Verfahren gegen Krankenkasse ist kostenlos
Im Streit mit seiner Krankenkasse um eine Kostenbeteiligung bei der obligatorischen Krankenpflegeversicherung verpflichtete das Verwaltungsgericht des Kantons Zug den Versicherten, einen Kostenvorschuss von 400 Franken zu bezahlen, ansonsten das Verfahren abgeschrieben werde. Das Gericht begründete dies damit, dass es nicht um die Bewilligung oder die Verweigerung von Versicherungsleistungen gehe, weshalb nach Artikel 61 in Verbindung mit litera f bis ATSG eine Kostenpflicht gegeben sei. Falsch, meint das Bundesgericht. Bei der Frage, ob und in welcher Höhe sich eine versicherte Person an den Kosten der für sie vom Krankenversicherer erbrachten Leistungen zu beteiligen hat, handelt es sich um einen Versicherungsleistungsstreit. Bei solchen Streitigkeiten ist das Verfahren nur kostenpflichtig, wenn dies im Einzelgesetz vorgesehen ist. Das KVG enthält keine solche Regelung. Das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht ist deshalb kostenlos.
Bundesgericht 9C_13/2022 vom 16.2.2022
Fehlende Legitimation der Staatsanwaltschaft
Die Direktion der Strafanstalt Pöschwies verweigerte einem im vorzeitigen Vollzug befindlichen Mann aufgrund der Corona-Pandemie Besuche von Angehörigen. Das Amt für Justizvollzug schützte diesen Entscheid. Anders sah es das Zürcher Verwaltungsgericht. Es stellte fest, dass die komplette Verweigerung der erbetenen Besuche unrechtmässig war. Dagegen rief die Oberstaatsanwaltschaft das Bundesgericht an. Dieses hält nun fest, dass die Oberstaatsanwaltschaft für sanitarisch-medizinische Anordnungen betreffend Haftmodalitäten im vorzeitigen Strafvollzug nicht zuständig ist.
Bundesgericht 1B_304/2021 vom 1.3.2022
Unbelehrbarer Anwalt zur Kasse gebeten
Im Streit um den Bau einer Mobilfunkantenne in der Ausserrhoder Gemeinde Herisau hat das Bundesgericht den Entscheid der Vorinstanz bestätigt und sowohl die Gerichtskosten von 2000 Franken als auch die Parteientschädigung von 2000 Franken dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführer aufgebrummt. Laut dem Urteil aus Lausanne hätte der Anwalt schon bei Beachtung der elementarsten Sorgfalt die Aussichtslosigkeit des eingelegten Rechtsmittels feststellen können. Er war nämlich bereits im Urteil BGE 134 II 244 als Rechtsvertreter aufgetreten. Ihm musste deshalb bewusst sein, dass das Einreichen einer Beschwerdeschrift, die im Wesentlichen eine Kopie von Eingaben aus dem vorinstanzlichen Verfahren darstellt, rechtsmissbräuchlich ist. Auch das Obergericht hatte ihn auf diese Unzulässigkeit hingewiesen.
Bundesgericht 1C_115/2021 vom 4.3.2022
Kein Einblick für Journalisten in Dossiers der Crypto-Affäre
Drei SRF-Journalisten stellten im Oktober 2019 beim Bundesarchiv ein Gesuch um Zugang zu Dossiers im Zusammenhang mit der Crypto-Affäre. Der Nachrichtendienst des Bundes lehnte es aber ab, in allen Teilen Einsicht in die Dossiers zu gewähren. Das Bundesverwaltungsgericht hält fest, die Kontrollfunktion der Medien und ihre wichtige Rolle in einer demokratischen Gesellschaft als Bindeglied zwischen den Bürgern und dem Staat seien unbestritten. Im konkreten Fall rechtfertigte sich jedoch die Verweigerung der Einsicht aufgrund der überwiegenden öffentlichen und privaten Interessen. Die Gewährung des Zugangs könnte die Beziehungen der Schweiz zu ausländischen Staaten dauerhaft beeinträchtigen. Die Verweigerung erweise sich als verhältnismässig.
Bundesverwaltungsgericht A-5348/2020 vom 16.3.2022
Schäferhund darf definitiv beschlagnahmt werden
Die definitive Beschlagnahmung eines belgischen Schäferhundes durch das Aargauer Veterinäramt und ein Hundehalteverbot von mindestens fünf Jahren bleiben bestehen. Die Behörden werfen dem Eigentümer der Hündin vor, seine Aufsichtspflichten als Hundehalter verletzt und grundsätzliche Verhaltensgebote und -verbote der Tierschutzgesetzgebung missachtet zu haben. Der Hundehalter hatte sich Dritten gegenüber aggressiv verhalten und ihnen gedroht, er oder seine Hündin werde sie «kaputtmachen». Bei einer amtlichen Kontrolle war die Wohnung des Hundehalters unaufgeräumt und schmutzig, es roch nach Hundekot. Eine tierärztliche Untersuchung ergab, dass die Hündin im Abdomen einen Fremdkörper – Teil eines Hartgummispielzeugs – hatte. Sie musste operiert werden. Der Hundehalter, so das Fazit, sei nicht in der Lage, Hunde auf Dauer artgerecht und tierschutzkonform zu halten. Das Halteverbot und die Beschlagnahmung des Hundes sind deshalb verhältnismässig.
Bundesgericht 2C_222/2022 vom 16.3.2022
Justizöffentlichkeit auch bei Nichtanhandnahmeentscheid
Im Herbst 2020 reichte der freigestellte Heilmittelinspektor des Kantons Zug eine Strafanzeige gegen sechs Regierungsräte des Kantons ein. Die Staatsanwaltschaft nahm die Strafuntersuchung nicht an die Hand. In der Folge stellte ein Bürger ein Gesuch um Einsichtnahme in die Nichtanhandnahmeverfügung, was die Staatsanwaltschaft ablehnte. Das Obergericht schützte diesen Entscheid und erklärte, nicht rechtskräftige Urteile würden nicht vom Prinzip der Justizöffentlichkeit erfasst. Falsch, sagt das Bundesgericht. Auch bei nicht rechtskräftigen Nichtanhandnahmeverfügungen besteht ein Anspruch auf Einsichtnahme. Dieser Anspruch ist jedoch nicht absolut und kann insbesondere zum Schutz der Privatsphäre der Prozessbeteiligten verhältnismässig eingeschränkt werden. Der Fall geht zurück an die Zuger Staatsanwaltschaft. Sie muss prüfen, ob der Schutz der Privatsphäre der Einsichtnahme entgegensteht.
Bundesgericht 1B_103/2021 vom 4.3.2022
Fortsetzungsgefahr bei Betrüger bejaht
Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt führt seit Mitte 2017 gegen einen Mann eine Strafuntersuchung wegen Wirtschaftsdelikten in Millionenhöhe. Die Untersuchungshaft wurde mehrfach verlängert. Im Dezember 2021 hiess das Appellationsgericht eine Beschwerde des Mannes gut und verfügte die unverzügliche Entlassung aus der Untersuchungshaft. Eine dagegen eingereichte Beschwerde der Staatsanwaltschaft wiederum hatte vor Bundesgericht Erfolg: Aufgrund der Deliktsumme von mehreren Millionen Franken, der Schwere der zur Diskussion stehenden Straftaten (Anlagebetrug, Geldwäscherei, Urkundenfälschung etc.), der langjährigen deliktischen Laufbahn und der Vorstrafen wegen Körperverletzung sei eine erhebliche Sicherheitsgefährdung zu bejahen. Das Appellationsgericht hat das Vorliegen einer Fortsetzungsgefahr in bundesrechtswidriger Weise verneint.
Bundesgericht 1B_43/2022 vom 28.2.2022
Haftung des Eigentümers nach Arbeitsunfall
Ein Kundendiensttechniker stürzte bei Arbeiten an einem automatischen Tor einer Werkstatt in eine Arbeitsgrube für Pistenfahrzeuge und verletzte sich dabei. Das Bezirksgericht wies die Klage auf Schadenersatz und Genugtuung ab. Es befand, die fehlende Abdeckung der Arbeitsgrube stelle zwar einen Werkmangel nach Artikel 58 OR dar. Unmittelbarer Anlass des Sturzes sei jedoch nicht die Beschaffenheit der Grube, sondern das unachtsame Verhalten des Technikers gewesen. Er habe das Pistenfahrzeug zurückfahren lassen, das bei seinem Eintreffen die Grube bedeckte. Wegen groben Selbstverschuldens befreite das Gericht deshalb den Werkeigentümer von der Ersatzpflicht. Demgegenüber erwog das Walliser Kantonsgericht, das Selbstverschulden des Handwerkers sei nicht derart gravierend, dass dadurch der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Werkmangel und dem Schaden unterbrochen worden wäre. Es kürzte jedoch die Haftungsquote des Werkeigentümers auf 50 Prozent aufgrund von Artikel 44 Absatz 1 OR. «Auch wenn ein anderes Ergebnis denkbar wäre», widerspricht dieser Entscheid keineswegs dem Gerechtigkeitsgedanken, entschied das Bundesgericht.
Bundesgericht 4A_536/2021 vom 28.2.2022
Blosse Spekulation seitens der Thurgauer Justiz
Ein nach Artikel 6 EMRK und Artikel 30 BV verpönter Anschein der Befangenheit kann sich immer dann ergeben, wenn ein bestimmter Richter in einem früheren Verfahren mit einer konkreten Streitsache schon einmal befasst war. Bei der Kesb handelt es sich um ein Gericht im konventions- und verfassungsrechtlichen Sinn. Fall einer Beiständin, die gleichzeitig als Mitglied der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde einen Entscheid fällte. Es ist laut Bundesgericht unzulässig, aus prozessökonomischen Gründen auf eine Wiederholung eines mangelhaft durchgeführten Kesb-Verfahrens zu verzichten: «Ohnehin bleibt die Überlegung der Vorinstanz, wonach die Kesb auch bei ordentlicher Besetzung keinen anderen Entscheid in der Sache gefällt hätte, sich die unrichtige Besetzung des Gerichts mit anderen Worten nicht ausgewirkt habe, blosse Spekulation.»
Bundesgericht 5A_644/2021 vom 18.3.2022
Acht Monatslöhne für entlassene Professorin
2017 hatten sich mehrere Doktoranden der ETH Zürich bei der Ombudsstelle über das Verhalten einer Professorin beschwert. Sie warfen ihr respektloses und ungebührliches Verhalten vor. Eine Untersuchung ergab, dass die Vorwürfe im Kern zutrafen. Der ETH-Rat entliess die Professorin mit einer ordentlichen Kündigung. Dagegen beschwerte sich die Entlassene beim Bundesverwaltungsgericht. Die Richter in St. Gallen erachteten die Kündigung nicht als missbräuchlich, weil die Professorin durch ihren unakzeptablen Führungsstil wiederholt gesetzliche und vertragliche Pflichten verletzt hatte. Für den Vorwurf der Geschlechterdiskriminierung gab es keine Anzeichen. Trotzdem hat das Gericht der Professorin eine Entschädigung von acht Monatslöhnen zugesprochen, weil die Hochschule nicht rechtzeitig eingeschritten war und eine Mahnung ausgesprochen hatte.
Bundesverwaltungsgericht A-4744/2019 vom 6.4.2022
Weitere Lockerungen bei Überstellung nach Italien
Vor einiger Zeit entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass die Schweiz Familien mit minderjährigen Kindern wieder nach Italien überstellen kann, ohne vorgängig individuelle Zusicherungen bezüglich der Unterbringung einholen zu müssen. Dies, nachdem in Italien die Bestimmungen des «Salvini-Dekrets» weitgehend rückgängig gemacht wurden. In einem weiteren Referenzurteil hat nun das Gericht weitere Lockerungen vorgenommen: Auch bei Personen mit gravierenden Gesundheitsproblemen, die noch kein Asylgesuch in Italien gestellt haben, sind im Rahmen von sogenannten «Take-charge»-Überstellungen nach dem Dublin-Abkommen keine vorgängigen Garantien mehr einzuholen.
Bundesverwaltungsgericht D-4235/2021 vom 19.4.2022