Urteile der Strafgerichte sind öffentlich. Das gilt nicht für die Entscheide der Zwangsmassnahmengerichte. Das Zürcher Obergericht lehnte im Oktober ein Gesuch des Vereins Digitale Gesellschaft ab, ihm Einsicht in Zwangsmassnahmenentscheide zu gewähren.
Die gemeinnützigige Organisation engagiert sich für den Schutz von Grund- und Menschenrechten im digitalen Raum. Sie verlangte gestützt auf das völkerrechtlich und gesetzlich verankerte Prinzip der Öffentlichkeit von Gerichtsurteilen Einsicht in Entscheide vergangener Jahre betreffend Antennensuchläufe, Serverüberwachungen sowie den Einsatz von Überwachungssoftware und sogenannten IMSI-Catchern. Letztere können Handys orten, Bewegungsprofile erstellen und sogar Gespräche mitschneiden.
«Von solchen Überwachungsmassnahmen kann jeder betroffen sein», sagt der Geschäftsleiter der Digitalen Gesellschaft Erik Schönenberger. Deshalb wollte sich der Verein ein Bild vom Ausmass der angeordneten Massnahmen machen.
Juristen kritisieren seit Jahren, dass die 2011 mit der Schweizerischen Strafprozessordnung landesweit eingeführten Zwangsmassnahmegerichte in der Dunkelkammer agieren (plädoyer 5/2016). Ihr Zweck laut der bundesrätlichen Botschaft zur Strafprozessordnung: «Das Zwangsmassnahmengericht bildet ein nötiges Gegengewicht zu Polizei und Staatsanwaltschaft.»
Eine Analyse des Schweizer Fernsehens ergab, dass die Zwangsmassnahmengerichte im Jahr 2017 nicht weniger als 97 Prozent der Anträge von Strafverfolgern durchwinkten. Die Beschuldigten drangen also mit ihren Anträgen nur zu 3 Prozent durch. Das Schweizer Fernsehen hatte hierfür bei den Zwangsmassnahmengerichten aller Kantone nach der Anzahl Entscheide im Jahr 2017 gefragt – aufgeschlüsselt nach Abweisungen und Gutheissungen sowie nach Bereich (Untersuchungshaft, Sicherheitshaft, Ersatzmassnahmen und geheime Überwachungsmassnahmen). Teilweise gutgeheissene Anträge wurden zu den Gutheissungen gezählt. Es lieferten allerdings nur 18 Kantone entsprechende Statistiken.
Prozessordnung verhindert Urteilsöffentlichkeit nicht
Aus rechtsstaatlicher Sicht ist die fehlende Transparenz problematisch: Sind die Entscheide nicht einsehbar, ist keine demokratische Kontrolle der Justiz möglich. Das Zürcher Obergericht verneinte das Einsichtsrecht gestützt auf Artikel 69 der Strafprozessordnung (StPO). Darin heisst es, dass Verhandlungen und Urteile der ersten und der zweiten Instanz öffentlich sind. Absatz 3 der Bestimmung enthält aber Ausnahmen. Er hält fest, dass «das Verfahren des Zwangsmassnahmengerichts» nicht öffentlich ist.
Es finden sich trotzdem Stimmen, die gestützt auf Artikel 69 StPO ein Einsichtsrecht in Entscheide der Zwangsmassnahmegerichte bejahen. Daniel Kettiger, Rechtsanwalt und Forschungsleiter am Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern, sagt: «Verfahrensöffentlichkeit und Urteilsöffentlichkeit sind zweierlei Dinge.» Seines Erachtens steht einer Veröffentlichung der Entscheide in anonymisierter Form nichts entgegen – jedenfalls nach Abschluss der Voruntersuchung.
Patrick Bischoff, Staatsanwalt im Kanton Schwyz, plädierte denn auch 2021 in der «Richterzeitung» für eine analoge Anwendung von Artikel 69 Absatz 2 Strafprozessordnung bei Haftentscheiden. Danach ist Einsicht in die Entscheide der nicht-öffentlich durchgeführten Verhandlungen zu gewähren. So liesse sich «das Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der Sicherung des Ermittlungs- und Untersuchungszwecks einerseits und dem Bedürfnis nach Transparenz und demokratischer Kontrolle auch im Haftverfahren anderseits einfach auflösen».
Mit Blick auf den Öffentlichkeitsgrundsatz sei es nicht gerechtfertigt, dass Interessierte bei nicht-öffentlicher Urteilsverkündigung Einsicht in Sachurteile erhalten, in die ebenso gewichtigen Haftenscheide hingegen nicht: «Ausgerechnet dort, wo die beschuldigte Person einen objektiv massiven Grundrechtseingriff und eine subjektiv drastische Bestrafung erfährt, sie als Rechtsunterworfene mithin die volle Härte und Macht der Staatsgewalt zu spüren bekommt, soll der Öffentlichkeitsgrundsatz nicht zum Tragen kommen?» Dies sei umso fataler, wenn die Gerichte die Haftanträge unkritisch durchwinkten, statt sie kritisch zu hinterfragen, schrieb Bischoff, heute auch nebenamtlicher Oberrichter im Kanton Zürich.
Christof Riedo, Professor für Strafprozessrecht und Strafrecht an der Universität Freiburg, ist anderer Meinung. Dass Entscheide von Zwangsmassnahmengerichten nicht eingesehen werden können, ergebe sich aus der Formulierung und Systematik der Bestimmung und entspreche dem Sinn und Zweck des geheimen Massnahmeverfahrens.
Das Zürcher Obergericht prüfte auch, ob der Verein Digitale Gesellschaft gestützt auf Artikel 101 Absatz 3 Strafprozessordnung ein Einsichtsrecht hat. Dritte können danach die Akten einsehen, «wenn sie ein wissenschaftliches oder ein anderes schützenswertes Interesse geltend machen und der Einsichtnahme keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen». Die Bestimmung für hängige Verfahren gilt laut Obergericht analog auch bei abgeschlossenen Verfahren.
Obergericht Zürich: «Unzumutbarer Aufwand»
Das Obergericht Zürich kam zum Schluss, der Verein habe kein schützenswertes Interesse dargetan, welches ihn zur Einsicht berechtigen würde. Es sei unklar, wie der Verein die Bürger und Konsumenten und deren Bedürfnisse erreiche. Zudem stünden der Herausgabe «wohl überwiegende öffentliche wie auch private Interessen» entgegen und die Einsicht würde «für das Gericht einen unzumutbaren Aufwand bedeuten».
Riedo und seine Assistentin Jasmin Meile kritisieren diese Begründung des Obergerichts: Faktische Interessen müssten genügen. Alles andere widerspreche der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (etwa 1B_55/2019 vom 14. Juni 2019). Die Digitale Gesellschaft habe aber versäumt vorzubringen, dass das jeweilige Verfahren von allgemeinem Interesse sei. Der Verein hat entschieden, das Urteil nicht weiterzuziehen. Er beurteilt die Rechtslage und die Begründung als «zu diffus». Das Obergericht habe mit dem Urteil jedenfalls deutlich gemacht, dass es keine Transparenz zur Praxis des Zwangsmassnahmengerichts herstellen wolle.
plädoyer befragte in den Deutschschweizer Kantonen Zwangsmassnahmengerichte zu ihrer Haltung. Von 20 antworteten 12, alle lehnen eine generelle Einsicht in ihre Entscheide gestützt auf Artikel 69 Absatz 3 ab. Hingegen bejahen sie grundsätzlich einen Anspruch gestützt auf Artikel 101 Absatz 3 StPO, sofern ein ausreichendes Interesse vorliegt und keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen dagegensprechen. Die Gerichte sagen, sie nähmen im Einzelfall eine Interessenabwägung vor.
Gemäss dem Sprecher des Zwangsmassnahmengerichts Luzern Christian Renggli sind die Anforderungen an Dritte hoch. Das Zwangsmassnahmengericht des Bezirksgerichts Zürich erhielt laut dem Sprecher Patrick Strub in den letzten fünf Jahren acht Einsichtsgesuche von Medienschaffenden, die es allesamt abwies. Hinzu kamen fünf weitere Gesuche von Dritten, von denen es zweien wegen beruflichem Interesse von Rechtsanwälten Einsicht gewährt habe und einem wegen wissenschaftlichem Interesse (diverse anonymisierte Entscheide betreffend Hooligankonkordat).
Einige Gerichte verweisen darauf, Artikel 101 Absatz 3 StPO sei nur auf hängige Verfahren anwendbar. Bei abgeschlossenem Strafverfahren sei der Anspruch nach kantonalem Recht zu prüfen. Im Kanton Thurgau ist beispielsweise laut dem Präsidenten des Zwangsmassnahmengerichts Federico Pedrazzini die kantonale Informationsverordnung massgebend, im Kanton Schwyz gemäss Präsident Ruedi Beeler das kantonale Justizgesetz. Diese setzten auch ein schützenswertes und kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse voraus.
Baselland geht mit gutem Beispiel voran
Mehrere Kantone publizieren zumindest Entscheide ihrer oberen Instanzen über Haftbeschwerde von sich aus. Das ist etwa in den Kantonen Aargau, Basel-Stadt, Bern, Freiburg, Schwyz, St. Gallen, Wallis, Zug und Zürich der Fall.
Dass es auch anders geht, zeigte der Kanton Basel-Landschaft von 2011 bis Ende 2017. Er publizierte im Internet 83 erstinstanzliche Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts in anonymisierter Form. Sie betreffen zum Beispiel den Einsatz eines IMSI-Catchers zur Ruf- und Gerätenummeridentifikation, Echtzeitüberwachung eines Mobiltelefons zur Feststellung der Schuldfähigkeit oder die Verlängerung von Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr. 2018 erhielt das Gericht mit Robert Karrer einen neuen Präsidenten. Seither publiziert es keine Entscheide mehr. Gemäss dem leitenden Gerichtsschreiber Daniel Maritz liegt das daran, dass seither keine Entscheide mit einer gewissen Tragweite mehr ergangen seien.