Familiennachzug: Kürzere Wartefrist möglich
Vorläufig aufgenommene Personen müssen gemäss Artikel 85 des Ausländer- und Integrationsgesetzes drei Jahre warten, bis sie einen Antrag auf Nachzug von Familienangehörigen stellen können. Die Migrationsbehörden wendeten diese dreijährige Wartefrist bis anhin strikt an. Zwei eritreische Staatsangehörige – eine Mutter und ihr Sohn – beantragten wenige Monate nach ihrer vorläufigen Aufnahme in der Schweiz die Einreiseerlaubnis und den Einschluss in ihr vorläufiges Aufnahmerecht für den Ehemann und Vater. Das Staatssekretariat für Migration (Sem) wies den Antrag ab und verwies auf die Sperrfrist. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Sperrfrist aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte angepasst, das mehr als zwei Jahre mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens (Artikel 8 EMRK) unvereinbar bezeichnet. Neu muss das Sem kurz vor Ablauf einer zweijährigen Frist seit der vorläufigen Aufnahme den Einzelfall prüfen.
Bundesverwaltungsgericht F-2739/2022 vom 24.11.2022
Kuss gegen Willen der Ehefrau ist sexuelle Belästigung
Gemäss Artikel 198 Absatz 2 StGB macht sich der sexuellen Belästigung schuldig, wer jemanden tätlich oder in grober Weise durch Worte sexuell belästigt. Die Bestimmung erfasst geringfügigere Beeinträchtigungen der sexuellen Integrität. Liegt eine solche Belästigung vor, wenn ein Mann seiner Ehefrau nach einem Streit gegen ihren Willen einen Kuss auf den Mund gibt? Obwohl die Ehefrau den Kopf wegdrehte und so klar zum Ausdruck brachte, dass sie nicht geküsst werden will, hielt der Mann ihren Kopf fest und küsste sie auf den Mund. Die Verurteilung wegen der körperlichen Zudringlichkeit ist laut Bundesgericht zu Recht erfolgt.
Bundesgericht 6B_1048/2022 vom 10.11.2022
Opfermitverantwortung bei Finanzbetrug verneint
Eine Frau aus dem Kanton Bern lernte in den Ferien in der Türkei beim Beachvolleyballtraining einen Mann kennen, der sich als Anlageberater einer Bank ausgab. Die in finanziellen Angelegenheiten unerfahrene Frau erzählte ihrem Sportlerkollegen, dass sie durch ihre Scheidung unerwartet zu Geld gekommen sei, und stellte dem Mann 500 000 Franken für Investitionen zur Verfügung. Statt das Geld anzulegen, zahlte der Sportler seine Schulden zurück und verspielte das Geld an der Börse. Nach Ablauf der vereinbarten Investitionsdauer blieben der Anlegerin noch 13 Franken und 70 Rappen. Der wegen gewerbsmässigen Betrugs verurteilte Mann berief sich auf die Opfermitverantwortung. Es sei nicht sozialadäquat, 500 000 Franken einem flüchtigen Bekannten in blauäugigem Vertrauen zur Verwaltung zu überlassen. Für das Bundesgericht ist aber klar, dass der Mann das Vertrauensverhältnis und die Unerfahrenheit der Frau in finanziellen Angelegenheiten bewusst ausgenutzt und damit arglistig gehandelt hatte.
Bundesgericht 6B_310/2021 vom 5.10.2022
Unzulässige Werbung eines Anwalts
Die Zürcher Anwaltsaufsichtskommission hat einem Rechtsanwalt wegen mehrfacher Verletzung der Berufsregeln einen Verweis erteilt. Der im Kanton Zürich – und in einem weiteren Kanton – tätige Rechtsanwalt hatte sich im Internet, auf seinem Briefkopf und in seiner E-Mail-Signatur als «Rechtsanwalt und Öffentlicher Notar» bezeichnet, ohne explizit darauf hinzuweisen, dass er nur im andern Kanton, nicht aber im Kanton Zürich zur Ausübung der Notariatstätigkeit berechtigt ist. Gemäss Artikel 12 litera d des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte darf Werbung gemacht werden, solange sie objektiv bleibt und dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit entspricht. Das Bundesgericht hat die Disziplinarmassnahme unter anderem deshalb bestätigt, weil der Anwalt den irreführenden Eindruck erweckte, er sei auch im Kanton Zürich zur Erbringung von Notariatsleistungen berechtigt.
Bundesgericht 2C_985/2021 vom 16.11.2022
Besondere Skrupellosigkeit eines Räubers
Eine vorsätzliche Tötung ist als Mord zu qualifizieren, wenn die Art der Tatausführung aussergewöhnlich grausam ist oder wenn dem Opfer mehr physische oder psychische Schmerzen, Leiden und Qualen zugefügt werden, als mit einer Tötung ohnehin verbunden sind. Fall eines Räubers, der in eine Villa eingedrungen war, um Geld oder Wertgegenstände zu entwenden. Als er auf die hochbetagte Wohnungsinhaberin traf, schlug er sie heftig und fesselte sie mit Wäscheleinen und Schnüren. Er verliess das Haus ohne Beute und liess das schwer verletzte Opfer verschnürt zurück, um seine Flucht zu sichern. Die Verletzungen führten nach etwa ein bis zwei Stunden, in denen das Opfer durch die Fesselung auch an Sauerstoffmangel litt, zu einem Herzversagen aufgrund einer schweren Lungenfettembolie und damit zum Tod der Frau. Der Täter hat den Tod des Opfers in Kauf genommen, die Verurteilung wegen Mordes erfolgte zu Recht.
Bundesgericht 6B_1073/2022 vom 11.11.2022
Corona-Pandemie rechtlich ein einziges Ereignis
Ein Gastrobetrieb mit verschiedenen Filialen in der Schweiz hatte bei einer Versicherung einen Vertrag abgeschlossen, der das Risiko «Epidemie» einschloss. Die Versicherung zahlte dem Gastrobetrieb bei der Covid-19-Pandemie den vereinbarten Betrag von 500 000 Franken für Lohnkosten, Warenschäden und Unterbrechungsschäden. Der Gastrobetrieb forderte aber 1,5 Millionen Franken, da mit jeder behördlichen Anordnung des Bundesrates ein neues versichertes Ereignis ausgelöst worden sei. Sowohl das Zürcher Handelsgericht als nun auch das Bundesgericht haben die Klage des Gastrobetriebes abgewiesen. Es handle sich nur um ein versichertes Ereignis.
Bundesgericht 4A_303/2022 vom 17.10.2022
Fristlose Entlassung nach Verstoss gegen Treuepflicht
Ein Sachbearbeiter bei der Eidgenössischen Zollverwaltung war zuständig für die von Mitarbeitern zurückgegebenen dienstlich genutzten Smartphones und Tablets. Er hatte diese Geräte zu entsorgen oder der Wiederverwendung durch andere Mitarbeiter zuzuführen. Als der Vorgesetzte mitbekam, dass der Mann ein Smartphone im Internet für 250 Franken verkauft hatte, kam es zur fristlosen Entlassung. Der Sachbearbeiter wehrte sich dagegen und forderte 13 Monatslöhne Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung. Es handle sich um eine Rachekündigung, weil er seinen Vorgesetzten kritisiert habe. Dem Bund sei kein Schaden entstanden, das Gerät sei zur Entsorgung bestimmt gewesen. Laut Bundesverwaltungsgericht war die fristlose Entlassung gerechtfertigt, weil der Sachbearbeiter schwerwiegend gegen die Treuepflicht verstossen hatte. Eine Verwarnung war nicht geboten.
Bundesverwaltungsgericht A-514/2022 vom 19.12.2022
Mobilfunkinitiative in Herisau bundesrechtswidrig
Vor bald drei Jahren reichte ein Komitee bei der Gemeindekanzlei Herisau SG die Volksinitiative «Stopp dem Wildwuchs von Mobilfunkantennen» ein. Diese sieht vor, dass neue Mobilfunkanlagen nur noch erstellt werden dürfen, wenn sie zwingend notwendig sind, um ein Funkloch zu beheben – also nur noch dort, wo bisher keiner aller möglichen Anbieter einen zufriedenstellenden Empfang anbieten kann. Die Initiative ist bundesrechtswidrig. Denn in einem Gebiet, wo ein Anbieter einen Empfang ermöglicht, wären alle anderen Anbieter von einer Neuerstellung ausgeschlossen. Ein wirksamer Wettbewerb zwischen den Mobilfunkbetreibern wäre faktisch ausgeschlossen, was gegen Artikel 1 Absatz 2 litera c Fernmeldegesetz verstösst. Die Initiative widerspricht auch der bundesrechtlichen Versorgungspflicht, die «zuverlässige und qualitativ hochstehende Fernmeldedienste» verlangt.
Bundesgericht 1C_49/2022 vom 21.11.2022
Unzulässig begründete Kürzung des Honorars
Die Zürcher Justiz kürzte das Honorar des amtlichen Verteidigers von 7500 Franken auf 5000 Franken. Gund: Im Berufungsverfahren sei nur die Sanktion ein Thema gewesen, das Plädoyer habe aber zu einem Grossteil theoretische Ausführungen aus der Lehre enthalten, die nicht zu entschädigen seien. Das Bundesgericht räumt ein, dass Kürzungen zulässig sind, wenn Ausführungen irrelevant oder redundant sind oder eine Fülle Einzelheiten elementaren Grundwissens enthalten. Im konkreten Fall ist laut dem Urteil aus Lausanne aber nicht nachvollziehbar, welche Zeitaufwendungen sachfremd oder übertrieben sein sollen. «Bei den in der Honorarnote detailliert aufgelisteten Angaben wäre eine klare Bezeichnung der entsprechenden Positionen möglich gewesen.» Es sei das volle Honorar auszurichten.
Bundesstrafgericht BB.2021.154 vom 29.11.2022
Folgen der Missachtung der Maskenpflicht
Ein Autolenker hatte gegen eine Busse der Staatsanwaltschaft Einsprache erhoben. Im Rahmen der Vorladung für die Verhandlung wurde er auf die allgemeine Maskenpflicht hingewiesen. Als der Mann bei der Loge des Gerichtsgebäudes eintraf, wurde ihm der Einlass verweigert, weil er keine Maske anziehen wollte und auch kein Arztattest vorweisen konnte oder wollte. Die Gerichtspräsidentin machte den Mann mehrfach darauf aufmerksam, dass er für die Durchführung der Hauptverhandlung eine Maske tragen muss, «andernfalls er der Hauptverhandlung unentschuldigt fernbleibe und folglich die Einsprache als zurückgezogen gelte». Da der Mann hinreichend über die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens in einer ihm verständlichen Weise belehrt worden war, durfte die Vorinstanz auf ein Desinteresse am weiteren Strafverfahren schliessen.
Bundesgericht 6B_324/2022 vom 16.12.2022
Kein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft
Die Strafprozessordung sieht in Artikel 222 vor, dass eine verhaftete Person gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts über die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft Beschwerde erheben kann. Ein entsprechendes Beschwerderecht für die Staatsanwaltschaft sieht die StPO nicht vor. 2011 erkannte das Bundesgericht auf ein Versehen des Gesetzgebers und billigte der Staatsanwaltschaft ein Beschwerderecht zu. Bei der aktuellen Revision der StPO (voraussichtliches Inkrafttreten Anfang 2024) hat sich der Gesetzgeber in Kenntnis der höchstrichterlichen Praxis nun gegen ein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft ausgesprochen. Konsequenz: Das Bundesgericht kommt in einem neuen Grundsatzurteil zum Schluss, dass die bisherige Praxis aufzugeben ist und der Staatsanwaltschaft kein Beschwerderecht mehr zukommt.
Bundesgericht 1B_614/2022 und 1B_628/2022 vom 10.1.2023