Artikel 30 der Bundesverfassung verpflichtet die Gerichte, ihre Entscheide öffentlich zugänglich zu machen. Denn Gerichtsverfahren und Urteilsverkündung sind öffentlich. Artikel 54 der Zivilprozessordnung hält ausdrücklich fest, dass Urteile «der Öffentlichkeit zugänglich gemacht» werden müssen. Im Internetzeitalter geht das am einfachsten online.
Das Bundesgericht geht mit gutem Beispiel voran und veröffentlicht seit 2007 sämtliche Endentscheide anonymisiert im Internet, einen grossen Teil seiner Urteile sogar seit 2000. Doch in den Kantonen bestand massiver Nachholbedarf, wie eine plädoyer-Untersuchung im Jahr 2016 in zehn Kantonen aufzeigte.
So waren etwa im Aargau, in Basel-Landschaft, im Thurgau und in Zug im Frühjahr noch keine Entscheide des laufenden und teilweise nicht einmal des Vorjahrs im Internet auffindbar (plädoyer 3/2016). Die Kantone begründeten diese Verzögerungen mit fehlendem Personal und dem grossen Aufwand für die Anonymisierung der Entscheide. Einige gelobten Besserung.
Pioniere: Basel-Stadt, Freiburg, Solothurn, Waadt
Der Verein Ejustice.ch lancierte daraufhin ein Projekt zur Verbesserung der Zugänglichkeit von Gerichtsentscheiden. Er fördert unter anderem den Einsatz von Informationstechnologien zur Verbesserung der Bürgernähe der Rechtspflege. Ziel war laut Daniel Kettiger, Projektleiter im Kompetenzzentrum für Public Management an der Universität Bern, die kantonalen Gerichte bei der Urteilspublikation zu unterstützen.
Der Verein befragte 2017 die oberen kantonalen Gerichte sämtlicher Kantone. Ergebnis: In der Deutschschweiz veröffentlichten erst die Kantone Basel-Stadt, Freiburg, Solothurn und Waadt sämtliche Sachurteile der oberen Gerichte im Internet (Daniel Hürlimann und Daniel Kettiger, «Zugänglichkeit zu Urteilen kantonaler Gerichte», in: Richterzeitung 2/2018).
Der Kanton Aargau hat markant aufgeholt
Vor fünf Jahren entschied der Kanton Aargau, sämtliche Sachurteile der oberen Gerichte zu publizieren. Der Kanton setzte das inzwischen um, wie eine neuerliche Recherche von plädoyer zeigt. Die Aargauer Gerichte publizierten früher nur einmal jährlich eine Sammlung von Leitentscheiden, und dies in der Regel erst im Sommer des Folgejahrs.
Seit Anfang 2022 verfügen die Aargauer Gerichts- und Verwaltungsbehörden über eine umfangreiche, fortlaufend aktualisierte Entscheiddatenbank: Gesetzessammlungen.ag.ch > Gerichts- und Verwaltungsentscheide (AGVE).
Neben Leitentscheiden enthält die Datenbank auch weitere Entscheide des Aargauischen Obergerichts, des Spezialverwaltungsgerichts sowie des Regierungsrats und der kantonalen Verwaltung. Die Entscheidsammlung lässt sich nach Stichwörtern, Gesetzesbestimmungen, Rechtsgebieten sowie Instanz beziehungsweise Kammer durchsuchen. Nicht enthalten sind in der Datenbank Entscheide der Bezirksgerichte.
Das Kantonsgericht Basel-Landschaft publiziert heute einen grossen Teil seiner Rechtsprechung in anonymisierter Form fortlaufend und in regelmässigen Abständen im Internet: Baselland.ch > Politik und Behörden > Gerichte > Rechtsprechung > Kantonsgericht. Gemäss der leitenden Gerichtsschreiberin Manuela Ilgen werden die Entscheide ungefähr alle zwei Wochen veröffentlicht.
Im Kanton Basel-Stadt publizieren sowohl das Appellationsgericht als auch das Sozialversicherungsgericht sämtliche Urteile: Rechtsprechung.Gerichte.bs.ch. Das Zivilgericht Basel-Stadt hingegen ist noch nicht so weit, aber laut Verwaltungschef Lumir Kunovits bestrebt, dies künftig ebenfalls anbieten zu können.
Bei der Berner Entscheidsammlung gibt es inzwischen eine Volltextsuche. Es sind aber nach wie vor nicht sämtliche Urteile online. Die Zivilabteilung des Obergerichts veröffentlicht nur eine Auswahl. Gemäss dem Leiter des Zivilabteilungssekretariats Beat Pörtig können die Instruktionsrichter «publikationswürdige Entscheide» melden. Dazu zählen Entscheide mit Rechtsfragen, die noch nie entschieden wurden, von grundlegender Bedeutung oder mit Rechtsfragen, die sich in der Praxis häufig stellen sowie Änderung der Praxis: Justice.be.ch > Dienstleistungen > Rechtsprechung.
Der Kanton St. Gallen veröffentlicht noch immer nur «wichtige Urteile»: Sg.ch/recht/gerichte > Rechtsprechung. Anfang Juni ist noch kein einziger Entscheid des Kantonsgerichts aus dem Jahr 2023 abrufbar, zur Verfügung stehen jedoch 49 des Verwaltungsgerichts und 91 aus dem Versicherungsgericht. Martin Bauer, Generalsekretär der Gerichte Kanton St. Gallen, begründet das mit der ausserordentlich hohen Geschäftslast des Kantonsgerichts im Jahr 2022.
Das Obergericht des Kantons Thurgau veröffentlicht Grundsatzentscheide immer noch jährlich mit dem Rechenschaftsbericht: Rechtsprechung.tg.ch. Anfang Juni war der Bericht für das Jahr 2022 zwar bereits im Internet aufgeschaltet, doch die Entscheide fehlten noch. Laut der Medienstelle des Obergerichts war die Publikation für Mai geplant, aufgrund von Softwareproblemen habe sie sich verzögert.
Inzwischen sind die Entscheide aus dem Vorjahr online. Der Thurgauer Anwaltsverband würde gemäss Präsidentin Karin Looser eine umfassendere und aktuellere Urteilssammlung begrüssen: «Dies würde die Arbeit der Anwälte wesentlich erleichtern und der Rechtssicherheit dienen.»
Mietgericht Zürich als positive Ausnahme
Der Kanton Zug gehörte 2016 zu den Schlusslichtern: Es waren lediglich ausgewählte Entscheide bis zum Jahr 2014 online. Seit Anfang 2022 verfügt der Kanton über eine umfassende Datenbank. Das Obergericht veröffentlicht nach Ablauf der Rechtsmittelfrist grundsätzlich jeden materiellen Entscheid: Obergericht.zg.ch.
Keine wesentlichen Änderungen seit dem Jahr 2016 gibt es in den Kantonen Luzern, Schaffhausen und Zürich. Das Kantonsgericht Luzern (Gerichte.lu.ch/rechtsprechung/lgve) veröffentlicht nur ausgewählte Entscheide, ebenso das Obergericht Schaffhausen: Obergerichtsentscheide.sh.ch.
Das Zürcher Obergericht schaltet grundsätzlich sämtliche Entscheide laufend auf. Aber auch hier sucht man – wie in allen Kantonen – Entscheide der Bezirksgerichte weitgehend vergeblich. Nur das Mietgericht Zürich veröffentlicht regelmässig Urteile.
Der Verein Entscheidsuche.ch erfasst täglich die online publizierten Gerichtsentscheide aus der ganzen Schweiz. Die Datenbank lässt sich mit Suchbegriffen durchsuchen. Die Resultate kann man nach Datum, Kanton und Sprache einschränken.