1. Rang: «Wichtige Weichenstellung in zwielichter Form vorgenommen»
Die dreiköpfige plädoyer-Jury hat ein Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts in Lausanne zum «Fehlurteil des Jahres 2020» erkoren. Es handelt sich um den Entscheid 4A_554/2019 vom 26. Oktober 2020.
Darin ging es um die Anfechtung des Anfangsmietzinses für eine 4,5-Zimmer-Wohnung im Bezirk Nyon wegen Missbräuchlichkeit. Im konkreten Fall betrug der monatliche Anfangsmietzins netto 2190 Franken und für zwei Einstellhallenplätze je 130 Franken. Das Waadtländer Mietgericht senkte die Wohnungsmiete aufgrund einer Berechnung der Nettorendite auf 900 Franken pro Monat, die Miete für die beiden Parkplätze auf je 50 Franken. Das Waadtländer Kantonsgericht bestätigte diesen Entscheid.
Die Vermieterin zog den Fall ans Bundesgericht weiter – mit Erfolg. Es legte den zulässigen monatlichen Mietzins der Wohnung auf 1390 Franken und der Parkplätze auf je 73 Franken fest. Mit seinem Entscheid änderte das Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung zur Berechnung der zulässigen Nettorendite der Vermieter. Erstens kann das investierte Eigenkapital neu zu 100 statt wie bisher zu 40 Prozent an die Teuerung angepasst werden. Zweitens darf der Ertrag den Referenzzinssatz um 2,0 Prozent statt wie bisher um 0,5 Prozent übersteigen, sofern der Referenzzinssatz 2,0 Prozent oder weniger beträgt.
Kurt Pärli, Professor an der Uni Basel, kritisiert, dass die Praxisänderung vom Bundesgericht nur ungenügend begründet worden sei. Der Entscheid sei stark politisch geprägt. Es werde nicht berücksichtigt, dass die Mieten seit 1990 um mehr als 40 Prozent gestiegen seien. Es sei auch nicht vollumfassend nachvollziehbar, weshalb die Grenze bei 2,0 Prozent gesetzt werden sollte.
Professorin Eva Maria Belser von der Uni Freiburg pflichtet ihm bei. Sie hält das Urteil sachlich und argumentativ für schlecht. «Das Bundesgericht schreibt im Entscheid, seine alte Praxis werde kritisiert.» Dafür nenne es einen einzigen Parlamentarier, nämlich Nationalrat Olivier Feller. Dieser werde im Urteil insgesamt drei Mal zitiert. Feller ist laut Belser Direktor der Waadtländer Immobilienkammer und Generalsekretär der Westschweizer Immobilienföderation. «Er hat im Parlament mehrere Vorstösse eingereicht: einen zur Entkoppelung des zulässigen Ertrags vom hypothekarischen Referenzzins und einen zur Teuerung.» Seine Vorstösse waren jedoch im Parlament nicht mehrheitsfähig. «Trotzdem folgt ihm das Bundesgericht fast blind und setzt beide politischen Forderungen mit schwacher rechtlicher Begründung um.» Eine enorm wichtige Weichenstellung sei damit auf undurchsichtige Weise vorgenommen worden. Das überrasche auch deshalb, weil der Bundesrat noch vor dem Urteil die Annahme einer Motion empfohlen habe, die ihn verpflichte, eine «ausgewogene Vorlage» zur Frage der Mietzinsgestaltung zu erarbeiten.
2. Rang: «Widersprüchliche Argumentation des Gerichts»
Der zweite Rang ging an die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts (Urteil 6B_1468/2019 vom 1. September 2020). Ein Teilnehmer einer nicht bewilligten Kundgebung war vom Berner Obergericht wegen Landfriedensbruchs verurteilt worden. Bei der Demo kam es zu Sachbeschädigungen und Sprayereien. Der Mann war von Überwachungskameras des Hotels Schweizerhof erfasst worden. Sie filmten damals illegalerweise den öffentlichen Raum. Das Obergericht wertete das öffentliche Interesse an der Tataufklärung höher als das Interesse des Mannes an der rechtskonformen Verwertung privater Videoaufnahmen. Die Lausanner Richter stützen diese Haltung.
Der Basler Strafrechtsprofessor Christopher Geth hält dazu fest: «Datenschutzrechtlich war diese private Aufnahme im öffentlichen Raum unzulässig.» Deshalb sei sie in einem Strafprozess nicht verwertbar – ausser als unerlässlicher Beweis zur Aufklärung schwerer Straftaten. Die entscheidende Frage, was eine schwere Straftat sei, habe das Bundesgericht bisher offengelassen. Dazu argumentiere das Gericht widersprüchlich: «Es führt zunächst aus, dass für die Definition einer schweren Straftat nicht die abstrakte Strafandrohung massgeblich ist, sondern die Schwere der konkreten Tat.» Später abstrahiere das Bundesgericht dann aber. Der Umstand, dass dem Beschwerdeführer keine Gewalttätigkeiten vorgeworfen worden seien und die Vorinstanz in Anwendung von Artikel 52 StGB sogar von einer Bestrafung absehe, scheine dann plötzlich keine Rolle mehr zu spielen. «Damit wird nun doch nicht mehr massgeblich auf das individuelle Verhalten abgestellt, sondern dem Tatbeteiligten das Verhalten der anderen gewalttätigen Demonstrationsteilnehmer prozessual entgegengehalten.»
Pärli und Belser pflichten ihrem Kollegen bei. Pärli ergänzt, die Problematik der Verwertung illegal erhobener Beweismittel stelle sich häufig auch in Sozialversicherungsverfahren. «Auch hier neigt das Bundesgericht dazu, bei der Interessenabwägung sehr rasch die Interessen der Versicherer an Missbrauchsbekämpfung höher zu gewichten als eine korrekt vorgenommene Informationsbeschaffung.»
3. Rang: «Solidarität sollte entkriminalisiert werden»
Der dritte Rang geht ebenfalls an die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts. Sie befasste sich im Urteil 6B_1162/2019 vom 30. Juni 2020 mit der Frage, ob die Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz 2018 illegal handelte. Sie hatte versucht, einen nach Italien ausgeschafften afghanischen Asylbewerber in die Schweiz zurückzubringen. Das Walliser Kantonsgericht verurteilte sie wegen Förderung der illegalen Einreise. Dagegen gelangte Lanz erfolglos ans Bundesgericht.
Geth beurteilt den Entscheid als im Ergebnis unbefriedigend. «Die betreffende Person benötigte unbestrittenermassen Hilfe.» Es sei nicht einfach gewesen, in Italien medizinische Hilfe zu erhalten. Aus humanitärer Sicht sei verständlich, dass Lanz Hilfe leistete. Problematisch sei weniger der Entscheid des Bundesgerichts, sondern dass der Gesetzgeber solidarisches Handeln unter Strafe stelle.
Das Urteil ist gemäss Belser sorgfältig redigiert. «Das Bundesgericht nutzt jedoch seinen Handlungsspielraum nicht aus.» Es hätte davon absehen können, Lanz die Prozesskosten von 3000 Franken aufzuerlegen. «Der zeitliche Druck war hoch. Diese Person war schon unterkühlt, als Lanz sie in Italien traf.» Laut Pärli hätte das Bundesgericht die Notstandsbestimmung grosszügiger auslegen können. Der Fall zeige, dass der Artikel betreffend Förderung der illegalen Einreise geändert werden müsse, «sodass Solidarität, wie sie Lanz geleistet hat – und wofür sie den Ehrendoktortitel der juristischen Fakultät der Universität Basel erhalten hatte –, entkriminalisiert wird».
Die Jury
Eine Jury aus Professoren kürt jeweils am Jahresende das Fehlurteil des Jahres. Basis sind rechtskräftige Entscheide des Jahres 2020, die der plädoyer-Redaktion von den Lesern vorgeschlagen wurden. Die Mitglieder der diesjährigen Jury: Eva Maria Belser, Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg, Christopher Geth, Professor für Strafrecht an der Universität Basel, und Kurt Pärli, Professor für Soziales Privatrecht an der Universität Basel.