten.
- Fristenwiederherstellung (Artikel 149): Ein vom Gericht abgelehntes Gesuch um Wiederherstellung der Frist kann neu angefochten werden, falls der Ablehnungsentscheid den definitiven Verlust einer Klage oder eines Angriffsmittels bewirkt.
- Handelsgericht (Artikel 6): Ein nicht im Handelsregister eingetragener Kläger soll das Handelsgericht bei arbeits- oder mietrechtlichen Streitigkeiten nicht mehr wählen können – er muss dann stets beim ordentlichen Gericht klagen. Zudem sollen Gerichte auch für internationale Handelsstreitigkeiten zuständig werden können, wenn unter anderem der Streitwert mindestens 100 000 Franken beträgt und beide Parteien damit einverstanden sind.
- Klagehäufung (Artikel 90): Sie ist zulässig, wenn die unterschiedliche sachliche Zuständigkeit oder Verfahrensart nur auf dem Streitwert beruht.
- Medien (Artikel 266): Vorsorgliche Massnahmen gegen Medien sind neu bereits möglich, wenn die drohende Rechtsverletzung einen «schweren», nicht wie bisher einen «besonders schweren» Nachteil verursachen kann.
- Mitwirkungsverweigerungsrecht (Artikel 167a): Das bisher nur für Anwälte geltende Mitwirkungsverweigerungsrecht wird auf Unternehmensjuristen ausgedehnt, falls der Leiter des internen Rechtsdienstes ein Anwaltspatent besitzt.
- Noven (Artikel 229): Hat im ordentlichen Verfahren weder ein zweiter Schriftenwechsel noch eine Instruktionsverhandlung stattgefunden, können neue Tatsachen und Beweismittel in der Hauptverhandlung im ersten Parteivortrag unbeschränkt vorgebracht werden.
- Parteikosten (Artikel 96): Die Kantone können den Anwälten einen eigenen Anspruch auf die zugesprochene Parteientschädigung einräumen.
- Parteigutachten (Artikel 177): Parteigutachten gelten neu ausdrücklich als Urkunden und nicht nur als Parteibehauptung. Sie können daher als zulässige Beweismittel im Prozess verwendet werden.
- Rechtliches Gehör (Artikel 53): Das Gericht muss einer Partei neu mindestens zehn Tage Zeit geben, damit diese zu einer Eingabe der Gegenpartei Stellung nehmen kann.
- Protokollierung (Artikel 176a): Werden Aussagen von Parteien, Zeugen oder Gutachten aufgenommen, kann neu das Protokoll gestützt auf die Aufzeichnung erstellt werden.
- Prozesskostenverteilung (Artikel 106): Sind an einem Prozess mehrere Parteien als Haupt- oder Nebenparteien beteiligt, verteilt das Gericht die Kosten auf die Parteien nach Massgabe ihrer Beteiligung. Nur noch bei der einfachen Streitgenossenschaft ist eine solidarische Haftung möglich.
- Revision (Artikel 328): Sie ist neu bei einem rechtskräftigen Entscheid möglich, wenn eine Partei einen Ausstandsgrund erst nach Abschluss des Verfahrens entdeckt und ihr kein anderes Rechtsmittel zur Verfügung steht.
- Schlichtungsverfahren (Artikel 198, 199): Es entfällt neu unter anderem auch bei Klagen über den Unterhalt von minder- und volljährigen Kindern und weiteren Kinderbelangen sowie bei Streitigkeiten aus Zusatzversicherungen zur Krankenkasse. Hingegen ist bei Handelsstreitigkeiten neu ein Schlichtungsverfahren möglich.
- Säumnis (Artikel 245): Bei einer unbegründeten Klage im vereinfachten Verfahren werden die Parteien bei Säumnis nur noch ein Mal zu einer Verhandlung innert 30 Tagen vorgeladen.
- Streitverkündungsklage (Artikel 81): Sie ist zulässig beim mit der Hauptklage befassten Gericht, wenn die Ansprüche mit der Hauptklage in einem Zusammenhang stehen, das Gericht für die Ansprüche sachlich zuständig ist und die Hauptklage und die Ansprüche im ordentlichen Verfahren zu beurteilen sind.
- Streitwert Verbandsklage (Artikel 94a): Bei einer Verbandsklage setzt das Gericht den Streitwert entsprechend dem Interesse der einzelnen Angehörigen der betroffenen Personengruppe und der Bedeutung des Falls nach Ermessen fest.
- Summarsachen (Artikel 249, 250): Neu werden auch Massnahmen bei Organisationsmängeln eines Vereins, einer AG, GmbH und einer Genossenschaft im summarischen Verfahren beurteilt.
- Unentgeltliche Prozessführung (Artikel 118): Sie kann neu auch für die vorsorgliche Beweisführung beantragt und gewährt werden.
- Verfahrenssprache (Artikel 129): Neu kann das kantonale Recht vorsehen, dass auf Antrag aller Parteien eine andere Landessprache oder – bei internationalen handelsrechtlichen Streitigkeiten – Englisch benutzt wird.
- Videokonferenz (Artikel 141a, 141b, 170a): Parteien, Zeugen und Gutachter können neu vom Gericht in einer Videokonferenz befragt werden, wenn alle Parteien damit einverstanden sind.
- Zivilprozessrechtsstatistik (Artikel 401a): Bund und Kantone müssen neu verschiedene Daten zu den Zivilprozessen erheben, wie zum Beispiel Anzahl, Art, Inhalt, Dauer und Kosten der Verfahren.