Zum Jahrgang 2022 war sich die Jury rasch einig. Als «Fehlurteil des Jahres» kürte sie einen Entscheid der Ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts. Im Urteil 1B_535/2021 vom 19. Mai 2022 war die Verwertbarkeit von Daten auf dem Handy eines Beschuldigten umstritten. Die Polizei hatte bei einer Hausdurchsuchung sein Handy beschlagnahmt und ihn aufgefordert, das Passwort mitzuteilen. Dem kam der Beschuldigte nach. Im Entsiegelungsverfahren machte er ein Beweisverwertungsverbot geltend. Er sei von der Polizei nicht auf sein Mitwirkungs- und Aussageverweigerungsrecht hingewiesen worden. Zudem leide er an kognitiven Defiziten und sein Pflichtverteidiger sei bei der Hausdurchsuchung nicht anwesend gewesen. Das Passwort dürfe daher nicht verwendet werden.
Das Bundesgericht erachtete den Nemo-tenetur-Grundsatz nicht als verletzt. Danach muss sich kein Beschuldigter selbst belasten. Die Bundesrichter kamen zum Schluss, die Polizei dürfe bei einer Hausdurchsuchung Fragen stellen. Dabei handle es sich um keine Einvernahme. Die Polizei müsse den Beschuldigten deshalb nicht über seine Rechte aufklären. Sie dürfe das ihr angegebene Passwort somit verwenden.
Niklaus Ruckstuhl, Titularprofessor für Strafrecht, sagt dazu: «Das Urteil reiht sich ein in eine Rechtsprechung des Bundesgerichts, die sehr formalistisch argumentiert: Eine Einvernahme liege nur bei Einvernahmen vor Ort mit vorgängiger Vorladung vor.» In der Lehre sei hingegen klar, dass auch informelle Befragungen der Polizei eine Einvernahme darstellen können. Sie seien erst nach hinreichenden Belehrungen im Sinne der «Miranda-Warnings» zulässig (Information über das Recht der Beschuldigten, die Aussage zu verweigern). Ob eine Einvernahmesituation mit Belehrungspflicht vorliegt, muss laut Ruckstuhl danach entschieden werden, ob die Antworten auf die gestellten Fragen zu einer Selbstbelastung der befragten Person führen könnten. Das ist bei der Herausgabe des Zugangscodes eines Handys, aber auch für einen Computer oder für ein anderes elektronisches Speichermedium, praktisch immer der Fall. Ruckstuhl kritisiert: «Das Bundesgericht erfindet seine eigene Strafprozessordung.»
Franziska Sprecher, assoziierte Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht, ergänzt: «Der Entscheid ist eine Gefahr für die Zukunft.» Das ist eine Fehlentwicklung, die viele Personen betrifft, etwa auch Jugendliche oder Klimaaktivisten. Frédéric Krauskopf, Professor für Privatrecht an der Universität Bern, schliesst sich dieser Argumentation vollumfänglich an: «Strenge Beweisverwertungsverbote sind wichtig.»
Der zweite Rang geht an das Urteil 4A_315/2022 vom 13. Dezember 2022 der Zweiten zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts. Ein Arzt verletzte bei einer Nasenoperation die Hirnhaut des Patienten. Dieser forderte 45 000 Franken Schadenersatz. Das Regionalgericht BernMittelland sowie das Berner Obergericht gaben dem Patienten recht: Der Mann habe das Dokument, in dem auf diese Gefahr hingewiesen wurde, nicht unterschrieben. Der Arzt habe den Patienten nicht hinreichend über dieses Risiko aufgeklärt. Das Bundesgericht verneinte jedoch eine Haftung. Der Arzt habe zwar nicht nachgewiesen, dass er den Patienten über die Risiken mündlich aufgeklärt oder dass dieser das Merkblatt gelesen hatte. Doch der Patient hätte sich ja anhand des Merkblattes informieren können. Somit habe der Arzt seine Aufklärungspflicht nicht verletzt.
Die Jury kritisierte bei diesem Urteil vor allem die Vorgehensweise des Bundesgerichts. Frédéric Krauskopf: «Ein Arzt darf einen Patienten in der Regel nicht mit einem Merkblatt abspeisen.» Merkblätter enthielten in der Regel viel zu viele Informationen und seien für Laien zu technisch formuliert. «Der Arzt hat hier auf weitere Aufklärungen verzichtet.» Dies könne in Einzelfällen zulässig sein. Das Bundesgericht bleibe jedoch zu unklar, wieso dies im vorliegenden Fall zulässig gewesen sei soll.
Franziska Sprecher stimmt zu. «Selbst ein durch den Patienten unterzeichnetes Merkblatt ist nicht zwingend ein genügender Nachweis, dass der Arzt den Patienten vor einem Eingriff hinreichend über die Risiken informiert hat.» Die Lehre ist hier strenger. Der Entscheid setze sich jedoch nicht damit auseinander. «Das Urteil ist unnötig arztfreundlich und setzt ein falsches Signal.»
Auf dem dritten Rang landete ein Urteil der zivilrechtlichen Kammer des Kantonsgerichts Basel-Landschaft. Ein Paar aus Sissach unterlag mit einer Zivilklage vor dem Zivilkreisgericht Basel-Landschaft Ost. Die Ehefrau ist Juristin und reichte gegen das Urteil Beschwerde ein – kurz vor Fristablauf um Mitternacht des 14. September 2022 an einem My-Post-24-Automaten. Die Frau konnte dem Kantonsgericht nur die Kaufquittung für das Porto vorlegen, aber keine Versandquittung. Die Post bestätigte schriftlich die Aufgabe am 14. September 2022 und attestierte, dass die Aufgabebestätigung am Automaten wegen einer kurzfristigen technischen Störung nicht ausgedruckt worden sei. Dennoch beurteilte das Gericht die Eingabe als verspätet. Die Betroffene habe mit dem Etikettenkauf nicht belegen können, wann genau sie den Brief verschickt hatte. Die Bestätigung der Post sei nicht hinreichend, um die Aufgabe zu belegen (Urteil 400 22 186 vom 8. November 2022).
Frédéric Krauskopf erachtet das Urteil als «unnötig streng». Alle Umstände würden für eine fristgerechte Eingabe sprechen. Das Urteil falle allerdings nicht aus dem Rahmen. Denn es gelte: Der Versender trage das Beweisrisiko. Die effektive Postaufgabe sei zum Beispiel mit dem Poststempel nachgewiesen. Niklaus Ruckstuhls Kommentar: «Mein erster Gedanke war, das ist überspitzter Formalismus.» Es sei absurd. Die Post stelle eine Technik zur Verfügung – doch bei einer technischen Panne trage der Kunde das Risiko.
Franziska Sprecher fordert: «Je mehr wir zur digitalen Prozessführung wechseln, desto mehr müssen wir von dieser Risikoverteilung weg.» Könne eine Partei nur noch elektronische Eingaben einreichen, dürfe ihr das Risiko für eine technische Panne nicht auferlegt werden
Die Jury
Eine Jury kürt jeweils am Jahresende das Fehlurteil des Jahres. Basis sind rechtskräftige Entscheide des Jahres 2022, die der plädoyer-Redaktion von den Lesern für diese Auszeichnung vorgeschlagen wurden. Die Mitglieder der diesjährigen Jury:
- Frédéric Krauskopf, Professor für Privatrecht an der Universität Bern,
- Franziska Sprecher, Assoziierte Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht mit besonderer Berücksichtigung des Gesundheitsrechts an der Universität Bern,
- Niklaus Ruckstuhl, Titularprofessor für Strafrecht an der Universität Basel.