Es war Bryan Stevensons jüngste grosse Ehrung: Die New York University (NYU) hatte den 63-Jährigen am 31. Januar zum Universitätsprofessor ernannt, eine Auszeichnung, die nur herausragenden Lehrkräften zuteil wird, deren Arbeit breit gefächert ist. «Bryan hat erkannt, dass ein guter Anwalt nicht nur Fälle gewinnt, sondern auch ein neues Narrativ unseres Landes und der Gerechtigkeit schafft», lobte Troy McKenzie, Dekan der NYU School of Law.
Stevenson ist seit 25 Jahren Mitglied der rechtswissenschaftlichen Fakultät der NYU. Er lehrt Prozessrecht, Law and Racial Justice sowie die Bedeutung des achten Amendments der US-Bundesverfassung, das unter anderem «grausame und ungewöhnliche Bestrafung» verbietet. Seine Lehrtätigkeit sieht der Afroamerikaner als hervorragende Möglichkeit, Jus-Studenten für die rechtlichen Bedürfnisse der Armen zu sensibilisieren und Benachteiligten in unterentwickelten Regionen zu helfen.
Der renommierte Anwalt und Bürgerrechtler hat im Lauf der Jahrzehnte zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen erhalten. Etwa den Alternativen Nobelpreis, den Mac Arthur Foundation Genius Prize, die National Medal of Liberty der American Civil Liberty Union sowie rund 40 Ehrendoktortitel, darunter von Princeton, Yale und Harvard.
Stevenson sorgt sich um die Identität seines Landes – und um die Rechtsprechung. Seit den 1970er-Jahren habe die politische Rhetorik kollektive Angst und Wut geschürt und die strafende Politik befeuert. Dies führte in den USA zu den weltweit höchsten Inhaftierungsraten und in der Folge zu Ungerechtigkeiten zwischen People of Color und Weissen, die sich laut Stevenson in jedem Bereich des täglichen Lebens widerspiegelten. «Das Resultat dieser Politik ist noch mehr Gewalt», resümierte er in seiner Antrittsrede als Uni-Professor der NYU: «Massenerschiessungen. Waffengewalt. Bandengewalt. Häusliche Gewalt. Sexuelle Gewalt. Polizeigewalt. All dies ist Ausdruck des kollektiven Versagens. Wir können nicht strafend zu einer weniger gewalttätigen Gesellschaft werden.» Ohne den Wechsel des Narrativs würden die USA keine Fortschritte machen.
Es ist eine beispiellose Laufbahn, die Stevenson in seinen bislang 38 Berufsjahren zurückgelegt hat. In einem ausführlichen Porträt der «NYU Law Revue» von 2007 erfährt man einige erhellende Details aus seiner frühen Biografie. Nachdem der Oberste Gerichtshof der USA 1954 die Rassentrennung im öffentlichen Schulwesen für verfassungswidrig erklärt hatte, vergingen noch Jahre, bis der Entscheid in Stevensons Wohnort Milton im Bundesstaat Delaware umgesetzt wurde.
Im ersten Schuljahr musste der 1959 geborene Bryan noch in eine Schule für schwarze Kinder. Ab dem zweiten Schuljahr wurde die Segregation im Bildungswesen dann zwar offiziell aufgehoben. Die Diskriminierungen und die Demütigungen waren damit aber nicht aus der Welt: Schwarze Kinder durften auf dem Spielplatz weiterhin nicht gleichzeitig mit weissen auf Klettergerüste steigen. Weisse Teenager fuhren nach wie vor pöbelnd durch schwarze Quartiere. Aus dem einen Autofenster flatterte die Flagge der Konföderation, Symbol für Rassismus und Sklaverei. Aus dem anderen ragte ein nackter Hintern, begleitet von den Rufen: «Nigger, leckt mich am Arsch!»
«Wenn dich jemand schlägt, dann schlägst du zurück»
Es ist dem Matriarchat im Hause Stevenson zu verdanken, dass Bryan und seine beiden Geschwister sich von rassistischen Ungerechtigkeiten nicht einschüchtern liessen. Gegenwehr galt als Pflicht: verbal – und notfalls auch handgreiflich: «Wenn dich jemand schlägt, dann schlägst du zurück», lautete etwa einer der Ratschläge von Mutter Alice. Stevenson hat diese «Aug um Aug»-Philosophie gemäss besagtem NYU-Porträt durchaus auf seine späteren juristischen Kämpfe übertragen – gewaltfrei, versteht sich.
Zunächst war jedoch keineswegs sicher, wohin Stevensons Reise führen sollte. Als vielseitig begabter Teenager liebäugelte er für eine Weile mit einer Karriere als Pianist oder Profisportler. Schliesslich entschied er sich, Anwalt zu werden – ohne jemals einen Anwalt gesehen oder getroffen zu haben.
Dank Bestnoten schaffte der junge Mann den Weg nach Cambridge spielend. Doch in Harvard fühlte er sich als Schwarzer aus armen Verhältnissen von Anfang an unwohl. Seine Mitstudierenden waren zwar freundlich. Aber die meisten stammten aus privilegierten Kreisen. Er versuchte nur ganz kurz, sich einzufügen. Danach zog er sich «in die Rolle eines kulturellen Anthropologen zurück, der die Bräuche eines Stammes studierte, in den er geraten war».
In seiner Autobiografie «Just Mercy», die in den USA zum Bestseller wurde und in der Verfilmung auch bei uns zum Kinoerfolg, erzählt Stevenson, wie er als 23-jähriger Jus-Student für ein vierwöchiges Praktikum nach Atlanta, Georgia, flog – unsicher, ob er überhaupt noch Anwalt werden wollte. Die Kurse in Harvard schienen abgekoppelt von den Themen, die ihn am Jura-Studium interessierten: «race and poverty».
Das Praktikum im Southern Prisoners Defense Committee in Atlanta änderte alles. Stevenson traf dort erstmals auf einen Anwalt, der genau das tat, wofür er selber brannte. Zwei Jahre später war er zurück in Atlanta, mit einem Abschluss in Public Policy der Kennedy School of Government und einem Abschluss der Harvard Law School. Fünf Jahre lang gehörte er beim Prisoners Defense Committee zum festen Team von Pflichtverteidigern, die Menschen in Todeszellen der Südstaaten vertraten.
Schluss mit lebenslanger Haft für unter 17-Jährige
1989 zog Stevenson nach Montgomery weiter. Die Hauptstadt von Alabama war zu Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs für ein paar Monate Hauptsitz der Konföderation. Ausgerechnet hier, in einer Metropole, die die Sklavenhalter und ihre Verteidiger noch heute mit zahlreichen Denkmälern, Gedenktafeln und Statuen ehrt, gründete der damals 30-Jährige die Equal Justice Initiative. Die private Stiftung kümmerte sich in den ersten Jahren vor allem um schwarze, mittellose Häftlinge im Todestrakt von bundesstaatlichen Gefängnissen.
«Montgomery war damals Brennpunkt zahlreicher Probleme im Bereich von Masseninhaftierung und unangemessen hoher Strafen», erzählt Stevenson bei unserer Begegnung in seinem Büro im Zentrum der Stadt: «Alabama hatte landesweit eine der höchsten Hinrichtungsraten. Ende der 1980er-Jahre gab es kein bundesstaatsweites System der Pflichtverteidiger. Die Menschen brauchten dringend rechtliche Hilfe.»
Viele warnten ihn: «Hier wirst du keinem Einzigen helfen können, nicht in einem Bundesstaat mit dieser Geschichte!» Doch Stevenson strafte sie Lügen: Seit Gründung der Stiftung vor 30 Jahren halfen er und sein Team 145 Menschen, die unschuldig zum Tod oder zu exzessiven Haftstrafen verurteilt worden waren. Dazu kommen viele Hundert weitere, die von Stevensons Erfolgen vor dem Obersten Gericht profitierten. Etwa dank eines Entscheids von 2012, der lebenslange Haftstrafen für Kinder unter 17 Jahren verbietet. Oder durch ein Urteil von 2019, das demente Häftlinge vor der Todesstrafe schützt.
Stiftung unterstützt auch Justizreform
Vor zehn Jahren erweiterte die Equal Justice Initiative ihren Tätigkeitsbereich: Die Hinrichtungszahlen schossen durch die Decke, und Stevenson erkannte, dass er seinen Kampf gegen den Rassismus über den Gerichtssaal hinaus tragen musste.
Die Stiftung begann, Montgomerys glorifizierenden Symbolen weisser Vorherrschaft Gedenktafeln entgegenzustellen, die an die zentrale Rolle der Stadt während des inländischen Sklavenhandels erinnern. Gleichzeitig dehnten Stevenson und sein kleines Team die Recherchen aus – nebst ihrem Vollzeitjob als Anwälte. 2017 veröffentlichte die Equal Justice Initiative einen Bericht, der ein bis dahin weitgehend verdrängtes Kapitel der US-Geschichte ans Licht brachte: Im Anschluss an den Wiederaufbau nach dem blutigen Bürgerkrieg und bis in die 1950er-Jahre wurden mindestens 4400 Schwarze von Weissen erschlagen, ertränkt, verbrannt, erschossen oder erhängt – vor allem im Süden des Landes.
Ein Jahr später eröffnete die Equal Justice Initiative in Montgomery das erste nationale Mahnmal, das an die schwarzen Lynchmordopfer erinnert – gekoppelt mit einem Museum, das die 400-jährige Leidensgeschichte der afroamerikanischen Gemeinschaft erzählt, von der Versklavung bis zur Masseninhaftierung der Gegenwart (siehe Kasten).
Die Dokumentation über die rassistischen Hassverbrechen und die Nachricht über die Eröffnung von Gedenkstätte und Museum wurden weit über die USA hinaus zum medialen Paukenschlag. Sie veränderten Montgomery, eine Stadt mit rund 200 000 Einwohnern, nachhaltig. In den letzten fünf Jahren sind weit über eine Million Menschen in die Metropole gekommen, um die beiden wegweisenden Einrichtungen zu besuchen.
Mahnmal und Museum tragen sowohl konzeptionell wie ästhetisch Stevensons Handschrift. Sie sind sein Herzensprojekt. Der inzwischen 63-Jährige hofft, damit jene Diskussion in Gang zu bringen, die er für den Fortschritt seines Landes für unabdingbar hält: die Auseinandersetzung mit den wahren Ursachen der noch heute grassierenden Ungleichheit und Ungerechtigkeit zwischen Schwarz und Weiss. «Die Sklaverei in den USA ging nie zu Ende», erklärt er in Interviews und Vorträgen immer und immer wieder, «sie hat sich nur entwickelt.» Von der Sklaverei über die rassistischen Hassverbrechen und die Rassentrennung bis hin zum aktuellen System des Strafrechts..
Es ist nicht nur die enorme Resonanz auf Gedenkstätte und Museum, die Stevenson darin bestärkt, trotz immensem Arbeitspensum und kaum Privatleben weiterzumachen. Es ist auch das hoch motivierte Team seiner Stiftung, zu dem im Laufe der Jahre nicht nur eine ganze Reihe seiner ehemaligen NYU-Studierenden gestossen ist, sondern auch nicht wenige seiner früheren Klienten. Darunter der zu Unrecht zum Tod verurteilte Anthony Ray Hinton, für dessen Freilassung Stevenson 16 Jahre lang gekämpft hatte.
Zudem baute der Prozessanwalt das Spektrum seiner Nichtregierungsorganisation im Lauf der Jahre immer weiter aus. Heute reicht das Tätigkeitsfeld von Bestrebungen zur Justizreform über öffentliche Aufklärungsarbeit bis hin zur Armutsbekämpfung.
All dies gibt dem Mann, den der verstorbene Bischof Tutu einst als «Amerikas Mandela» pries, Antrieb und Hoffnung: «Wenn ich daran denke, was diese Gesellschaft verändert hat, dann denke ich an Menschen, die voller Hoffnung waren», sagt Stevenson. «Rosa Parks, Martin Luther King, Jo Anne Robinson. Das waren Leute, die aufstanden, wenn andere sagten: ‹Setz dich hin.› Die das Wort ergriffen, wenn andere sagten: ‹Sei still.› Man tut das, weil man von Hoffnung getrieben ist.»
Lynchmorde: 125 Jahre bis zum Gesetz gegen Hassverbrechen
Lynchmorde an Schwarzen geschahen oftmals am helllichten Tag, im Beisein von weissen Schaulustigen und ohne dass die Täter je zur Rechenschaft gezogen wurden. Das erste nationale Memorial for Peace and Justice in Montgomery erinnert nicht nur an den weitgehend verdrängten weissen Terror gegen Schwarze. Es anerkennt auch erstmals öffentlich das Leid der Opfer und den Schmerz ihrer Angehörigen und Nachkommen.
800 Stahlstelen stehen im Zentrum der Gedenkstätte – stellvertretend für jeden Landkreis, in dem rassistische Hassverbrechen stattfanden. Auf jeder Stele sind Namen und Todestag der Ermordeten eingraviert. Manchmal sind es vier oder fünf, andere Male dreissig und mehr. Manchmal steht auch nur «unbekannt». Bis heute haben Bryan Stevenson und sein Stiftungsteam rund 6400 Fälle von Lynchmorden an Schwarzen zwischen 1865 und 1959 erfasst. Die Recherchen sind noch nicht abgeschlossen. Ziel ist, auch Lynchmorde vor dem amerikanischen Bürgerkrieg und bis in die jüngere Vergangenheit zu erfassen.
Im April 2022 unterzeichnete US-Präsident Joe Biden ein Gesetz, das Lynchen auf Bundesebene zum Hassverbrechen erklärt – 125 Jahre nachdem die schwarze Bürgerrechtlerin Ida B. Wells nach Washington gereist war, um den damals amtierenden US-Präsidenten zu einem solchen Dekret zu drängen. Seither gab es rund 200 erfolglose Versuche, ein solches Gesetz durch den Kongress zu bringen. Das neue Gesetz macht es möglich, eine Straftat als Lynchmord zu verfolgen, wenn eine Verschwörung zu einem Hassverbrechen mit Todesfolge oder zu schwerer Körperverletzung führte. Das Gesetz sieht eine Höchststrafe von 30 Jahren Gefängnis und Geldstrafen vor.