1. Arbeitsrecht
1.1 Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses
Die arbeitsrechtliche Schlinge um den Fahrdienst Uber zieht sich weiter zu:2 Bezüglich der AHV-rechtlichen Behandlung hat das Bundesgericht die Arbeitgeberstellung genauso bejaht3 wie bei der Anwendung des Genfer Gesetzes über Taxis und Transportfahrzeuge.4 Und auch in Bezug auf die Fahrer von Uber Eats kam das Bundesgericht unter personalverleihrechtlicher Optik zum gleichen Schluss.5 Noch ausstehend ist dagegen eine höchstrichterliche Klärung der Frage, ob Uber-Fahrer auch unter dem Blickwinkel des Obligationenrechts als Arbeitnehmer zu betrachten sind.
1.2 Arbeitszeit
Die umstrittene Frage, ob Umziehzeiten in einem Spital zu bezahlende Arbeitszeit darstellen, ist um eine Episode reicher: Nachdem das Bundesgericht für das Spital Limmattal die Frage verneint hat,6 während sie das Bezirksgericht Bülach für das Spital Bülach (teilweise) bejaht hat,7 war die Reihe nun am Universitätsspital Zürich. Das Bundesgericht schützte die Auffassung des Zürcher Verwaltungsgerichts, wonach die Umziehzeiten keine bezahlte Arbeitszeit darstellen und neben dem Lohn keinen zusätzlichen Entschädigungsanspruch auslösen.8 Für dieses Verdikt massgeblich war eine Klausel im Arbeitszeitreglement, wonach die Zeit des An- und Ausziehens von Berufskleidern zu Beginn und Ende einer Schicht nicht als Arbeitszeit gelte. Die gegenläufigen Entscheide zeigen, dass die Frage einer Vergütungspflicht nicht generell in die eine oder andere Richtung beantwortet werden kann, sondern massgeblich von der im konkreten Fall anwendbaren Arbeitszeitregelung beispielsweise im Arbeitsvertrag oder Personalreglement oder der Branchenüblichkeit beeinflusst wird.9 Letztere hat sich in den letzten Jahren dahingehend weiterentwickelt, dass manche Spitäler als Folge der kontroversen Diskussion dazu übergegangen sind, pauschale Zeitgutschriften zu gewähren.
1.3 Lohnfortzahlung, Taggeldleistungen
In einem amtlich publizierten Urteil des Bundesgerichts ging es um die Frage einer betrügerischen Begründung des Versicherungsanspruchs im Sinne von Artikel 40 VVG.10 Streitgegenstand waren Leistungen einer kollektiven Krankentaggeldversicherung, die ein Einzelunternehmen für einen Mitarbeiter abgeschlossen hatte. Eine betrügerische Begründung liegt in objektiver Hinsicht vor, wenn der Versicherte Tatsachen verschweigt oder zum Zwecke der Täuschung unrichtig mitteilt, welche die Leistungspflicht des Versicherers ausschliessen oder mindern können. Dabei ist nicht jede Verfälschung oder Verheimlichung von Tatsachen von Bedeutung, sondern nur jene, die objektiv geeignet ist, Bestand oder Umfang der Leistungspflicht des Versicherers zu beeinflussen.11 In subjektiver Hinsicht muss eine Täuschungsabsicht hinzutreten, indem der Anspruchsteller dem Versicherer mit Wissen und Willen unwahre Angaben macht, um einen Vermögensvorteil zu erlangen.12 Dies war vorliegend der Fall, als ein Taxifahrer während seiner ärztlich attestierten Arbeitsunfähigkeit und entsprechendem Taggeldbezug angeblich als Arbeitsversuch eine Taxifahrt (mit Unfallfolge) ausführte, diese Arbeitstätigkeit jedoch zehn Tage später gegenüber dem Schadenexperten verschwieg.13 In beweisrechtlicher Hinsicht, die allein Gegenstand der amtlichen Regeste ist, erwog das Bundesgericht, dass für den der Versicherung obliegenden Beweis der Täuschungsabsicht das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit gelte. Für den ebenfalls ihr obliegenden Nachweis der wahrheitswidrigen Darstellung von Fakten durch den Versicherten bestehe hingegen keine generelle Beweisnot, sodass grundsätzlich das reguläre Beweismass des strikten Beweises zur Anwendung komme.14
1.4 Covid-19
Mit zeitlicher Verzögerung hatten die Gerichte erste Streitigkeiten rund um die Covid-19-Pandemie zu entscheiden, wobei unterschiedliche Fragestellungen zu beurteilen waren.
Das Regionalgericht Bern-Mittelland hatte den Fall zu entscheiden, in dem ein ferienhalber ins Ausland gereister Arbeitnehmer wegen Covid-19-Massnahmen (ohne selbst an Covid erkrankt zu sein) erst Wochen verspätet in die Schweiz zur Arbeit zurückreisen konnte.15 Das Regionalgericht ging von einer objektiven und überpersönlichen Arbeitsverhinderung aus. Infolgedessen bestand keine Pflicht der Arbeitgeberin, diese Ausfalltage zu vergüten.
Demgegenüber entschied das Obergericht des Kantons Zürich auf das Vorliegen von Arbeitgeberverzug, als ein Restaurant aufgrund einer Covid-19-bedingten Betriebsschliessung eine Mitarbeiterin nicht mehr beschäftigen konnte.16 Das Obergericht bejahte das Vorliegen eines von der Arbeitgeberin zu tragenden Betriebsrisikos und damit Arbeitgeberverzug, sodass der Angestellten der Lohnanspruch erhalten blieb. Vor einer Verallgemeinerung des Urteils ist allerdings zu warnen, zumal das Arbeitsgericht des Kantons Luzern gerade umgekehrt entschieden hat17 und das Zürcher Obergericht selbst betonte, dass kein allgemeingültiger Grundsatzentscheid zur Frage der Risikoverteilung zu fällen sei. Das Obergericht stellte in casu darauf ab, dass nach einem ersten Lockdown im Frühling 2020 bei der Einstellung der Mitarbeiterin Anfang August 2020 vorhersehbar gewesen sei und deshalb im Risikobereich der Arbeitgeberin gelegen habe, dass es zu einer erneuten Betriebsschliessung kommen könnte.
Das Arbeitsgericht Zürich hat unter Hinweis auf die abschliessende Aufzählung in Artikel 336c OR und die Lehre entschieden, dass eine besondere Gefährdung nach der Covid-19-Verordnung 2 keinen zeitlichen Kündigungsschutz auszulösen vermag.18
Das Bundesgericht kam in einem arbeitslosenversicherungsrechtlichen Fall zum Schluss, dass ein Servicemitarbeiter, der das Tragen einer Gesichtsmaske ablehnt, seine Arbeitsmöglichkeiten im Gastgewerbe selbstverschuldet einschränkt und folglich mangels Vermittlungsfähigkeit keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hat.19
In einem anderen Fall wies das Bundesgericht eine Beschwerde gegen die Testpflicht für ungeimpftes Gesundheitspersonal im Kanton Tessin ab.20 Der Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen sei aufgrund der seinerzeitigen Situation als verhältnismässig zu beurteilen.
Das Bundesverwaltungsgericht taxierte die Entlassung von Angehörigen des Kommandos Spezialkräfte (Teil der Militärpolizei) nach verweigerter Covid-19-Impfung als rechtmässig.21 Es erwog, dass mit Artikel 35 Absatz 2 des Militärgesetzes in Verbindung mit dem einschlägigen Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung PVSPA22 eine ausreichende gesetzliche Grundlage bestehe, um die Covid-19-Impfung für die betroffenen Personen gemäss dem Impfkonzept des Oberfeldarztes der Armee als verpflichtend zu erklären. Die Massnahme liege im öffentlichen Interesse und erweise sich als verhältnismässig. Die Voraussetzungen für die Einschränkung von Grundrechten gemäss Artikel 36 BV seien damit erfüllt. Das Bundesgericht hat diese Sicht bestätigt.23
Zwar nicht Covid-19 betreffend, aber in diesem Zusammenhang dennoch erwähnenswert, ist ein Entscheid des Kreisgerichts St. Gallen von Anfang 2022.24 Es bejahte das Vorliegen einer missbräuchlichen Entlassung, nachdem von einer Mitarbeiterin in einem Privatspital die Vornahme der Basisimpfungen verlangt worden war. Im Prozess konnte das Spital keinen Konsens darüber nachweisen, dass sich die angehende Pflegefachfrau in der Bewerbung nicht nur zur Vornahme der Hepatitis-B-Impfung, sondern auch der Grundimpfungen verpflichtet hatte. Die Frage, ob sie dazu aufgrund des Weisungsrechts hätte verpflichtet werden können, liess das Kreisgericht offen, da das Spital die Vornahme der Basisimpfungen nur von Neueintretenden25 abverlangt hatte, nicht aber vom übrigen Personal. Darin sah das Gericht eine diskriminierende Ausübung des Weisungsrechts.
1.5 Ferien
In einem zur amtlichen Publikation bestimmten Entscheid hat das Bundesgericht an seine restriktive Rechtsprechung zur nur ausnahmsweise zulässigen Ferienlohnabgeltung erinnert.26 Es hat weiter klargestellt, dass bei 100-Prozent-Beschäftigung bei derselben Arbeitgeberin die Voraussetzung einer unregelmässigen Tätigkeit nicht vorliegen könne: «Somit ist für 100-Prozent-Beschäftigungen bei derselben Arbeitgeberin festzuhalten: Die in der Rechtsprechung angeführten praktischen Schwierigkeiten infolge unregelmässiger Arbeitszeiten entfallen als Rechtfertigung. Eine Ausnahme vom Grundsatz nach Artikel 329d Absatz 1 OR aufgrund monatlicher Schwankungen des geschuldeten Lohns selbst bei Vollzeitbeschäftigungen zuzulassen, würde den Schutzzweck dieser zwingenden Bestimmung aushöhlen. In solchen Fällen ist eine Ausnahme vom klaren Gesetzestext daher unzulässig.» Dieses Verdikt ist durchaus vertretbar. Etwas ratlos lässt einen aber zurück, dass das Bundesgericht noch vor kurzem genau gegenteilig entschieden hat, dass also eine laufende Ferienlohnabgeltung auch bei Vollzeitanstellung in Frage komme, sofern das Erfordernis der unregelmässigen Beschäftigung erfüllt sei.27
1.6 Beendigung des Arbeitsverhältnisses
Obwohl die vertraglich vorbehaltene Schriftform nicht eingehalten war, erklärte das Bundesgericht eine Arbeitgeberkündigung für wirksam. Es ging von einer konkludenten Aufhebung der vertraglichen Formvorschrift aus, nachdem sich der Arbeitnehmer erst einen Monat später nach einem Anwaltswechsel auf den Formmangel berufen hatte.28
In einem amtlich publizierten Urteil des Bundesgerichts ging es um einen Arbeitnehmer der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), der am 16. März 2020 einen befristeten Arbeitsvertrag abgeschlossen und gleichentags die Stelle angetreten hatte.29 Dabei galt während der dreimonatigen Probezeit eine siebentägige Kündigungsfrist. Die Probezeit hätte somit regulär am 16. Juni 2020 geendet. Doch der Angestellte war vom 15. bis 19. Juni 2020 krank. Mangels Regelung im anwendbaren Bundespersonalgesetz (BPG) und im Gesamtarbeitsvertrag SBB kam subsidiär die Verlängerungsregelung der Probezeit nach Artikel 335b Absatz 3 OR zur Anwendung. Die Probezeit verlängerte sich demnach um die beiden aufgrund der Krankheit versäumten Arbeitstage vom 15. und 16. Juni 2020. Für die Verlängerung kamen frühestens der Samstag und Sonntag, 20. und 21. Juni 2020, in Betracht.
Nun war umstritten, ob die Verlängerung an jenem Wochenende oder ob sie erst am folgenden Montag und Dienstag, 22. und 23. Juni 2020, stattfand. Das Bundesgericht stellte sich mit Hinweis auf die ratio legis, wonach die Probezeit ein gegenseitiges Kennenlernen und das Aufbauen eines Vertrauensverhältnisses ermöglichen solle, auf den Standpunkt, dass es näherliege, wenn die Verlängerung auf tatsächliche Arbeitstage umgelegt, mithin real «abgearbeitet» werde. Im Resultat wurde somit das Wochenende vom 20. und 21. Juni 2020 bei der Verlängerung der Probezeit nicht berücksichtigt, womit die Probezeit noch bis und mit 23. Juni 2020 andauerte. Folglich galt die am 22. Juni 2020 dem Arbeitnehmer ausgehändigte Kündigung noch als während der Probezeit zugestellt.30
Das Bundesgericht hat die kürzliche Relativierung seiner eigenen Rechtsprechung zur Alterskündigung31 bestätigt.32 Es erwog, dass nicht allein auf das Alter und die Dienstjahre eines Arbeitnehmers abgestellt werden könne, um eine missbräuchliche Kündigung anzunehmen. In casu war die zum Zeitpunkt der Kündigung 63-jährige Angestellte, die nach umstrittenem Befund 14 oder mehr als 20 Jahre für die Arbeitgeberin tätig war, auf Dauer (über sechs Monate) krank und arbeitsunfähig.
Das Bundesgericht hielt fest, dass eine Arbeitgeberin nach Ablauf der Sperrfrist eine Kündigung aufgrund einer Krankheit aussprechen dürfe, wenn diese die Arbeitsfähigkeit beeinträchtige. Zudem bestehe im Privatrecht keine generelle Pflicht, eine Verhältnismässigkeitsprüfung vorzunehmen. Vorliegend musste die Arbeitgeberin eine Reorganisation aufgrund der Abwesenheit vornehmen, und die Arbeitnehmerin hatte während ihrer gesamten Abwesenheit keine Angabe gemacht, wann sie voraussichtlich wieder arbeitsfähig sein würde. Obschon die Arbeitnehmerin lediglich zehn Monate vor ihrer Pension stand, betrachtete das Bundesgericht – im Gegensatz zur Waadtländer Vorinstanz33 – die Kündigung nicht als missbräuchlich.
Eine Kündigung per E-Mail während der Flitterwochen vermochte keinen Zugang zu bewirken (sondern erst nach Rückkehr).34 Von der Arbeitnehmerin, die keine Kaderstellung bekleidete, könne nicht erwartet werden, dass sie während ihrer Flitterwochen regelmässig das Postfach ihres privaten E-Mail-Kontos überprüfe, befand das Arbeitsgericht Zürich.
Das Bundesgericht hat sich zum Betriebsbegriff und damit zur Berechnung der Schwellenwerte bei einer Massenentlassung geäussert.35 Streitgegenstand war ein Stellenabbau bei der Schweizerischen Post. Das Bundesgericht erwog, dass jede einzelne Postfiliale im Sinne von Artikel 335d OR einen Betrieb darstelle und nicht etwa das Postnetz als Ganzes. Infolgedessen müssen die Schwellenwerte in Bezug auf die einzelne Postfiliale erfüllt sein, sodass sie in der Regel nicht erreicht werden dürften. Der Entscheid ist zur amtlichen Publikation bestimmt.
In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass Angestellte, die eine missbräuchliche Kündigung geltend machen wollen, am schriftlichen Einspracheerfordernis von Artikel 336b Absatz 1 OR scheitern. So hat das Arbeitsgericht Zürich seine Rechtsprechung bestätigt, wonach eine Einsprache mittels E-Mail, die keine elektronische Signatur trägt, das Schriftformerfordernis nicht erfülle. Ebenso nicht ausreichend war ein Anwaltsschreiben, das zwar unterzeichnet war, aber an eine andere Konzerngesellschaft ausserhalb der Schweiz geschickt worden war.36
Ebenfalls nicht genügend war für das Obergericht des Kantons Zürich die Verweigerung einer Unterschrift des Arbeitnehmers auf dem Kündigungsschreiben.37 Auch die mündliche Erklärung des Arbeitnehmers beim Kündigungsgespräch, dass er mit der Kündigung nicht einverstanden sei, vermochte die schriftliche Einsprache nicht zu ersetzen.
In einem amtlich publizierten Entscheid hat das Bundesgericht erwogen, dass Pönalen nach Artikel 336a OR überwiegend Genugtuungscharakter zukomme und sie deshalb steuerbefreit seien.38 Daran änderte im zu entscheidenden Fall auch nichts, dass die Entschädigung auf einem gerichtlichen Vergleich der Parteien beruhte und nicht explizit als Pönale bezeichnet war.
In einem öffentlich-rechtlichen Fall focht ein Mitarbeiter der Zentralen Ausgleichsstelle in Genf erfolglos einen abgeschlossenen Aufhebungsvertrag an.39 Der Arbeitnehmer machte unter anderem geltend, ihm sei keine genügende Überlegungsfrist für die Annahme der Vertragsofferte zugestanden worden. Dies sahen das Bundesverwaltungsgericht und anschliessend das Bundesgericht anders. Eine Bedenkzeit von zwei Arbeitstagen bei einer Aufhebungsvereinbarung sei aufgrund der konkreten Umstände ausreichend gewesen. Ausserdem sei auch das Erfordernis ausreichender Konzessionen erfüllt.
Dass Arbeitsverhältnisse nicht nur durch Kündigung, sondern auch durch Willensmängel beendet werden können, zeigt ein Urteil des Kantonsgerichts Graubünden. Es hat die Täuschungsanfechtung (Artikel 28 OR) einer Skischule gutgeheissen, nachdem sich herausstellte, dass eine Kinderskilehrerin in der Bewerbung ihren IV-Bezug und ihre Arbeitsunfähigkeit zu 100 Prozent verschwiegen und ein Gesundheitsattest unzutreffend ausgefüllt hatte.40
1.7 Verschiedenes
Gratifikationen, auch wenn sie vertraglich ausdrücklich als freiwillig bezeichnet werden, können unter Umständen gestützt auf den aus Artikel 328 OR abgeleiteten Gleichbehandlungsgrundsatz erfolgreich eingeklagt werden. So war es im Fall eines Managers, nachdem vier Arbeitskollegen mit vergleichbarem Tätigkeitsprofil je einen Bonus von 20'000 Franken ausbezahlt erhielten.41
Ein Managing Director aus dem Finanzbereich kündigte gleichzeitig mit einem wesentlichen Teil seines Teams.42 Alle wechselten zum selben Konkurrenten. Während der Freistellung des Managing Directors liess die Arbeitgeberin den Aussenbereich der neuen Arbeitgeberin durch eine Detektei überwachen, um so mögliche (und tatsächliche) Betriebsbesuche durch den Kadermann nachzuweisen. Das Arbeitsgericht Zürich sah darin keine unzulässige Datenerhebung. Es hätte die Verwendung der Observationsberichte aber selbst dann gestützt auf Artikel 152 Absatz 2 ZPO gestattet.
Das Bundesgericht hatte den Fall eines gestützt auf Artikel 895 ZGB retinierten Geschäftsfahrzeugs zu beurteilen.43 Die Arbeitgeberin hat sich erfolglos dagegen gewehrt, dass der Arbeitnehmer das Dienstfahrzeug zurückbehalten kann, bis seine Forderungen erfüllt sind. Unter Umständen kommt nach einem Entscheid des Zürcher Obergerichts sogar der vorsorgliche Rechtsschutz infrage, wenn der Arbeitnehmer befürchtet, dass die Arbeitgeberin das Fahrzeug behändigen wird.44
Das Universitätsspital Genf hat zu Recht die Anerkennung einer Gewerkschaft mangels Gewährleistung der geforderten Loyalität verneint.45 Dies unter anderem deswegen, weil zwei Repräsentanten der Gewerkschaft strafrechtlich belangt worden waren.
2. Mietrecht
2.1 Anfangsmietzins
2.1.1 Beweis der Ortsüblichkeit
Im Dezember 2017 bezogen zwei neue Mieter eine Vierzimmerwohnung im fünften Stock eines Mehrfamilienhauses in Montreux mit Baujahr 1965. Vereinbart wurde ein monatlicher Mietzins von netto 2280 Franken. Aus dem Formular zur Anzeige des Anfangsmietzinses ergab sich, dass der Vormieter ab 2014 einen Nettomietzins von 1560 Franken bezahlt hatte. Die Nettomiete wurde damit um etwas über 46 Prozent erhöht. Begründet wurde dies mit der Anpassung an die Ortsüblichkeit. Die Mieter fochten den Anfangsmietzins an.
In einem ersten Entscheid senkte das Mietgericht den Mietzins auf das Niveau der Vormiete. Es stellte fest, dass die konjunkturelle Entwicklung seit 2014 eine derartige Erhöhung nicht erklären könne und daher die Vermutung bestehe, dass der Mietzins missbräuchlich sei. Da keine Angaben zur Festsetzung des ortsüblichen Mietzinses beigebracht wurden und auch keine Renditeberechnung vorliege, erweise sich die Erhöhung als unbegründet.
Das Kantonsgericht hob diesen Entscheid auf und wies das Mietgericht an, bei der Festsetzung des Anfangsmietzinses das vorhandene statistische Material zu berücksichtigen. Aus der Sachverhaltsfeststellung des Mietgerichts ergibt sich, dass die Liegenschaft in einer ruhigen, begrünten Umgebung liegt und nur durch eine Sackgasse vom See getrennt wird. Der verglaste Balkon von 16 Quadratmetern bietet einen Panoramablick auf See und Berge. Zudem ist die Wohnung in einem guten Zustand. Der Allgemeinbereich zeigt aber deutliche Abnutzungsspuren. Nach Erhebung des Bundesamts für Statistik im Jahr 2017 über die durchschnittlichen Mietpreise pro Quadratmeter lag der Mietzins in der Genferseeregion für eine Vierzimmerwohnung mit 103 Quadratmetern bei netto 1637 Franken. Angesichts der Vorzüge der Wohnung rundete das Mietgericht diesen statistischen Wert in seinem Zweitentscheid auf einen monatlichen Nettomietzins von 1800 Franken auf. Dieser Entscheid wurde vom Kantonsgericht geschützt. Die Mieter gelangten ans Bundesgericht. Unbestritten blieb, dass sich das Mietobjekt in einer Altliegenschaft befindet und die Ortsüblichkeit hier Vorrang hat vor der Renditeberechnung.
Auch aufgrund der neueren Rechtsprechung zur Beweislast bei der Anfechtung des Anfangsmietzinses46 gilt vorliegend die Vermutung, dass der Anfangsmietzins missbräuchlich ist. Er wurde beim Mieterwechsel um rund 46 Prozent und damit massiv angehoben, ohne dass dies durch die konjunkturelle Entwicklung gerechtfertigt werden konnte. Unter diesen Umständen muss der Vermieter die Vermutung mit einem Gegenbeweis entkräften. Der Vermieter legte allerdings weder eine Renditeberechnung noch die erforderlichen Vergleichsmietzinse vor.
In Abweichung zum Erstentscheid des Mietgerichts fand das Bundesgericht nun neu, dass sich der Richter in diesem Fall nicht mehr ohne weiteres damit begnügen könne, auf den bisherigen Mietzins zurückzugreifen. Stehe fest, dass der Anfangsmietzins missbräuchlich ist, müsse der Richter den zulässigen Mietzins anhand der ihm zur Verfügung stehenden Informationen festsetzen. Die bisherige Praxis könne einer Rechtsverweigerung gleichkommen.47 Dafür müsse der Richter das vorhandene statistische Material berücksichtigen, auch wenn dies nicht genügend detailliert sei, um daraus den ortsüblichen Mietzins abzuleiten.48
2.1.2 Formular hat Urkundencharakter
A. war Partner einer Genfer Anwaltsgemeinschaft. Zwischen 2009 und 2017 verwaltete und vermietete er zusammen mit einer Liegenschaftsverwaltung je ein Mehrfamilienhaus in Lausanne und Morges. Am 20. Mai 2020 wurde er in erster Instanz wegen Urkundenfälschung im Sinn von Artikel 251 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit drei Jahren Probezeit verurteilt. Verurteilt wurde auch der Chef der involvierten Liegenschaftsverwaltung. Das Genfer Strafgericht bestätigte dieses Urteil. Es stellte fest, dass A. zwischen 2009 und 2017 der Hausverwaltung bei Mieterwechsel in insgesamt zehn Fällen einen zu hohen bisherigen Mietzins angegeben hat. Diese Informationen wurden von einem Angestellten der Liegenschaftsverwaltung in das obligatorische Formular zur Anzeige des Anfangsmietzinses eingetragen und vom Chef der Verwaltung im Wissen um die falsche Angabe unterzeichnet. Damit sollte die Anfechtung des Anfangsmietzinses vereitelt werden. A. musste nach Aufdeckung dieser falschen Angaben die getäuschten Mieter mit einer Rückzahlung von insgesamt 218 118 Franken entschädigen.
A. zog das Strafurteil ans Bundesgericht weiter. Er machte unter anderem geltend, dass es sich bei der im Kanton Waadt obligatorischen Formularanzeige zur Mitteilung des Anfangsmietzinses nicht um eine Urkunde handle und ihm daher höchstens eine schriftliche Lüge angelastet werden könne, die allerdings keine strafrechtlichen Folgen habe. Dem widersprach das Bundesgericht in einem neuen Leitentscheid. Urkundencharakter hat nur ein Dokument, dem eine erhöhte Glaubwürdigkeit zukommt und dem der Adressat daher ein besonderes Vertrauen entgegenbringt. Anerkannt ist, dass auch Formulare Urkundencharakter haben können, so das Formular A zur Bekämpfung der Geldwäscherei. Mit falschen Angaben über den wirtschaftlich Berechtigten stellt es eine Urkundenfälschung dar. Nun setzt das Bundesgericht diese Rechtsprechung fort und wendet sie auch auf das vom Kanton obligatorisch erklärte amtliche Formular zur Anzeige des Anfangsmietzinses an. Der Inhalt dieses Dokuments ist gesetzlich genau definiert, was ihm eine erhöhte Glaubwürdigkeit verleiht. Zudem muss sich der Mieter auf die darin enthaltenen Angaben verlassen können, um die Möglichkeiten einer Anfechtung des Anfangsmietzinses abzuschätzen. Das betrifft insbesondere die Angabe über den bisherigen Mietzins.49
2.1.3 Fehlende Formularanzeige
Der Anfangsmietzins ist bei fehlender obligatorischer Formularanzeige nichtig. Im laufenden Mietverhältnis kann die Mietpartei die Nichtigkeit jederzeit geltend machen und die richterliche Festsetzung des Mietzinses verlangen. Sobald die Mietpartei die Nichtigkeit kennt, beginnt der Fristenlauf für die Verjährung von Rückforderungen allenfalls zu viel bezahlter Mietzinse. Es wird vermutet, dass sie diese Nichtigkeit nicht kennt, solange sie nicht darauf aufmerksam gemacht worden ist, es sei denn, sie verfügt über besondere Kenntnisse im Mietrecht oder die Nichtigkeit ist ihr aufgrund früherer Erfahrungen bekannt.50
Ein Rechtsanwalt hingegen, der sein Praktikum in einer auf Mietrecht spezialisierten Kanzlei absolvierte und zwei oder drei Jahre Beisitzer eine Schlichtungsbehörde war, kann sich nicht 13 Jahre nach dem Einzug in eine Wohnung auf einen Formmangel berufen, der für ihn bereits beim Abschluss des Mietvertrags erkennbar war. Aufgrund seiner Ausbildung und Berufserfahrung, namentlich auch der vertieften Auseinandersetzung mit dem Mietrecht, sei zu erwarten, dass er die Rechtslage zumindest in groben Zügen gekannt habe. Die Berufung auf einen Formmangel ist rechtsmissbräuchlich.51
2.2 Mangel Feuchtigkeit
Weil die übermässige Feuchtigkeit in einem im Rohbau gemieteten Geschäftsraum die vorgesehene Nutzung als Schönheitssalon zunächst beeinträchtigte und schliesslich verunmöglichte, rechtfertigt sich eine Mietzinsreduktion von 40 Prozent, gemessen über die ganze Mietdauer. Eine Mängelrüge ist nicht erforderlich, da die Vermieter den Mangel kannten und selbst vor Feuchtigkeitsbildung warnten.52
2.3 Kündigung
2.3.1 Ertragsoptimierung, Ortsüblichkeit
Nach einer Handänderung erhielten die Mieter die Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen, weil der Nettomietzins nach Ansicht der Eigentümerin unter den Wohnungsmieten im Kanton gemäss den Waadtländer Statistiken liege. Im Rahmen des kantonalen Verfahrens präsentierte die Vermieterin weder Unterlagen zur Berechnung der Nettorendite der Liegenschaft, noch hat sie fünf Vergleichsobjekte zur Bestimmung des quartierüblichen Mietzinses behauptet. Das Mietgericht hob die Kündigung auf. Das Kantonsgericht bestätigte das Urteil. Die Vermieterin gelangte erfolglos ans Bundesgericht. Bei einer Kündigung zur Anpassung des Mietzinses an das ortsübliche Niveau bei Neuvermietung muss der Vermieter den strikten Beweis der Ortsüblichkeit erbringen. Er kann sich nicht auf Privatstatistiken und ungenügend differenzierte amtliche Statistiken berufen. Die Rechtsprechung zur richterlichen Festsetzung des Anfangsmietzinses (siehe oben Ziffer 2.1.1.) findet hier keine Anwendung.53
2.3.2 Gültigkeit einer Sanierungskündigung
Mit Formularanzeige vom 28. August 2018 wurde der Mieterin die Kündigung per 31. Mai 2019 angezeigt. Am 27. Februar 2019 reichten die Vermieter ihr Baugesuch ein. Dieses wurde abgelehnt, weil es eine Dienstbarkeit zugunsten eines Nachbargebäudes verletzte. Die Gerichte des Kantons Genf schützten die Kündigung. Im Laufe des Verfahrens konnte sich die Vermieterin mit der Nachbarschaft über die Dienstbarkeit einigen. Die Mieterin gelangte erfolglos an das Bundesgericht. Ob ein Bauvorhaben objektiv unmöglich ist, beurteilt sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt, in dem die Kündigung ausgesprochen wird. Eine Verweigerung der Baubewilligung wegen einer Dienstbarkeit, über die sich die Nachbarn in der Folge einigen konnten, lässt die Baubewilligung nicht offensichtlich ausgeschlossen erscheinen, so das Bundesgericht.54
2.3.3 Renovation
Es geht um ein Mehrfamilienhaus, in dem ein Teil der Wohnungen bereits renoviert wurden und die übrigen sich noch im ursprünglichen Zustand befinden. Alle sind bewohnbar und vermietet. Einer Mieterin wurde per 31. März 2020 wegen Renovation gekündigt. Im kantonalen Verfahren wurde geltend gemacht, dass umfassende Renovationsarbeiten ausgeführt werden müssen, die in Anwesenheit der Mieterin nicht möglich seien. Der Vermieterin fehlen die Mittel, um alle Wohnungen gleichzeitig zu renovieren. Sie könne zwei bis drei Wohnungen pro Jahr sanieren. Die Arbeiten seien nicht dringend, doch solle damit die Liegenschaft aufgewertet werden. Die Wohnung der Mieterin sei wegen des schlechten Zustands ausgewählt worden und nicht wegen des niedrigen Mietzinses, auch wenn dieser nach der Renovation erhöht würde. Das Mietgericht erklärte die Kündigung für ungültig. Das Kantonsgericht Waadt hingegen schützte sie. Die Mieterin gelangte vergebens ans Bundesgericht. Eine Kündigung, um jeweils zwei der Wohnungen im Mietobjekt umfassend zu renovieren, ist nicht missbräuchlich. Dem Vermieter steht es frei, den Mietvertrag ordentlich zu kündigen, um entsprechende Sanierungsarbeiten durchzuführen. Er hat ein wirtschaftliches Interesse, den Zustand seiner Liegenschaft zu erhalten oder gar zu verbessern und die Arbeiten möglichst rasch und kostengünstig durchzuführen, um den Ertrag der Liegenschaft zu verbessern. Über Art und Umfang der Renovation entscheidet er grundsätzlich allein. Er muss nicht warten, bis die Renovationsarbeiten notwendig und dringend werden.55
2.4 Vereinfachtes Verfahren: Kündigungsschutz
Mieterin war eine Aktiengesellschaft, Vermieterin eine Stiftung. Sie schlossen einen Mietvertrag über Geschäftsräumlichkeiten im Kanton Zürich ab mit einer festen Dauer von zehn Jahren bis 31. Dezember 2029. 2021 entschied sich die Vermieterin zum Verkauf der Liegenschaft und kündigte aus diesem Grund das Mietverhältnis ausserordentlich per 31. Dezember 2025. Die Mieterin focht diese Kündigung an. Ergänzend reichte sie beim Handelsgericht Zürich Klage ein mit dem Begehren, die Beklagte sei zu verpflichten, den Mietvertrag im Grundbuch für die vertraglich vorgesehene feste Mindestdauer vorzumerken. Dabei berief sie sich auf eine Vertragsklausel, die ihr dieses Recht einräume. Das Handelsgericht trat auf diese Klage nicht ein. Seiner Auffassung nach fällt dieser Streitgegenstand unter den Begriff des Kündigungsschutzes, weshalb dafür das vereinfachte Verfahren zur Anwendung kommt. Da das Handelsgericht diese Verfahrensart nicht kenne, falle die Klage nicht in seinen Zuständigkeitsbereich. Die Mieterin legte gegen dieses Urteil Beschwerde beim Bundesgericht ein, das einzig darüber zu entscheiden hatte, ob im Streit um die Vormerkung des Mietvertrags das vereinfachte Verfahren zum Zug kommt.
Bereits in früheren Entscheiden stellte das Bundesgericht klar, dass der Begriff des «Kündigungsschutzes» als Voraussetzung für den Geltungsbereich des vereinfachten Verfahrens weit auszulegen sei. Nach dieser Rechtsprechung liegt ein Kündigungsschutz im Sinne von Artikel 243 Absatz 2 litera c ZPO immer vor, wenn das Gericht über die Beendigung eines Mietverhältnisses zu entscheiden hat, sei es zufolge einer ordentlichen oder ausserordentlichen Kündigung, sei es aufgrund des Ablaufs der vereinbarten Dauer des Mietvertrags, sei es im Zusammenhang mit einem Optionsrecht oder dergleichen. Zu diesem Katalog kommt nun neu auch ein Verfahren über die Vormerkung des Mietvertrags hinzu. Da im Falle eines Verkaufs der Liegenschaft der Erwerber in den bestehenden Mietvertrag eintritt, droht dem Mieter als Folge eine Kündigung des Mietvertrags durch den neuen Eigentümer, der bei dringendem Eigenbedarf die vereinbarte Mindestvertragsdauer durchbrechen kann. Sinn und Zweck der Vormerkung nach Artikel 261b OR besteht somit heute im Wesentlichen darin, die auf Artikel 261 Absatz 2 litera a OR gestützte Eigenbedarfskündigung der neuen Eigentümerin zu verunmöglichen. Damit ist die Vormerkung eines Mietverhältnisses im Kern zu einem Institut des (vorsorglichen) Kündigungsschutzes geworden. Es entspricht der weitgefassten bundesgerichtlichen Rechtsprechung, dass bei Streitigkeiten um die grundbuchliche Vormerkung des Mietvertrags das vereinfachte Verfahren von Artikel 243 Absatz 2 litera c ZPO gilt. Da das Handelsgericht des Kantons Zürich dieses Verfahren nicht kennt, trat es zu Recht nicht auf die Klage ein.56
2.5 Nebenkosten
Der Mietvertrag aus dem Kanton Wallis sah für die Nebenkosten eine monatliche Akontozahlung von 200 Franken vor. Als Nebenkosten wurden Kosten für die Heizung und Warmwasseraufbereitung erwähnt. Ergänzend dazu enthielt der Mietvertrag in Ziffer 3.2 eine ganze Reihe weiterer Nebenkosten (beispielsweise Gebühren, Unterhalt Lift, Hauswartung) mit der Bemerkung, dass aus dieser Liste gestrichen werden müsse, was in der betreffenden Liegenschaft nicht anfalle. Nachdem ursprünglich lediglich die Heiz- und Warmwasserkosten als Nebenkosten überwälzt wurden, verlangte die Vermieterschaft für das Abrechnungsjahr 2016/2017 eine Nachzahlung von 281 Franken. Die Mieterin bestritt bis vor Bundesgericht erfolglos die Gültigkeit der Vertragsziffer 3.2. Die besondere Vereinbarung der Nebenkosten wird nicht ungültig, weil sie Posten enthält, die im betreffenden Mietverhältnis nicht anfallen. Der Vermieter kann Jahre nach Abschluss des Mietvertrags bisher unberücksichtigte Kosten gemäss dieser Aufzählung erstmals in Rechnung stellen. Der Mieterin stehe es frei, diese Punkte mit der Vermieterin von vornherein zu klären, wenn sie das für nötig erachte.57
2.6 Verrechnungseinrede
bei Zahlungsverzug
2011 mietete A. im Bezirk Aarau eine Wohnung zu einem monatlichen Mietzins von zuletzt total 2925 Franken. Am 16. Dezember 2020 mahnte die Vermieterin 13 050 Franken Mietzinsausstände und setzte A. sowie seiner Ehefrau eine 30-tägige Zahlungsfrist unter Androhung der Kündigung im Säumnisfall. Nachdem daraufhin nur 5670 Franken bezahlt worden waren, kündigte die Vermieterin das Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs vorzeitig per Ende Februar 2021. Am 2. März 2021 stellte sie im summarischen Verfahren ein Ausweisungsbegehren. Das Mieterehepaar hatte die Kündigung nicht angefochten, wehrte sich jedoch gegen die Ausweisung. Es machte dabei unter anderem geltend, dass die Mietzinsschuld getilgt worden sei und damit die Voraussetzungen für die ausserordentliche Kündigung wegen Zahlungsverzugs nicht erfüllt seien. Es hätte mit dem abgemahnten Ausstand eine Gegenforderung wegen Mängeln am Mietobjekt verrechnet. In erster und zweiter Instanz erreichte es damit, dass auf das Ausweisungsbegehren nicht eingetreten wurde. Die Vermieterin gelangte ans Bundesgericht, das den Fall an das Obergericht des Kantons Aarau zurückwies mit der Auflage, die Verrechnungseinrede des Mieterehepaars näher zu prüfen. In seinem zweiten Urteil vom 22. Juli 2022 hiess das Obergericht das Ausweisungsbegehren gut und verpflichtete das Mieterehepaar, das Mietobjekt innert zehn Tagen zu räumen. Diesen zweiten Entscheid des Obergerichts zog nun das Mieterehepaar ans Bundesgericht weiter. Das Bundesgericht konzentrierte sich unter anderem auf die Frage, ob der verbleibende Mietzinsausstand gültig mit einer Forderung auf Mietzinsreduktion wegen Mängeln verrechnet wurde. In Bezug auf die behaupteten Verrechnungsforderungen wegen Mängeln an der Mietsache beriefen sich die Beschwerdeführer auf undichte Fenster, blockierte Jalousien, nicht funktionierende Heizung, mangelhafte Elektroinstallationen, klemmende Türen, Wasserschäden, ungenügenden Wasserdruck in der Dusche und auf eine fehlende Vignette des Containers für die Grünabfuhr.
Die Vorinstanz stellte fest, dass es sich dabei um blosse Behauptungen handelt und es dem Mieterehepaar nicht gelungen ist, diese Mängel zu beweisen. Auch nach Auffassung des Bundesgerichts genügt es nicht, wenn der Mieter Mängel nur behauptet und aufgrund dieser Behauptung unbezifferte, nicht feststehende Forderungen zur Verrechnung bringt. Der gesetzgeberische Wille wolle dem Vermieter mit dem Verfahren nach Artikel 257 ZPO erlauben, das Mietverhältnis rasch zu beenden und die säumigen Mieter auszuweisen. Das könne der Mieter mit einer bloss behaupteten Verrechnungsmöglichkeit nicht vereiteln. Vielmehr müsse er die zur Verrechnung geltend gemachte Forderung sofort beweisen können.58
2.7 Strafverfahren
2.7.1 Nötigung und Veruntreuung
Ein Vermieter, der durch Umprogrammierung der elektronischen Schliessanlage den Mieter aus dem Mietobjekt aussperrt, begeht eine Nötigung. Ausserdem macht er sich der Veruntreuung schuldig, wenn er die Mietkaution in bar entgegennimmt, ohne das anvertraute Geld innert nützlicher Frist auf einem Sperrkonto zu hinterlegen.59
2.7.2 Nötigung und Verletzung der Privatsphäre
Der Vermieter, der dem Mieter durch Austauschen der Türschlösser den Zugang zur Wohnung verwehrt, erfüllt den objektiven Straftatbestand der Nötigung. Fotografiert er das Innere des Mietobjekts ohne Einwilligung des Mieters, kann er sich der Verletzung des Geheim- oder Privatbereiches durch Aufnahmegeräte schuldig machen.60
2.8 Covid-19-Pandemie
Zur Frage, ob die behördliche Schliessung von Geschäftsräumlichkeiten im Zusammenhang mit dem Coronavirus zu einem Mangel am Mietobjekt führt, wurde letztes Jahr mit dem Urteil des Zivilgerichts Basel-Stadt vom 28. Januar 2022 und dem Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Tessin vom 4. November 2021 auf zwei noch nicht rechtskräftige Urteile hingewiesen. Im Verfahren im Kanton Basel-Stadt hat das Appellationsgericht die Beschwerde der Vermieterschaft gutgeheissen. Gemäss dem Appellationsgericht zielen die staatlich angeordneten Betriebsschliessungen zur Bekämpfung des Coronavirus auf den Betrieb von Restaurants (und anderer Geschäftstätigkeiten). Sie lassen aber die konkrete Beschaffenheit des Mietobjekts unberührt. Damit fehlt es an einem Mangel am Mietobjekt.61
Gleich entschied das Obergericht des Kantons Zürich in Bestätigung seiner Rechtsprechung betreffend die Schliessung eines Spielwarengeschäfts.62 Im Verfahren aus dem Kanton Tessin ist das Bundesgericht nicht auf die Beschwerde in Zivilsachen (und die subsidiäre Verfassungsbeschwerde) der Vermieterschaft eingetreten, weil der notwendige Streitwert nicht erreicht wurde und gemäss dem Bundesgericht keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen worden sei, die sich nicht zweifellos in einem Fall mit einem ausreichenden Streitwert wieder stellen könne.63 Damit bleibt es bei einem kantonalen Flickenteppich. Die Mehrheit der zweitinstanzlichen kantonalen Gerichte haben das Vorliegen eines Mangels verneint.
1 Der Autor bedankt sich bei Christoph Reusser, Rechtsanwalt, für die wertvolle Mitarbeit.
2 Vgl. dazu schon die letztjährige Besprechung, plädoyer 3/2022, S. 44.
3 BGer 9C_70/2022 und 9C_76/2022 vom 16.2.2023; vgl. auch BGE 147 V 174.
4 BGer 2C_34/2021 vom 30.5.2022; Willkürprüfung.
5 BGE 148 II 426 betr. Personalverleih.
6 BGer 8C_514/2020 vom 20.1.2021.
7 Urteil AN190021 vom 19.2.2021.
8 BGer 8C_28/2022, 8D_1/2022 und 8D_2/2022 vom 4.10.2022; Willkürprüfung.
9 Ausserdem ist strikt zwischen der Frage der Anrechnung als Arbeitszeit im Sinn des Arbeitsgesetzes und jener der Entlöhnung zu unterscheiden.
10 BGE 148 III 134.
11 Ebd., nicht publizierte E. 3.1, vgl. BGer 4A_394/2021 vom 11.1.2022.
12 Ebd., nicht publizierte E. 3.2.
13 Ebd., nicht publizierte E. 5.3.
14 E. 3.4. Vgl. zum Ganzen Adrian von Kaenel / Roger Rudolph, elektronischer Updateservice zum Praxiskommentar Streiff / von Kaenel / Rudolph, www.schulthess.com/arbeitsrecht, N 14 zu Art. 324a/b OR, besucht am 2.2.2023.
15 Urteil CIV 21 2317 FAU vom 17.2.2022.
16 Urteil LA220011 vom 6.2.2023.
17 Urteil 1B5 22 1 vom 1.3.2022.
18 Arbeitsgericht Zürich, Entscheide 2021 Nr. 13 = JAR 2022, S. 842.
19 BGer 8C_576/2021 vom 27.1.2022.
20 BGer 2C_886/2021 vom 12.12.2022.
21 BVGE A-4619/2021 vom 26.4.2022.
22 SR 519.1.
23 BGer 8C_327/2022, 8C_340/2022, 8C_351/2022 und 8C_362/2022 vom 22.2.2023.
24 Urteil VV.2018.93-PSC/SG3ZE-FRP vom 6.1.2022.
25 Bzw. von nach Einführung eines vertraglichen Impfobligatoriums eingetretenen Mitarbeitenden.
26 BGer 4A_357/2022 vom 30.1.2023.
27 BGer 4A_31/2021 vom 30.3.2022.
28 BGer 4A_129/2022 vom 27.10.2022.
29 BGE 148 III 126.
30 Kritisch zum Ganzen Wolfgang Portmann / Christoph Reusser, Verlängerung der Probezeit bei Krankheit, Besprechung des Entscheids des Bundesgerichts 8C_317/2021 vom 8.3.2022, I. sozialrechtliche Abteilung, auszugsweise amtlich publiziert in BGE 148 III 126, in: ARV 2022, S. 378 ff.
31 Vgl. dazu BGer 4A_44/2021 vom 2.6.2021, insbesondere E. 4.3.2, sowie die letztjährige Besprechung, plädoyer 3/2022, S. 46.
32 BGer 4A_390/2021 vom 1.2.2022.
33 Vgl. JAR 2022, S. 703.
34 Arbeitsgericht Zürich, Entscheide 2021 Nr. 9 = JAR 2022, S. 837.
35 BGer 4A_531/2021 vom 18.7.2021.
36 Arbeitsgericht Zürich, Entscheide 2021 Nr. 11 = JAR 2022, S. 853.
37 Urteil LA200039 vom 9.11.2021 = JAR 2022, S. 782.
38 BGE 148 II 551. Der Entscheid äussert sich auch zur sozialversicherungsrechtlichen Behandlung.
39 BGer 8C_176/2022 vom 21.9.2022.
40 Urteil ZK2 21 17 vom 16.6.2021 = JAR 2022, S. 643; vgl. auch BGer 4A_383/2021 vom 26.8.2021 (Nichteintreten).
41 BGer 4A_239/2021 vom 16.12.2022.
42 Arbeitsgericht Zürich, Entscheide 2021 Nr. 22 = JAR 2022, S. 834.
43 BGer 4A_468/2021 vom 4.3.2022.
44 Urteil LA210021 vom 2.2.2022.
45 BGer 2C_868/2021 vom 24.8.2022.
46 BGE 147 II 431.
47 BGE 139 III 13, E. 3.5.1.
48 BGE 148 III 209, übersetzt in: mp 3/2022, S. 197.
49 BGE 148 IV 288, übersetzt in: mp 3/2022, S. 227.
50 BGE 148 III 63, übersetzt in: mp 2/2022, S. 118.
51 BGer 4A_83/2022 vom 22.8.2022.
52 BGer 4A_94/2021 vom 1.2.2022, übersetzt in: mp 2/2022, S. 105.
53 BGer 4A_448/2021 vom 11.4.2022, übersetzt in: mp 3/2022, S. 213.
54 BGer 4A_435/2021 vom 14.2.2022, übersetzt in: mp 2/2022, S. 132.
55 BGE 148 III 215, übersetzt in: mp 3/2022, S. 205.
56 BGer 4A_199/2022 vom 20.9.2022, zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen.
57 BGer 4A_620/2021 vom 18.7.2022, übersetzt in: mp 4/2022, S. 261.
58 BGer 4A_333/2022 vom 9.11.2022, zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen.
59 BGer 6B_1008/2021 vom 9.11.2021.
60 BGer 6B_510/2022 vom 31.8.2022.
61 Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, ZB.2002.6, ZB.2022.7 vom 8.8.2022.
62 Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, PD210016 vom 12.1.2022.
63 BGer 4A_611/2021 vom 16.2.2023.