Die «Basel nazifrei»-Prozesse werfen seit mehreren Jahren ein schiefes Licht auf die Justiz im Kanton Basel-Stadt. Es geht um drakonische Strafen, Befangenheit der zuständigen Strafrichter und einen umstrittenen Gummischroteinsatz. Nun zeigt ein Fall eine weitere Problematik, die im Zusammenhang mit den Prozessen bislang nur am Rande ein Thema war: den Einfluss von Geheimdiensten auf das Strafverfahren – und die drohende Aushebelung der Mitwirkungsrechte der Beschuldigten.
Im Zentrum des Falles steht B. Er soll im November 2018 an der Anti-Nazi-Demonstration in Basel teilgenommen haben, bei welcher es nach besagtem Gummischroteinsatz der Polizei zu Tumulten kam. Die Hauptvorwürfe gegen B.: Landfriedensbruch sowie Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte. B. bestritt die Vorwürfe seit Beginn des Verfahrens. Und er bestritt, eine der Personen zu sein, die von der Polizei an der Demo gefilmt und anschliessend identifiziert worden waren.
Doch der Reihe nach: Nach den Vorfällen rund um die «Basel nazifrei»-Demo standen die Strafverfolgungsbehörden vor einem Problem: Sie hatten von der Eskalation zwar viel Video- und Bildmaterial gesammelt, konnten aber zahlreiche teils vermummte Leute nicht identifizieren. Die Ermittler schickten deshalb Aufnahmen der unbekannten Personen an alle Polizeikorps der Schweiz. Auch die «Fachgruppe 9» sollte helfen: Der kantonale Nachrichtendienst von Basel-Stadt.
Der Nachrichtendienst identifizierte eine gesuchte Person auf den Aufnahmen als B. Und damit kam die Maschinerie der Strafverfolgung ins Rollen: Es gab bei ihm eine Hausdurchsuchung. Bei dieser wurden mehrere Indizien gefunden, die angeblich auf dessen Teilnahme an der Demo hinwiesen: eine Mütze, wie sie eine Person auf den Videos getragen haben soll, ein Agendaeintrag mit dem Stichwort «Basel nazifrei» sowie ein Schlagring. Dazu die Verteidigerin von B., Elisabeth Vogel: «Dass mein Klient mit der linken, antifaschistischen Szene sympathisierte, war anhand der Erkenntnisse der Hausdurchsuchung nicht von der Hand zu weisen. Es gab aber keinerlei Hinweise darauf, dass er an der Demonstration teilnahm.»
Doch der Geheimdienst war anderer Meinung: «Gemäss Erkenntnissen unseres Dienstes handelt es sich bei Person 516 um B.», heisst es in den Strafakten.
Gericht liess die Verteidigerin auflaufen
Die Anwältin des Beschuldigten beantragte, Fragen an Belastungszeugen zu stellen. Sie wollte unter anderem wissen, wie der Geheimdienst zu seinen Erkenntnissen kam und wie sicher er sich hinsichtlich der Identifikation von B. war. Dieser war nicht vorbestraft und nur einmal anlässlich einer Personenkontrolle an einem 1. Mai mit der Polizei folgenlos in Kontakt gekommen.
Die Staatsanwaltschaft und das Strafgericht Basel lehnten sämtliche Anträge der Verteidigerin ab. Sie verwiesen auf den Quellenschutz für den Nachrichtendienst, der in Artikel 35 des Nachrichtendienstgesetzes festgehalten ist. Auch von einem von der Anwältin beantragten physiognomischen Gutachten, erstellt vom forensischen Institut Zürich, wollten weder die Staatsanwaltschaft noch das Strafgericht etwas wissen.
Vogel blieb nichts anderes als der Versuch übrig, auf eigene Faust den Nachweis zu erbringen, dass es sich bei der Person auf den Videos nicht um B. handelt: «Ich legte alte Fotos vor, verglich den Augenabstand und andere Gesichtszüge von B. mit jenem der Person auf den Fotos und Videos – es half alles nichts.»
Das Strafgericht als erste Instanz kam zum Schluss, dass es sich «bei der gefilmten Person 516 entgegen den Bestreitungen der Verteidigerin sehr wohl um B.» handle. Das Gericht verurteilte B. im Dezember 2020 unter anderem wegen Landfriedensbruchs und mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Beamte zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sieben Monaten.
Verteidigerin Vogel erhob Berufung. Das Appellationsgericht wies ihren Beweisantrag auf das physiognomische Gutachten erneut ab. Dann, im Frühling 2022, kam die Wende.
«Völlig überraschend kam plötzlich ein Antrag der Staatsanwaltschaft», erinnert sich Vogel. Inhalt: Die Staatsanwaltschaft, die im bisherigen Verfahren so sehr auf eine Verurteilung von B. gedrängt hatte, beantragte einen Freispruch. Ein Vergleich mit einem Foto von B. aus dem Internet habe ergeben, dass es sich bei der Person auf den Videos nicht um ihn handle.
Nach dem Sinneswandel der Staatsanwaltschaft sprach das Appellationsgericht B. im Frühsommer 2022 in den Hauptanklagepunkten frei. Von einem Happy End will Verteidigerin Vogel jedoch nicht sprechen: «Ich finde das ganze Verfahren aus diversen Gründen haarsträubend. Der Fall zeigt zudem sehr illustrativ die problematische Rolle auf, die Nachrichtendienste im Strafverfahren spielen können.»
Gesetzliche Hürden gelten für Geheimdienste nicht
Dass die Erkenntnisse von Geheimdiensten in ein Strafverfahren einfliessen können, wird in der Praxis mit Artikel 194 der Strafprozessordnung (StPO) begründet. Dieser regelt ganz allgemein den Beizug von Akten durch die Staatsanwaltschaft oder Gerichte. Weiter erlaubt das Nachrichtendienstgesetz dem Geheimdienst die Bekanntgabe der Identität von Personen, wenn diese Straftaten beschuldigt werden, die von Amtes wegen zu verfolgen sind.
Wolfgang Wohlers, Professor für Strafrecht an der Universität Ba-sel, erachtet die Nutzung geheimdienstlicher Erkenntnisse in Strafverfahren trotz dieser gesetzlichen Grundlagen als problematisch: «Wenn Strafverfolgungsbehörden Erkenntnisse gewinnen wollen, gibt es für sie verschiedene gesetzliche Hürden. Für Geheimdienste gelten diese Hürden nicht.» Die Folge: Strafverfolgungsbehörden könnten über Geheimdienste an Informationen gelangen, die sie selbst – aus Rücksichtnahme auf Beschuldigtenrechte – nicht ohne Weiteres hätten einholen können.
Hinzu kommt, dass Nachrichtendienste nur Erkenntnisse weitergeben dürfen, die sie «rechtmässig» gewonnen haben. «Wer aber soll das überprüfen?», fragt Wohlers. «Nachrichtendienste berufen sich in der Regel auf den Quellenschutz. Weder die Verteidigung noch die Staatsanwaltschaften oder die Gerichte können nachvollziehen, ob gewisse Erkenntnisse rechtmässig gewonnen wurden. Man muss den Geheimdiensten schlicht glauben, dass dies der Fall ist.»
Für die Beschuldigten und ihre Verteidiger ist die Kombination aus Intransparenz und Aushebelung der Mitwirkungsrechte ein grosses Problem. Wohlers: «Sie blicken in solchen Fällen in ein schwarzes Loch.»
«Kontaminierte Beweise» allein nicht ausreichend
Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) darf niemand verurteilt werden, wenn das einzige und ausschlaggebende Beweismittel eine Behauptung eines Geheimdienstes ist. Das Bundesgericht übernahm diese Praxis – und dem Wortlaut des Urteils nach auch das Strafgericht Basel-Stadt, das B. verurteilte. So führte es in der schriftlichen Urteilsbegründung aus, dass sich das Gericht bei der Beurteilung «nicht nur auf die rechtmässig erfolgte Identifikation durch Mitarbeiter des Nachrichtendiensts» stützte. Es habe sich einen eigenen Eindruck vom Beschuldigten verschafft. In der mündlichen Urteilsbegründung hatte Gerichtspräsident Lucius Hagemann (Mitte) aber vor allem betont, der Nachrichtendienst sei «nahe an den Gruppen und Leuten dran» (plädoyer 1/2021).
Wolfgang Wohlers glaubt, dass die Gerichte in solchen Verfahren häufig zu «Scheinbegründungen» greifen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass Geheimdiensterkenntnisse eben doch die ausschlaggebenden Beweismittel seien. Der Strafrechtsprofessor blickt nicht nur deshalb kritisch auf die Rechtsprechung aus Strassburg: «Etwas salopp formuliert stellt sich der Gerichtshof auf den Standpunkt, dass es nicht so schlimm sei, wenn in einem Strafverfahren von mehreren Beweismitteln eines kontaminiert sei – schliesslich gebe es ja noch andere», so der Strafrechtsprofessor. «Aber wenn doch die anderen Beweismittel für eine Verurteilung ausreichen – weshalb lässt man dann das eine, kontaminierte trotzdem zu?»
Das Bundesstrafgericht in Bellinzona hat die Problematik der «schwarzen Löcher» in Strafverfahren mit nachrichtendienstlicher Beteiligung in Einzelfällen erkannt: So liess es in einem Fall zum Beispiel Fragen der Verteidigung an Observierer der Bundeskriminalpolizei zu. Im Fall von B. wurden der Verteidigerin derartige Fragen an Belastungszeugen jedoch verwehrt.
Verteidigerin Elisabeth Vogel glaubt deshalb, dass sie spätestens vor Bundesgericht obsiegt hätte, wenn der Sinneswandel der Staatsanwaltschaft ausgeblieben wäre. «Wenn man über alle Instanzen nicht bereit ist, entlastende Beweismittel abzunehmen, bedeutet dies eine krasse Verletzung der Untersuchungsmaxime. Das hätte korrigiert werden müssen», ist sie überzeugt.
Fehler des Geheimdiensts führte zu einer Verurteilung
Der Gang vor Bundesgericht blieb Vogel und ihrem Klienten B. erspart – nicht aber eine Verurteilung B.s wegen Verstosses gegen das Waffengesetz. Denn der bei der Hausdurchsuchung zufällig gefundene Schlagring war vom Freispruch der zweiten Instanz nicht umfasst. Was ihn betrifft, bleibt das Urteil des Strafgerichts als erste Instanz bestehen. Dafür wurde B. mit einer bedingten Geldstrafe von 15 Tagessätzen à 30 Franken bestraft. Die offenbar falsche Identifikation durch den Geheimdienst hat sich letztlich doch im Strafregister niedergeschlagen.
Rund 40 Strafverfahren
Am 24. November 2018 hielt die rechtsextreme Partei national orientierter Schweizer (Pnos) in Basel eine bewilligte Kundgebung ab. Rund 2000 Personen versammelten sich zur unbewilligten Gegendemonstration. Im Zuge eines Gummischroteinsatzes durch die Polizei kam es zu Steinwürfen einiger Aktivisten, ein junger Mann wurde von einem Gummigeschoss im Gesicht getroffen und trug eine schwere Augenverletzung davon.
Die Staatsanwaltschaft betrieb die Strafverfolgung der Gegendemonstranten mit Nachdruck, das Strafgericht Basel-Stadt hatte sich schliesslich mit über 40 Verfahren zu befassen. Die Strafen waren teils sehr hart: Eine junge, nicht vorbestrafte Frau wurde wegen Landfriedensbruchs zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.