Unmittelbar neben dem Eingang zum Obergericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden in Trogen befindet sich im selben Haus der Coiffuresalon Monja, gemäss Eigenbeschrieb spezialisiert auf das Styling von Damen und Herren. Auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz begegnen die Mitarbeiter des Gerichts im Gebäude auch Schuhen und Pantoffeln, welche die Nachbarn vor ihrer Wohnungstür deponiert haben. Schliesslich werden an dieser Adresse nicht nur Gerichtsfälle bearbeitet und Haare geschnitten, hier wird auch gewohnt.
«Es liegt alles nahe beieinander und die Wege sind kurz», sagt Walter Kobler, der dem Obergericht Appenzell Ausserrhoden seit 2011 angehört. Seit rund einem Jahr präsidiert er die höchste Instanz des Kantons. Von seinem Büro aus blickt der 62-Jährige unter anderem auf einen Bio-Laden. Die Dorfgespräche kann der Gerichtspräsident manchmal auch bei geschlossenem Fenster gut hören. Lenken sie ihn allzu sehr von der Arbeit ab, behilft er sich mit einem Gehörschutz der Marke Pamir.
Kobler kennt im Kanton Appenzell Ausserrhoden mittlerweile «jedes Strässchen und jeden zweiten Menschen», wie er sagt. 1987 trat der gebürtige St. Galler seine Stelle als Gerichtsschreiber beim Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden an, der ersten Instanz. Er stieg zum Richter und 1994 zum Gerichtspräsidenten auf, seither wohnt er im Kanton. Später folgte der Wechsel ans Obergericht. Aktuell arbeitet Kobler im 36. Jahr in Appenzell Ausserrhoden.
Lange Zeit alle unter einem Dach
Trotz Nähe und unüberseh- und -hörbarer dörflicher Note: Professionell gehe es bei seiner Arbeit durchaus zu und her. «Obwohl wir ein Kleinkanton sind, herrscht hier kein Klüngel», versichert Kobler. Das habe einerseits damit zu tun, dass der Kanton Appenzell Ausserrhoden mit rund 55 000 Einwohnern so klein auch wieder nicht sei. Im Innerrhoder Nachbarkanton leben lediglich rund 16 000 Leute. Andererseits habe die Ausserrhoder Justiz im Laufe ihrer Geschichte eine stetige Professionalisierung erfahren.
Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts befanden sich sämtliche wichtigen kantonalen Institutionen im kleinräumigen Trogen: Das Rathaus, das Parlament und die Gerichte. 1870 zogen Parlament und Verwaltung nach Herisau, heute Hauptort des Kantons. Die Justizbehörden blieben in Trogen – für lange Zeit alle unter einem Dach. «Als ich ans Kantonsgericht kam, gab es in räumlicher Hinsicht keine Gewaltentrennung. Die Kantonspolizei, die Staatsanwaltschaft, die Gerichte – alle teilten sich ein Haus», erinnert sich Kobler. Im Laufe der Jahre wechselten die Gerichte den Standort. Kantonsgericht und Obergericht teilten sich anfänglich die Räumlichkeiten.
Mittlerweile ist das Obergericht die einzige Justizbehörde im sogenannten Fünfeckpalast am Landsgemeindeplatz, das Kantonsgericht zog 2013 ins Rathaus. Dieses befindet sich zwar nur rund 60 Meter entfernt. Die räumliche Trennung ist nun aber gewährleistet.
Mitarbeit an neuer Kantonsverfassung
Das Thema Gerichtsorganisation bezeichnet Kobler als sein «Steckenpferd». Aktuell arbeitet er in einer 30-köpfigen Kommission mit, die eine neue Kantonsverfassung entwirft. Der bereits vorliegende Entwurf enthält auch Änderungen, welche die Justiz betreffen. Zum Beispiel soll es neu eine Richterwahlkommission geben, die für die Vorauswahl der Richter verantwortlich ist. Und die Amtsdauer der Richter soll künftig auf acht Jahre verdoppelt werden.
Dass das Ausserrhoder Obergericht in einigen Bereichen jetzt schon als aufgeschlossen bezeichnet werden kann, ist ebenfalls Koblers Verdienst: Was zum Beispiel die Spruchkörperbildung betrifft, so ist man sich in Trogen – anders als andernorts – der Sensibilität des Themas bewusst. Abteilungsfälle und Einzelrichterfälle werden dem Präsidenten und dem Vize jeweils nach geraden oder ungeraden Fallnummern zugeteilt, die vier Abteilungen behandeln Fälle immer in Voll-, sprich Fünferbesetzung. Im Jahr 2021 wurden am Gericht total 410 Fälle erledigt.
Bei Justitia 4.0 schon früh angedockt
Und beim Projekt Justitia 4.0, das eine weitreichende Digitalisierung des ganzen Justizwesens vorsieht, ist das Obergericht Appenzell Ausserrhoden vorne mit dabei. Acht Kantone und das Bundesgericht forcieren das Projekt. «Von den anderen 18 Kantonen waren wir der erste, der die Anschlussvereinbarung unterzeichnete», sagt Kobler nicht ohne Stolz.
In anderen Bereichen wiederum ist man Landgericht geblieben: Von den total 16 nebenamtlichen Richtern – nur Präsident Kobler und sein Vize arbeiten mit einem Pensum von hundert Prozent – haben sieben keine juristische Ausbildung. Kritik am Laienrichtertum will Kobler nicht üben, im Gegenteil: «Dass bei uns ein Arzt, ein Bauer oder Versicherungsmitarbeiter mitwirken, ist in Fällen, in welchen es um die jeweiligen Fachgebiete geht, Gold wert», sagt er.
Im Kanton hat Kobler, Vater dreier erwachsener Kinder, auch abseits der Justiz seine Spuren hinterlassen: Er war für einige Jahre Mitglied der Planungs- und Baubewilligungskommission sowie der Geschäftsprüfungskommission seiner bisherigen Heimatgemeinde Heiden und lernte so die Mechanismen der Lokalpolitik kennen. In einer Partei war er nie – zumindest nicht in einer klassischen. Der Lesegesellschaft Bissau, der Kobler 20 Jahre lang angehörte, kommt in Appenzell jedoch die Stellung einer politischen Partei zu. Lesegesellschaften wurden im 19. Jahrhundert von Liberalisten gegründet. In ihnen diskutieren Leute mit unterschiedlichen politischen Ansichten über aktuelle Themen und Fragestellungen. Die Lesegesellschaft Bissau ist eine der letzten ihrer Art.
Der Heidner Gemeinderat Hans-Peter Häderli wirkte gemeinsam mit Kobler in der Lesegesellschaft, als Kobler noch Mitglied war. Er schildert seinen ehemaligen Kollegen als «witzig und belesen», ausgestattet mit einem tiefgründigen Humor. In Rechtsfragen sei Kobler innerhalb der Lesegesellschaft ein kompetenter Ansprechpartner gewesen. «Es war ihm aber immer sehr klar, wo die Grenzen sind und Äusserungen seine Rolle als Richter tangieren.» Die Grenzen – sie sind im Kanton der kurzen Wege schnell erreicht.