Verfassungsrecht
Grundrechte
Das Ende einer Institution – Besprechung von BGer Urteil 9.9.2022, 1B_420/2022 (zur Publikation vorgesehen) sowie BGer Urteil vom 1.11.2022, 1B_519/2022. Matthias Schwaibold, Forum poenale 2/2023, S. 148 ff.
Laut Autor ist einer «bewährten Institution im Zürcher Gerichtswesen der Garaus» gemacht worden: Ein hauptamtlicher Gerichtsschreiber, der an derselben Abteilung auch als Ersatzrichter eingesetzt wird, ist gemäss Bundesgericht nicht mehr unbefangen. Der Anspruch einer Partei auf ein unabhängiges Gericht ist verletzt. Am Ende seines Beitrags wirft der Autor die Frage auf, wie das Obergericht mit dem Entscheid umgehen wird. Naheliegend wäre es, wenn der Kantonsrat künftig mehr ordentliche Oberrichter bestellen würde.
Übriges Verfassungsrecht
Spezialisten oder Generalisten am Bundesgericht? Peter Karlen, ZBl 4/2023, S. 169 f.
Der Autor, selbst ehemaliger Bundesrichter, greift den Vorschlag auf, am Bundesgericht abteilungsspezifische Wahlen einzuführen. Dem Autor zufolge ist dies kein taugliches Mittel, um die Fachkompetenz der Richter gegenüber der politischen Einstellung höher zu gewichten. Zwar seien die erforderlichen Spezialkenntnisse auf der Abteilung tatsächlich nicht in genügendem Masse vorhanden. Rund ein Viertel der Bundesrichter seien nicht in jener Abteilung tätig, in die sie nach ihren Fachkenntnissen und ihrer Berufserfahrungen gehörten. Das sei unwirtschaftlich. Doch der Gesetzgeber habe die oberste Gerichtsbarkeit bewusst von fachspezifischen Eigenheiten gelöst. Das zeige auch das Instrument der Einheitsbeschwerde für alle Materien.
«Einfach nur Recht sprechen»? Gerichte zwischen Politik und Richterrecht. Lorenz Langer, ZBl 4/2023, S. 171 ff.
Der Beitrag behandelt das Verhältnis zwischen Politik und Rechtsprechung. Ausgehend vom US-Supreme Court, der in seiner Geschichte immer wieder über zentrale Fragen der Politik entschieden hat, wird der Bogen zur Justizinitiative in die Schweiz und später zum deutschen Bundesverfassungsgericht geschlagen, das zuletzt in Klimafragen eine politisch-gestalterische Rolle eingenommen hat. Der Autor plädiert für beidseitige Ehrlichkeit: Gerichte würden weder ganz auf Seiten der Politik noch ganz im Bereich des «reinen» Rechts stehen. Und auch Politiker seien selten per se gegen politische Justiz – sondern nur dann, wenn sie damit nicht einverstanden sind.
Verwaltungsrecht
Baurecht
Die totalrevidierte Bauarbeitenverordnung. Oliver Bucher, Baurecht 2/2023, S. 77 ff.
Per 1. Januar 2022 ist die totalrevidierte Bauarbeitenverordnung in Kraft getreten. Sie verlangt vom Arbeitgeber die schriftliche Dokumentation seiner Sicherheits- und Gesunheitsschutzmassnahmen auf der Baustelle. Der Beitrag stellt die neue Vorschrift vor. Um Haftungsrisiken auszuschliessen, sollten aber auch weitere am Bau Beteiligte die Verantwortlichkeiten für die Sicherheit auf ihren Baustellen vertraglich regeln.
Umweltrecht
Pflanzenschutzmittel und Nährstoffverluste in der Landwirtschaft – Rechtliche Instrumente zum Schutz der Umwelt. URP 7/2022, S. 711 ff., Beiträge der Tagung vom 15.6.2022
Sehr informativ ist insbesondere der Beitrag «Schädliche Pestizide in der Umwelt: Rechtsmängel, Vollzugsmängel, Verbesserungsmöglichkeiten» von Hans Maurer (S. 717 ff.). Der Autor hat im Auftrag des WWF den wichtigen BGE 144 II 218 erstritten, der sich mit der Parteistellung und dem Beschwerderecht der Naturschutzorganisationen bei der Überprüfung von Pflanzenschutzmitteln nach Artikel 29 PSMV (Artikel 12 NHG) befasst. Im aktuellen Beitrag weist er auf Vollzugsmängel durch unvollständige Rechtsanwendung und Missachtung des Vorsorgeprinzips hin.
Magerwiese oder Rebberg in der Stadt Zürich? Vielschichtiger Kampf und zehn Gerichtsurteile. Der lange Weg bis zum bundesgerichtlichen Urteil 1C_663/2020. Michael Bütler, URP 1/2023, S. 1 ff.
Im Beitrag wird ein Kampf um die Erhaltung einer der letzten grösseren städtischen Magerwiesen behandelt, die Lebensraum für seltene und wertvolle Pflanzen und Tiere bildet. Der Autor, der Rechtsvertreter der Gegner des Projekts eines Weinbergs war (der anstelle der Wiese hätte angelegt werden sollen), stellt die Hintergründe und die Vorgeschichte dieses langjährigen, komplexen Rechtsfalles im Spannungsfeld von Recht und Politik dar.
Sozialversicherungsrecht
AHV, IV, EL und ALV
Von der gemischten Methode zur Haushaltskostenentschädigung. Hans-Jakob Mosimann, Eva Slavik. SZS 2/2023, S. 56 ff.
Die Invalidenversicherung kompensiert die wirtschaftlichen Folgen, wenn Versicherte in ihrer Gesundheit bleibend eingeschränkt sind. Im Vordergrund steht die Erwerbseinbusse. Was aber, wenn eine versicherte Person keine oder nur eine geringe Erwerbstätigkeit ausübte, aber den Haushalt besorgte und die Kinder betreute? In diesem Fall steht es weitgehend im Ermessen des IV-Sachbearbeiters, welche bisherigen Tätigkeiten nicht mehr möglich sind und kompensiert werden sollen. Der Beitrag entwickelt einen vielversprechenden neuen Ansatz, der – wie bei der Bemessung der Erwerbseinbusse – auch für Einschränkungen bei der Haus- und Familienarbeit vorderhand auf eine medizinische Einschätzung abstellt: Der Arzt qualifiziert den Grad der Einschränkung als leicht, mittel oder schwer. Zudem wird die Kompensation je nach Haushaltsgrösse abgestuft. Die vorgeschlagene Methode orientiert sich an der bewährten Bemessung der Hilflosenentschädigung.
Übriges Sozialversicherungsrecht
Sozialversicherungsrechtliche Leistungen für Fahrdienste. Martina Filippo, Have 1/2023, S. 23 ff.
Ist der öffentliche Verkehr nicht barrierefrei oder können Betroffene diesen aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen nicht nutzen, sind sie auf Ersatzangebote angewiesen. Die Autorin zeigt auf, welche Bundessozialversicherungen für die Mehrkosten spezieller Fahrdienste aufkommen.
Strafrecht
Allgemeiner Teil
Das vererbte Trauma im Recht. Catherine Reiter, Stefan Wehrenberg, AJP 4/2023, S. 460 ff.
Ein Trauma ist ein Ereignis, das eine Person körperlich oder emotional überfordert. Auslöser können Gewalt oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen sein. Zahlreiche Studien belegen, dass Traumatisierungen, insbesondere in der Kindheit, das Risiko einer depressiven Erkrankung erhöhen. Im Strafrecht ist eine finanzielle Wiedergutmachung insbesondere aus Gründen des Kausalitätsnachweises nahezu ausgeschlossen. Im Opferhilferecht bestehen ebenfalls keine Ansprüche, da bei einem geerbten Trauma keine unmittelbare Beeinträchtigung im Sinne des Gesetzes vorliegt. Finanzielle Entschädigungen erachten die Autoren nicht als optimale Lösung. Wichtig sei hingegen eine langfristige psychotherapeutische Begleitung und Unterstützung und nicht zuletzt eine Sensibilisierung bei den Behörden, um Fehlentscheiden vorzubeugen.
Übriges Strafrecht
Problematik der Verwendung von nationalistischen Hass-Symbolen. Thomas Noll, Michal Dreifuss, Nora Markwalder, AJP 4/2023, S. 484 ff.
Antisemitische Äusserungen haben zugenommen. Der Tatbestand der Rassendiskriminierung sanktioniert nicht jede Verwendung rassistischer Symbole. Insbesondere das Tatbestandselement der «Verbreitung», also des Werbens, wird in der Praxis uneinheitlich angewendet. So wurde etwa ein Hakenkreuz in einem Chat oder die Hakenkreuzfahne auf einem öffentlichen Grillplatz nicht als strafbar beurteilt, da dieses «lediglich ein kollektives Bekenntnis zur nationalsozialistischen Ideologie» dargestellt habe. Die Autoren plädieren für die Schaffung einer Strafnorm gegen die Verwendung von Nazisymbolen.
Privatrecht
Personenrecht und Persönlichkeitsschutz
Hohes Risiko – kein Killerargument gegen Vorhaben der digitalen Transformation.
Adrian Lobsiger, SJZ 6/2023, S. 311 ff.
Mit Inkrafttreten des neuen Datenschutzgesetzes am 1. September 2023 gilt der sogenannte risikobasierte Ansatz. Demnach müssen Firmen bei Datenbearbeitungen abschätzen, wie hoch das Risiko einer Persönlichkeitsverletzung oder Grundrechtseinschränkung ist. Bei einem hohen Risiko, etwa wenn das Unternehmen mit neuen Technologien umfangreiche besonders schützenswerte Personendaten bearbeitet, muss der Datenschutzverantwortliche des Unternehmens eine Datenschutz-Folgeabschätzung vornehmen. Der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte erklärt als Autor, wie bei einem hohen Risiko vorzugehen ist. Möglich sind etwa Schutzmassnahmen. Allenfalls ist bei einem hohen Restrisiko die Folgeabschätzung vorgängig dem Edöb vorzulegen.
Erbrecht
Örtliche Zuständigkeit des Notars bei Erbanteilsabtretungen sowie Wohnsitzpflicht des Notars. Fabrizio Andrea Liechti, Roland Pfäffli, Jonas Wolfisberg, Der Bernische Notar 1/23, S. 1 und 9 ff.
Notariatsspezifische Betrachtungen zur örtlichen Zuständigkeit beziehungsweise zur Wohnsitzpflicht von Urkundspersonen.
Haftpflichtrecht
Digitale Systeme als «Erfüllungsgehilfen». Relevanz der fehlenden Rechtsfähigkeit? Anmerkungen zu BGer 4A_305/2021 vom 2. November 2021. Christapor Yacoubian, AJP 4/2023, S. 412 ff.
Eine Vertragspartei kann bei der Erbringung einer Vertragsleistung eine Software einsetzen. Kommt der Vertragspartner hierbei zu Schaden, ohne dass die andere Partei eine Sorgfaltspflichtverletzung beging, könnte eine Haftungslücke vorliegen. Diese liesse sich mit der Anwendung der Gehilfenhaftung im Sinne von Artikel 101 OR schliessen. Die herrschende Lehre lehnt dies ab. Der Autor räumt ein, dass ein Algorithmus nicht vom Wortlaut der Haftungsregeln für Gehilfen und Substitute erfasst ist. Dennoch plädiert er für ihre analoge Anwendung, da es für Betroffene keinen Unterschied macht, ob eine Partei einen menschlichen oder «digitalen Gehilfen» beizieht.
Sachenrecht
Miteigentum im Stockwerkeigentum. Philipp Eberhard, SJZ 8/2023, S. 419 ff.
Gewöhnliches Miteigentum und Stockwerkeigentum kommen selten in Kombination vor. Es gibt aber auch Konstellationen, in denen Miteigentum in einem Stockwerkverhältnis begründet wird. Ein solcher Fall liegt zum Beispiel dann vor, wenn eine Stockwerkeigentumseinheit als Autoeinstellhalle konzipiert und im Miteigentum der Stockwerkeigentümer gehalten wird. Anhand dieses Beispiels erläutert der Autor im Beitrag praxisrelevante Fragestellungen in Bezug auf die Ausgestaltung des Miteigentums, offene Forderungen der beteiligten Eigentümer und die Voraussetzungen der Aufhebung des Miteigentums.
Arbeitsrecht
Robot Recruiting. Fabia Stöcklin, Sui generis 2023, S. 1 ff.
Der Entwicklungsstand von sogenannt künstlicher Intelligenz ist mittlerweile so weit ausgereift, dass diese auch im arbeitsrechtlichen Bewerbungsverfahren Anwendung finden kann. Die Autorin prüft die Haftbarkeit eines Arbeitgebers bei der Verwendung von diskriminierenden Algorithmen. Eine Haftung sei vor allem aus beweistechnischen Gründen kaum gegeben. Als Korrektiv fordert die Autorin eine gesetzliche Regelung, um Softwarehersteller und Arbeitgeber zu motivieren, auf faire Prozesse hinzuwirken.
Übriges Vertragsrecht
«Pandemie»-Deckungsausschluss in der Privatversicherung, Besprechung von Bger 4A_330/2021, 5.1.2022. Andrea Eisner-Kiefer, AJP 6/2022, S. 643 ff.
Die I. Zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts schützte letztes Jahr eine Klausel in den Versicherungsbedingungen, die bei einer Epidemieversicherung eines Gastrobetriebs für die WHO-Pandemiestufen 5 und 6 die Leistung ausschloss. Die Autorin zeigt auf, dass die Klausel entgegen der bundesgerichtlichen Erwägungen aus verschiedenen Gründen nicht gültig ist. So verweist der deutschsprachige Vertrag auf nicht mehr gültige, nur in Englisch im Internet abrufbare WHO-Pandemiestufen. Damit seien die AVB nicht hinreichend in den Vertrag einbezogen und sprachlich nicht verständlich. Zudem sei der Ausschluss verbreiteter Epidemien gerade bei einer Epidemieversicherung ungewöhnlich. Unabhängig davon sei die Klausel unverständlich und daher inhaltlich bedeutungslos.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Wettbewerbs- und Kartellrecht
Das neue Geodiskriminierungsverbot: der Tatbestand von Artikel 3a Absatz 1 UWG.
Nicolas Birkhäuser, Manuel J. Constam, AJP 8/2022, S. 867 ff.
Die Autoren präsentieren eine hilfreiche Auslegeordnung über verschiedene Fallkonstellationen, bei denen dieses Verbot seit letztem Jahr in Kraft ist. Sie zeigen auf, wo die Grenze des Zulässigen liegt.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Strafprozessrecht
Die Europäische Staatsanwaltschaft und ihre Bedeutung für die Schweiz. Thomas Fingerhuth, Sophie Matjaz,
Forum poenale 2/2023, S. 115 ff.
Im Sommer 2021 hat die Europäische Staatsanwaltschaft mit Sitz in Luxemburg ihre Arbeit aufgenommen. In der Schweiz ist die Tätigkeit der Behörde noch weitgehend unbekannt. Am 15. Februar ist jedoch die vom Bundesrat beschlossene Verordnung über die Zusammenarbeit mit der Europäischen Staatsanwaltschaft in Kraft getreten. Der Beitrag beleuchtet die Grundzüge dieser Institution, ihre Zusammenarbeit mit der Schweiz und die Folgen für Strafverfolgungsbehörden und Strafverteidigung. Fazit des Autors: Für die Strafbehörden bietet die supranationale Behörde mit ihren weitreichenden Kompetenzen vor allem Chancen. Aus Sicht der Verteidigung bestünden demgegenüber erhebliche Gefahren für einen effektiven Rechtsschutz von beschuldigten Personen.