Verfassungsrecht
Grundrechte
Innocence in Danger. Sarah Kunz von Hoyningen-Huene, Jutta Sonja Oberlin, SJZ 1/2023, S. 1123 ff.
Seit einigen Jahren kann das Phänomen beobachtet werden, dass Eltern über das Leben ihrer Kinder auf Internetplattformen in Wort und Bild berichten. Aber wie steht es um die Rechte der Kinder und um das Kindesinteresse beziehungsweise Kindeswohl? Die Autorinnen behandeln diese Fragen aus grundrechtlicher, datenschutzrechtlicher, strafrechtlicher, arbeitsrechtlicher und zivilrechtlicher Perspektive.
Übriges Verfassungsrecht
Einzelfallabwägung und Gemeinwohlverantwortung: Die Lex Gondo-Grengiols-Grimsel und die Gewaltenteilungsfrage. Giovanni Biaggini, ZBl 12/2022, S. 629 f.
Der Autor befasst sich mit der im Schnellverfahren beschlossenen Teilrevision des Energiegesetzes vom 30. September 2022 und dem Vorwurf, wonach das Gesetz gegen die Gewaltenteilung verstosse, weil es Einzelentscheide vorwegnehme, die von den rechtsanwendenden Behörden getroffen werden müssten. Seine Haltung: Dass sich der Gesetzgeber in Interessenabwägungen einmischt und sie nicht einfach der Rechtsanwendung überlässt, sei nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Man könne überdies nicht ausschliessen, dass beim bisherigen «Primat der administrativen und judikativen Einzelfallabwägung» die Nutzungsinteressen über das Ganze gesehen zu kurz gekommen seien. Gerade bei einer sich abzeichnenden Energieknappheit könnten Prioritätenverschiebungen geboten sein. Aus demokratischer Sicht würden solche Weichenstellungen dem Gesetzgeber obliegen, nicht den rechtsanwendenden Behörden. Zusammenfassend begrüsst der Autor, dass der Gesetzgeber seine Gemeinwohlverantwortung wahrnimmt – ob er er beim Energiegesetz «in Eile, Form und Mass» richtig lag, sei indes fraglich.
Verankerung der schweizerischen Neutralität im innerstaatlichen Recht – rechtliche Einordnung der SVP-Neutralitätsinitiative. Mark E. Villiger, Unser Recht vom 3.1.2023
Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion über die Neutralitätsinitiative bezeichnet der Autor eine dauerhafte Verankerung der Neutralität in der Bundesverfassung im Sinne der Initiative als «verlockend». Die Initiative sei fachmännisch formuliert und renne «mehrere offene Türen ein». Sie brächte allerdings beträchtliche Schwierigkeiten mit sich, da sie die Landesregierung in ihrem aussen- und innenpolitischen Handeln einengen würde. Die gegenwärtige Regelung der Neutralität in der Bundesverfassung erscheint dem Autor als «hinreichende Leitplanke» für die obersten Behörden. Ohnehin seien die Rechtsgrundlagen der schweizerischen Neutralität völkerrechtlicher Natur. Angesichts der wechselseitigen Wirkung zwischen der schweizerischen Neutralität und der Staatenwelt wäre es für den Bundesrat ein heikles Unterfangen, Fragen der Neutralitätspolitik von jenen der völkerrechtlichen Grundlagen der Neutralität zu trennen, ohne den Anschein zu erwecken, Letztere aufweichen zu wollen.
Verwaltungsrecht
Ausländer- und Asylrecht
Identifying and Protecting Stateless Persons Fleeing Ukraine. Patricia Cabral, Aleksejs Ivashuk, Jyothi Kanics, Asyl 4/2022, S. 3–8
Zahlreiche Staatenlose flüchten aufgrund der russischen Invasion aus der Ukraine und sind mit administrativen Hürden konfrontiert. Dieser Beitrag empfiehlt verschiedene Schritte, um ihnen gleichwertigen Schutz wie anderen zu bieten.
Der Härtefall bei der Landesverweisung in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Stephan Schlegel, Forum poenale 6/22, S. 429 ff.
Die Rechtsprechung zur Härtefallklausel fördert immer klarer zutage, dass sich auch das Bundesgericht völkerrechtlichen Vorgaben, insbesondere der EMRK, nicht entziehen kann. Mittlerweile sei man wieder an der Stelle angelangt, an der man vor der Einführung der Landesverweisung war, nämlich bei der Boultif/Üner-Rechtsprechung des EGMR und partiell den Integrationskriterien im Sinne der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE). Das Bundesgericht lege mit seiner strengen Praxis «den Finger eindeutig auf die Waagschale des öffentlichen Wegweisungsinteresses», bilanziert der Autor.
Umweltrecht
Ufervegetation: Begriffsklärung und Schutzplanungsbedarf, Replik auf den Artikel von Gregor Geisser in URP 7/2021. Thomas B. Egloff, URP 5/2022, S. 487 ff.
Nach einer umfassenden Darstellung der naturwissenschaftlichen Begriffserklärung des Schutzgegenstands der Ufervegetation setzt sich der Autor mit dem Vorschlag von Gregor Geisser auseinander, in der Natur- und Heimatschutzverordnung (NHV) eine Schutzplanungspflicht für Ufervegetation zu verankern. Er kommt jedoch zum Schluss, dass eine Anpassung der NHV nicht notwendig sei.
Zahlungsunfähigkeit bei der altlastenrechtlichen Kostenverteilung. Christoph Dimino, Hans Rudolf Trüeb, URP 6/2021, S. 594 ff.
Wie sollen die Vollzugsbehörden des Altlastenrechts damit umgehen, wenn ein kostenpflichtiger Verursacher im altlastenrechtlichen Kostenteilungsverfahren behauptet, er sei zahlungsunfähig und könne die ihm auferlegten Massnahmenkosten nicht tragen? Die Autoren stellen im Zusammenhang mit Artikel 32d Absatz 3 USG die These auf, dass die Kostenverteilungsverfügung unabhängig von einer (behaupteten) Zahlungsunfähigkeit erlassen werden sollte und anschliessend das Pfändungsverfahren durchzuführen sei. Die Zahlungsunfähigkeit dürfe nicht leichthin angenommen werden, da sonst das Verursacherprinzip zugunsten eines Gemeinlastprinzips erodiere.
Sozialversicherungsrecht
AHV, IV, EL und ALV
Neues aus dem Bundesgericht: Übernahme der invaliditätsbedingten Mehrkosten für den Besuch eines Privatgymnasiums bei einem Versicherten
mit Autismus-Spektrum-Störung. Andreas Traub, SZS 1/2023, S. 41 ff.
Der Beitrag stellt einen progressiven Entscheid zum Eingliederungspotenzial von Personen mit einer Autismus-Störung vor. Zu beurteilen war, ob der Besuch eines privaten Gymnasiums von der IV finanziert werden soll. Das Bundesgericht bejahte dies. Für die Beurteilung des Eingliederungspotenzials sei nicht der breite Markt an Stellen massgebend. Es gilt der besondere Nischenarbeitsmarkt für Menschen mit Autismus (BGer vom 12. September 2022, 9C_131/2022).
Urteilsbesprechungen: Begriff des Betriebes im Falle einer Massenentlassung (Art. 335d OR). Romina Carcagni Roesler, ARV 3/2022, S. 268 ff.
Im Zuge der Ausdünnung der Postfilialen werden von den verbleibenden Angestellten flexiblere Arbeitszeiten gefordert. Einer Frau, die sich dagegen wehrte, wurde umstandslos gekündigt. Sie machte geltend, die Post hätte bei der Kündigung die Vorschriften der Massenentlassung für Betriebe ab 20 Mitarbeitenden einhalten müssen. Als Betrieb gelte der Geschäftsbereich Postnetz. Die Filiale sei kein autonomer Betrieb. Der Filialleiter könne nicht über die Stellen bestimmen, die Angestellten nicht auswählen und auch die Arbeitszeiten und die Ferienplanung nicht festlegen. Das Bundesgericht entschied jedoch, dass die Schutzvorschriften der Massentlassung nicht zur Anwendung kommen. Als massgebende Grösse sei auf die Filiale abzustellen, die sechs Angestellte und einen Lehrling beschäftige – sie sei durchaus autonom. Die Autorin übersetzte den französischsprachigen Entscheid ins Deutsche.
Privatrecht
Zivilgesetzbuch
Grundrechte haben keine Katzenklappen. Christa Rempfler, AJP 1/2023, S. 62 ff.
Die Standesregeln des schweizerischen Ärzteverbands (FMH) schreiben als oberstes Gebot die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit des Patienten vor. Die Verbandsrichtlinien untersagen unter anderem die Suizidhilfe bei Gesunden. Die Autorin befürwortet hingegen eine konsequente Anwendung des grundrechtlichen Selbstbestimmungsrechts. Die FMH dürfe nicht durch die Hintertür oder eben «Katzenklappe» mittels Sanktionierungsandrohung bei Verletzung ihrer Richtlinien die persönliche Freiheit aushöhlen. Insbesondere eine Patientenverfügung könne dem Selbstbestimmungsrecht zum Durchbruch verhelfen.
Obligationenrecht
Ethische Produktionsprozesse als Merkmal der Mangelfreiheit der Kaufsache? Yesim M. Atamer, Patrick M. Gerber, AJP 11/2022, S. 1159 ff.
Die Autoren beurteilen die Frage, welche Rechte der Käuferschaft zustehen, wenn ein Hersteller die Zusicherung eines nachhaltigen oder besonders menschenrechtskonformen Produkts nicht einhält. Erhält ein Konsument statt dem vereinbarten Produkt aus Recyclingmaterialien ein konventionelles Produkt, so soll ihm nicht nur eine Preisreduktion zustehen. Viel eher darf er den Kaufpreis zurückfordern.
Le blocage d’une somme déposée chez le notaire. Olivier Kluge, Baurecht 6/2022, S. 311 ff.
Bei Grundstücksgeschäften kommt es oft vor, dass ein Käufer beim Notar einen Geldbetrag als Sicherheit zu hinterlegen hat, so etwa im Fall eines bedingten Kaufversprechens. Nicht immer sind sich der Notar und die Parteien im Klaren darüber, dass keine Möglichkeit besteht, ein Gericht anzurufen, um den hinterlegten Betrag vorläufig zu sperren. Weder liegt ein Arrestgrund vor, noch stehen vorsorgliche Massnahmen nach der ZPO für die Vollstreckung von Geldschulden offen. Der Autor entwickelt Lösungen, mit denen sich die Funktion der vom Käufer geleisteten Sicherheit gleichwohl gewährleisten lässt.
Haftpflichtrecht
Skiunfälle in der Schweiz. Silvio Riesen, HAVE 4/2022, S. 372 ff.
Der Beitrag zeigt die verschiedenen Haftungskonstellationen und -grundlagen auf, die sich nach einem Skiunfall stellen. Ein Schwerpunkt liegt bei internationalrechtlichen Fragestellungen, wenn Gäste aus dem EU-Raum auf Schweizer Skipisten verunfallen. So steht den Betroffenen seit der Revision des Versicherungsvertragsgesetzes neu auch ein Wohnsitzgerichtsstand zur Verfügung, wobei das schweizerische Recht anwendbar bleibt.
Mietrecht
Ausgewählte Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der Erstreckung des Mietverhältnisses. Tobias Brändli und Anina Casaulta, MP 4/2022, S. 246 ff.
Den Gerichten kommt ein grosses Ermessen bei der Frage zu, ob und wie lange ein Mietverhältnis nach der Kündigung zu erstrecken ist. Die Erstreckung setzt eine Härte für den Mieter oder seine Familie voraus, die durch die Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Die Autoren zeigen anhand der aktuellen Rechtsprechung auf, welche Härtegründe zu einer Erstreckung berechtigen, wie das Verhalten des Mieters die Dauer beeinflusst und welche Interessen des Vermieters Vorrang haben.
Übriges Privatrecht
Rechtsprechung und ausgewählte Rechtsfragen 2022. Roland Pfäffli, Der Bernische Notar 4/2022, S. 497 ff.
Der Autor liefert einen guten Überblick zur wichtigsten Rechtsprechung in den Bereichen ZGB, OR, Notariats-, Grundbuch- und Abgaberecht im Hinblick auf die notarielle Praxis.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Gesellschaftsrecht
Comment déterminer la connaissance d’une personne morale? Annick Fournier, SJZ 24/2022, S. 1187 ff.
Die Rechtsfolge vieler Normen im Privatrecht hängt vom Wissen des Normadressaten ab. Handelt es sich beim Normadressaten um eine juristische Person, stellt sich die Frage, wie ihr Wissen zu ermitteln ist. Die Autorin untersucht, unter welchen Voraussetzungen einer juristischen Person das Wissen ihrer Organe, vertretungsbefugten Personen oder «einfachen» Mitarbeiter zuzurechnen ist, und präsentiert einen Vorschlag für eine neue einheitliche Regelung.
Neuregelung der Vergütungen von Organmitgliedern in börsenkotierten Aktiengesellschaften. Valentin Jentsch, Lia B. Müller, AJP 1/2023, S. 21
Mit dem revidierten Aktienrecht trat am 1. Januar 2023 auch die Neuregelung der Vergütung der Verwaltungsräte von kotierten Gesellschaften in Kraft. Die Autoren zeigen auf, welche Akteure sich im Gesetzgebungsprozess durchsetzen konnten. 2013 nahm das Volk die Initiative «gegen Abzockerei» an. Seither seien die Honorare grundsätzlich stabil geblieben. Die Wirtschaft habe weitere Verschärfungen weitgehend verhindert.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Strafprozessrecht
Strafe auf Verdacht. Christopher Geth, ZStrR 4/2022, S. 383 ff.
Der Beitrag will den Nachweis erbringen, dass das heutige Strafrecht Verurteilungen zulässt, die auf blossem Verdacht basieren. Der Begründung seiner These stellt der Autor rechtsgeschichtliche Überlegungen zur mittelalterlichen Inquisition voran, anschliessend kommt er auf die Probleme des heutigen Strafbefehlsverfahrens zu sprechen. Fazit: Anders als früher sei die Strafe auf Verdacht heute das Resultat einer «auf Effizienz getrimmten Strafrechtspflege», die sich einer Unzahl von Strafverfahren widmen muss. Er teilt die Einschätzung des ehemaligen Bundesrichters Martin Schubarth, wonach der Strafbefehl ein Musterbeispiel dafür sei, wie durch die Kumulation von einzelnen Verfahrensvereinfachungen, die jede für sich möglicherweise noch hingenommen werden können, im Ergebnis eine unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten problematische, wenn nicht gar inakzeptable Regelung entsteht. Der Bereich der «Bagatellstraftaten» sei zu weit gefasst. Der Autor regt eine Diskussion darüber an, ob neben dem ordentlichen Verfahren und dem Strafbefehlsverfahren eine dritte Verfahrensart im echten Bagatellbereich eingeführt werden sollte, die von weitreichenden Erleichterungen profitiert. Zugleich müsste das Strafbefehlsverfahren rechtsstaatlicher ausgestaltet werden.
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
Wertlos – trotzdem pfändbar? Dominik Balmer, BlSchK 5/2022, S. 252–255
Es kommt vor, dass Gläubiger die Verwertungskosten vorschiessen und so die Pfändung wertloser Gegenstände erzwingen. Nach Auslegung von Artikel 92 Absatz 2 SchKG kommt der Autor zum Schluss, dass dies – entgegen der Genfer, Thurgauer und Freiburger Praxis – unzulässig ist. Also sollten Betreibungsämter wertlose Gegenstände nicht (mehr) pfänden.