Der Fall von Rinaldo Andenmatten sorgte Ende Januar für Aufsehen: Gemäss der «Neuen Zürcher Zeitung» musste der Bauingenieur aus Visp VS seinen Führerausweis im Jahr 2016 wegen Fahrens im angetrunkenen Zustand abgeben.
Sein Blutwert ergab nach einer Polizeikontrolle 1,8 Promille. Ab einem Wert von 1,6 Promille bestehen Zweifel an der Fahreignung eines Lenkers. Dann ordnet das Strassenverkehrsamt eine verkehrsmedizinische Untersuchung an, so auch die Dienststelle für Strassenverkehr und Schifffahrt in Sitten.
Diese Untersuchung dürfen nur sogenannte Stufe-4-Ärzte durchführen. Eine Liste mit zugelassenen Ärzten ist auf der Internetseite Medtraffic.ch zu finden. Die Ärzte entnehmen standardmässig wenn möglich drei bis sechs Zentimeter lange Haarsträhnen vom Hinterkopf oder notfalls Haare vom Körper. Diese lassen sie in einem rechtsmedizinischen Institut auf Ethylglucuronid (EtG) untersuchen. Das ist ein Abbauprodukt von Trinkalkohol, das sich im Haar einlagert und so das Trinkverhalten der vergangenen rund sechs Monate wiedergibt.
Labore messen das EtG in Pikogramm (0,000000000001 Gramm) pro Milligramm Haar, abgekürzt pg/mg. Das Bundesgericht anerkennt die von der internationalen Gesellschaft Society of Hair Testing festgelegten Grenzwerte: Werte unter 7 pg/mg geben keinen Hinweis auf einen regelmässigen relevanten Alkoholkonsum, bei Werten ab 7 bis 30 pg/mg ist von einem moderaten Alkoholkonsum auszugehen und ab 30 pg/mg von einem übermässigen Alkoholkonsum.
Chlor, Bleichmittel und Haarwasser sind tückisch
Rinaldo Andenmatten hatte auf Rat eines Kollegen vor der medizinischen Abklärung selber eine Haaranalyse in einem privaten Labor in Deutschland machen lassen. Es stellte einen Wert von 20 pg/mg fest. Er ging deswegen gelassen an die verkehrsmedizinische Abklärung, wie er plädoyer erzählt.
Der Test am rechtsmedizinischen Institut in Siders VS ergab jedoch einen fünfmal so hohen Wert von 100 pg/mg. Gestützt auf das ärztliche Gutachten verpflichtete ihn das Strassenverkehrsamt daraufhin, während mindestens zwölf Monaten abstinent zu leben. Betroffene müssen ihre Abstinenz nachweisen, wenn sie ihren Ausweis wiedererlangen möchten.
Der St. Galler Rechtsanwalt Manfred Dähler ist Leiter der Zürcher Tagung zum Strassenverkehrsrecht und Herausgeber des Jahrbuchs zum Strassenverkehrsrecht. Er sagt, Betroffene würden in der Regel vom Strassenverkehrsamt verpflichtet, alle sechs Monate eine EtG-Haaranalyse durchführen zu lassen.
Andenmatten ist überzeugt, dass die Methode unzuverlässig ist. Er liess deshalb seine Haare jeweils auch in einem deutschen Labor untersuchen. Es resultierten weiterhin teilweise stark voneinander abweichende Werte. Besonders zwei Resultate des Rechtsmedizinischen Instituts Basel scherten nach oben aus.
Andenmatten wehrte sich bis vor Bundesgericht vergeblich dagegen, dass er seine Abstinenz nach Wiedererlangung des Führerausweises Ende 2020 trotz der seltsamen Resultate für weitere drei Jahre mittels Haaranalysen nachweisen sollte. Nach dem NZZ-Bericht haben sich laut Andenmatten mindestens zehn Personen bei ihm gemeldet, die auch von widersprüchlichen Befunden betroffen waren. Ende Oktober 2022 hob das Strassenverkehrsamt des Kantons Wallis die Auflage gegen Andenmatten wegen des guten Verlaufs vorzeitig auf.
Der Präsident der Sektion Forensische Toxikologie und Chemie der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin Jochen Beyer sagt plädoyer, die EtG-Haaranalyse sei eine sehr zuverlässige Methode und habe sich deshalb als Standardverfahren für eine Langzeitüberwachung des Alkoholkonsumverhaltens etabliert. Er räumt jedoch ein, dass die EtG-Konzentration von der Entnahmestelle abhänge und dass äussere Faktoren den Wert senken oder erhöhen können. Senken könne sich der Wert etwa, wenn das Haar Chlor oder Wasserstoffperoxid (Bleichmittel) ausgesetzt ist. Erhöhen kann er sich laut Beyer, wenn jemand pflanzenbasierte Haarwasser verwendet. Auch die Wachstumsgeschwindigkeit und der Anteil nicht mehr wachsender Haare variiert je nach Person.
Bluttest liefert viel genauere Werte
Laut der hauseigenen Publikation «Caduceus Express» des Spitals Wallis in Sitten VD kann ein neuer Bluttest den Alkoholkonsum während der vergangenen zwei bis vier Wochen viel präziser nachweisen als die Haaranalyse. Bei dieser Methode wird das Blut auf Phosphatidylethanol (PEth) untersucht. Der Stoff entsteht in den Zellmembranen aus einem Teil des konsumierten Alkohols.
Seit Anfang 2019 wird im Wallis routinemässig neben dem EtG-Wert auch das PEth im Blut bestimmt. In den Jahren 2019 und 2020 kam es bei 281 Untersuchungen in 41 Fällen (14 Prozent) vor, dass der PEth nicht nachweisbar, EtG jedoch vorhanden war. Dann ist laut den Walliser Ärzten von einer Abstinenz in den vergangenen vier Wochen auszugehen. Umgekehrt ist es möglich, dass EtG nicht nachweisbar ist, PEth hingegen schon. Das war in den beiden Jahren bei 22 Personen so. Den Grund sehen die Ärzte darin, dass PEth schon bei einem Konsum von drei normalen Gläsern pro Woche nachweisbar sei, EtG erst ab rund 14 Standardgläsern.
Das wurde einer Frau aus dem Kanton Waadt zum Verhängnis. Bei ihr waren die EtG-Haaranalysen negativ, der PEth-Wert hingegen bei einer Kontrolle stark erhöht. Das Kantonale Strassenverkehrsamt verweigerte ihr deshalb die Rückgabe des Führerausweises, da sie die für ein halbes Jahr verordnete Abstinenz nicht eingehalten habe. Dagegen wehrte sie sich vor dem Kantonsgericht Waadt vergeblich. Dieses hielt mit Urteil CR.2018.0053 vom 6. März 2019 fest, mit der PEth-Blutprobe sei ein einmaliger Ausrutscher, anders als bei der Haaranalyse, nachweisbar.
Bern, Waadt und Wallis nutzen beide Tests parallel
Laut Jochen Beyer von der Gesellschaft für Rechtsmedizin entspricht es der aktuellen Begutachtungspraxis, nur das Haar auf EtG zu analysieren. Der Vereinigung der Strassenverkehrsämter ist nicht bekannt, ob ein Amt für die Abstinenzkontrolle neben der Haaranalyse auch Bluttests anordnet, wie sie plädoyer schreibt.
Nicht nur in den Kantonen Waadt und Wallis wird zusätzlich auf den PEth-Wert abgestellt. Im Kanton Bern wird der neue Bluttest laut dem Leiter der Abteilung Verkehrsmedizin Matthias Pfäffli seit ein paar Monaten parallel zur Haaranalyse durchgeführt.
Die Labore in der Schweiz nehmen laut Jochen Beyer an Ringversuchen der Society of Hair Testing teil, wo Proben einer Person gleichzeitig an mehrere Labore geschickt und die Resultate verglichen werden. Ein weiterer rein schweizerischer Ringversuch sei geplant. Von Fahrausweisentzügen Betroffene können nur hoffen, dass die Wissenschafter dabei zu Erkenntnissen gelangen, die zuverlässigere Resultate ergeben als bisher.