Seit Einführung der eidgenössischen Zivil- und Strafprozessordnung (ZPO und StPO) ist das Prozessrecht in diesen beiden Rechtsgebieten in der Schweiz weitgehend vereinheitlicht worden. Allerdings ist die Gerichtsorganisation, also die Zusammensetzung der einzelnen Gerichtsinstanzen, weiterhin Sache der Kantone.1 Für das schweizerische Bundesgericht galt bereits vor der Einführung der ZPO und StPO ein eigenständiges Bundesgerichtsgesetz.2
Da auch diese beiden Rechtsgebiete von Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)3 unter den Begriffen «zivilrechtliche Ansprüche» beziehungsweise «strafrechtliche Anklage» erfasst werden, untersucht dieser Beitrag die Übereinstimmung der Zuständigkeitsregelungen mit der EMRK.
1. Vorgaben der EMRK
Zurzeit umfasst die EMRK insgesamt 47 Mitgliedstaaten. Ausser dem Vatikan und Weissrussland sind sämtliche Staaten in Europa der EMRK beigetreten. Der Vatikan unterhält keine diplomatischen Beziehungen zu anderen Staaten und wird durch den Heiligen Stuhl vertreten, weshalb auch ein Beitritt zur EMRK bzw. zum Europarat entfällt. Immerhin hat der Heilige Stuhl einen Beobachterstatus im Ministerkomitee des Europarates. Gleiches gilt für den Kosovo, der ebenfalls einen Beobachterstatus innehat. Weissrussland ist seit 1993 Beitrittskandidat zum Europarat. Ein Beitritt bedingt die Anerkennung der EMRK.
Mit der Unterzeichnung und Ratifizierung der EMRK haben sich die Mitgliedstaaten nach Art. 1 – abgesehen von allfälligen Vorbehalten zum Zeitpunkt der Ratifizierung – verpflichtet, die in der EMRK garantierten Rechte und Freiheiten jeder Person in ihrem Hoheitsgebiet zu gewährleisten. Auch die Schweiz ist dahingehend verpflichtet. Die von der Schweiz bei Unterzeichnung der EMRK angebrachten Vorbehalte bezüglich Art. 6 sind zurückgezogen worden.4
Bestandteil der von der EMRK garantierten Rechte und Freiheiten ist unter anderem Art. 6 EMRK in seiner Ausprägung als Anspruch «auf einem auf Gesetz beruhendem Gericht». Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) wird darunter «das Recht auf Verhandlung der Rechtssache durch ein auf Gesetz beruhendes, unabhängiges und unparteiliches Gericht verstanden. Es statuiert zugleich eine rechtsstaatliche Organisationsgarantie des Staats, eine Gerichtsorganisation auf gesetzlicher Grundlage einschliesslich Regelungen zur Zusammensetzung des Gerichts und seiner Zuständigkeiten zu schaffen.»5 Die gesetzliche Grundlage muss ausserdem für jeden Fall eindeutig sein, klare Sicherungen für Objektivität und Transparenz enthalten und jeglichen Eindruck von Willkür bei der Zuweisung der Fälle vermeiden.
An der Eindeutigkeit und Klarheit fehlt es aber, wenn ein Gerichtspräsident über einen weiten Spielraum bei der Verweisung eines Falls an einen anderen Richter verfügt.6 Die Festlegung der Zusammensetzung durch die Exekutive oder im Ermessen der Justizorgane ist konventionswidrig. Derartige Einflussnahmen auf die Besetzung berühren auch die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Spruchkörpers, da objektiv nicht erkennbar ist, ob er gegen Einflussnahme von aussen noch hinreichend geschützt ist.7 Zusammengefasst in einem Satz aus dem Urteil des EGMR in Sachen Gurov gegen Republik Moldau: «Die Phrase ‹auf Gesetz beruhend› deckt nicht nur die Gesetzesgrundlage für die Existenz eines ‹Gerichts›, sondern auch die Zusammensetzung der Bank im jeweiligen Fall ab.» 8
Wie die Mitgliedstaaten die Besetzung der Gerichte schliesslich organisieren, überlässt der EGMR aus Rücksicht auf nationale Besonderheiten den Vertragsstaaten.9 Weiter statuiert Art. 6 keinen Instanzenzug, jedoch ist dieser Artikel auch im Instanzenzug anwendbar.10
2. Regelung der Bundesverfassung
Das in Art. 30 der Bundesverfassung (BV)11 enthaltene Grundrecht auf den «gesetzlichen Richter» ist nach schweizerischer Auffassung weniger streng. So genügt für Art. 30 BV nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts, wenn «der Abteilungsvorsitzende den Spruchkörper auch bei einer nicht vorhandenen generell-abstrakten Regelung nach objektiven Kriterien und pflichtgemässen Ermessen besetzt». Kritische Stimmen finden sich allerdings hierzu in der Lehre.12 Die Besetzung des Gerichts braucht zudem nicht von Amtes wegen stets im Voraus bekanntgegeben zu werden, denn die ordentliche Besetzung wird angesichts der Möglichkeit der Konsultation von Staatskalendern oder Internet grundsätzlich als bekannt vorausgesetzt.13 Alles in allem hat das Bundesgericht – soweit ersichtlich – bislang sämtliche Rügen eines Verstosses gegen Art. 6 EMRK abgewiesen.14
Das Bundesgericht hat vor kurzem ein zur Publikation bestimmtes Urteil zur Vereinbarkeit der bundesgerichtlichen Bestimmungen mit Art. 6 EMRK gefällt.15 Es kommt in Erwägung 2.3 zum Schluss, dass die EMRK «einer ‹aktiven›, mithin nicht bloss auf Zufall basierenden Zusammensetzung des Spruchkörpers nicht entgegensteht, solange diese gesetzlich geregelt ist und auf sachlichen Kriterien beruht». Hierbei übersieht das Bundesgericht indes, dass – wie vorstehend dargetan – die Festlegung der Zusammensetzung durch die Justizorgane konventionswidrig ist. Ein Zufallsprinzip wie beispielsweise ein Lossystem würde den Vorgaben aus Art. 6 EMRK bereits genügen.16
3. Offensichtliche Diskrepanz
Es ist also bereits an dieser Stelle zu erkennen, dass zwischen den Vorgaben der BV und den Vorgaben der EMRK eine Diskrepanz dahingehend besteht, dass die Vorgaben von Art. 6 EMRK offensichtlich strenger sind als die von Art. 30 BV.
Bislang vertritt das schweizerische Bundesgericht den Standpunkt, dass völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz der Bundesverfassung vorgehen und dass sich das Bundesgericht an die sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergebenden Vorgaben weiterhin zu halten hat (vgl. Art. 190 BV).17 Aus Art. 1 EMRK ergibt sich eine gleichlautende direkte Verpflichtung für alle Konventionsstaaten, die Konventionsrechte zu gewährleisten. Massgebend sind die in der EMRK und den Protokollen, soweit sie der Konventionsstaat ratifiziert hat, garantierten Rechte und Freiheiten. Sie sind zu lesen in der Gestalt, die sich in der Rechtsprechung des EGMR entwickelt hat.18
4. Verfahrensrecht Bundesgericht
Auch das Verfahrensrecht für das schweizerische Bundesgericht genügt den Vorgaben von Art. 6 EMRK möglicherweise ebenfalls nicht – soweit das Bundesgericht in einer zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Angelegenheit urteilt. Der jeweilige Abteilungspräsident wirkt grundsätzlich selber bei allen Entscheiden mit. Nach der Gesetzgebung wählt der Abteilungspräsident nach Art. 22 Bundesgerichtsgesetz (BGG) in Verbindung mit Art. 16 Abs. 3 und Art. 40 Bundesgerichtsreglement (BGerR) den Referenten für das jeweilige Verfahren direkt aus. Der Abteilungspräsident bezeichnet zudem gemäss Art. 32 BGG den Instruktionsrichter, wobei der Abteilungspräsident vor allem das sprachliche Kriterium berücksichtigt, aber auch zum Beispiel besonderen Kenntnissen der einzelnen Richter und anderen Kriterien entsprechend Art. 40 Abs. 2 BGerR Rechnung trägt. Das dritte mitwirkende Mitglied wird sodann durch einen Zufallsgenerator bezeichnet, ebenso bei Fünferbesetzung (Art. 20 Abs. 2 und 3 BGG) die weiteren Mitglieder, soweit sich diese nicht (bei Abteilungen mit fünf Mitgliedern) automatisch ergibt. Vorbehalten ist eine aushilfsweise Mitwirkung von Richtern anderer Abteilungen (Art. 40 Abs. 5 BGerR).19
Es stellt sich somit die Frage, ob das bisherige System beim Schweizerischen Bundesgericht den Vorgaben der EMRK genügt. So ist die Auswahl des Referenten weitgehend dem freien Ermessen des jeweiligen Abteilungspräsidenten vorbehalten. Ob bereits eine 2:1-Beteiligung von nicht zufällig ausgewählten Gerichtspersonen gegen Art. 6 verstösst, wäre jedenfalls dort unter dem Schlagwort «angreifbares Verfahren»20 zu prüfen. Ebenfalls ist der aktuellen Gesetzeslage nicht zu entnehmen, auf welche gesetzliche Grundlage sich die Verwendung einer EDV-Applikation stützt. Zwar wurde die Applikation im Jahre 2012 und 2013 bei allen Abteilungen des Bundesgerichts eingeführt.21 Jedoch ist auch die Verwendung eines Computers zwecks (zufälliger) Auswahl einer Gerichtsperson heikel. Der EGMR verlangt nämlich für eine Art. 6 EMRK genügende Regelung, dass diese transparent und klar sein muss.
Die Frage der «Transparenz» war vom deutschen Bundesverfassungsgericht in Bezug auf Wahlcomputer aus verfassungsrechtlicher Sicht beurteilt worden. Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Verwendung eines Wahlcomputers eine Transparenz nicht gewährleiste.22 Es ist also nicht auszuschliessen, dass der EGMR die Frage der Transparenz vom gleichen Ansatz her prüfen und zum gleichen Ergebnis gelangen könnte. Selbst wenn die Besetzung des Spruchkörpers beim Bundesgericht mittels des Programms «Comp Cour» den Vorgaben der EMRK genügen würde, verbleibt die Frage, ob eine konventionswidrige Zusammensetzung bei einem kantonalen Gericht durch das Bundesgericht geheilt werden könnte. Der EGMR hält eine Heilung zwar grundsätzlich für möglich,23 sofern das letzturteilende Gericht mit der gleichen Kognition wie die Vorinstanz urteilt.24 Da das Bundesgericht im Vergleich zu den kantonalen Instanzen über beschränkte Kognition verfügt, dürfte eine Heilung eher nicht in Betracht kommen.
5. Regelungen der Kantone
In den Kantonen ist die Situation – bis auf einige Ausnahmen – noch heikler, werden die Verfahren doch regelmässig freihändig durch die Abteilungspräsidenten zugeteilt und dann je nach Kanton auch noch die mitwirkenden Mitglieder direkt ausgewählt. So wird beispielsweise am Obergericht des Kantons Bern die Zusammensetzung des Spruchkörpers gestützt auf die Art. 44 und 45 des Gesetzes über die Organisation der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft (nachfolgend: GSOG/BE)25 durch den Abteilungspräsidenten vorgenommen. In der Zivilabteilung soll hierfür eine von der Sekretariatsleitung bewirtschaftete Excel-Tabelle verwendet werden. Eingehende Fälle würden auf der Basis eines Vergleichs der Soll- und Ist-Zuteilungen dem Gerichtsmitglied mit der grössten Negativdifferenz zur Instruktion zugeteilt. Die Oberrichterinnen und Oberrichter seien an der Zuteilung nicht beteiligt. In der Verwendung dieser Excel-Tabelle erblickte das Bundesgericht indes keinen Verstoss gegen Art. 6 EMRK.26
In Strafverfahren kommt neben der Frage der Gesetzmässigkeit des jeweiligen Gerichts ein weiterer Aspekt hinzu. Nach der aktuellen Rechtslage ist gemäss Art. 337 StPO die Staatsanwaltschaft nicht grundsätzlich verpflichtet, an einer Hauptverhandlung zu erscheinen. In den Kommentierungen zur StPO wird dies dahingehend thematisiert, dass die Abwesenheit der Staatsanwaltschaft eine Gefahr für die Unparteilichkeit des Gerichts darstellen könnte.27 Die Abwesenheit der Staatsanwaltschaft könnte bei der Einvernahme wichtiger Zeugen eine Verletzung von Art. 6 EMRK begründen.28 In einer gleichen Gesetzeslage wurde Russland gleich mehrmals aufgrund der Abwesenheit der Staatsanwaltschaft während der Hauptverhandlung wegen eines Verstosses gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund fehlender Unparteilichkeit des Gerichts verurteilt.29 Damit dürfte eine Entscheidung in Abwesenheit des Staatsanwalts gegen Art. 6 EMRK verstossen.
6. Mögliche Lösungen
Welche Lösungsmöglichkeiten bestehen nun bei der aktuellen Rechtslage? Selbstverständlich wäre eine Option, die gesetzlichen Bestimmungen in eine der EMRK genügende Form zu bringen. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, entsprechend einer politischen Bestrebung aus der EMRK auszutreten. Welche Folgen hätte jedoch ein Austritt aus der EMRK für die Schweiz? In diesem Fall würde die Schweiz aus dem Europarat ausgeschlossen, was gerade auch aussenpolitisch schwerwiegende Folgen haben dürfte. Hinsichtlich der weiteren Folgen, welche sich bei einem Ausschluss aus dem Europarat ergäben, ganz zu schweigen.
Bleibt schliesslich noch die in der Politik vorgeschlagene Vorgehensweise, einzelne Urteile des EGMR nicht anzuerkennen. Das hierfür ins Feld geführte Argument, dass dies bei dem vorbildlichen Mitglied nicht so dramatisch wäre, hinkt schon alleine deshalb, weil sich ein «Vorbildmitglied» gerade dadurch auszeichnet, die gegen sich ergangenen Urteile zu befolgen.
Würde die Schweiz nun aber tatsächlich einige Urteile nicht umsetzen, wäre Folgendes zu beachten: Die Umsetzung der Urteile des EGMR wird nach Art. 46 EMRK vom Ministerkomitee überwacht. Erst wenn ein Urteil nach seiner Meinung durch den verurteilten Staat hinreichend umgesetzt wurde, wird das Dossier geschlossen. Wenn sich ein Staat kategorisch weigert, ein (oder mehrere) Urteil(e) anzuerkennen, könnte gegen den Staat zunächst neben «Interim Resolutions» auch die Aussetzung des Stimmrechts im Europarat beschlossen werden.30 Die EMRK enthält in Art. 46 Abs. 4 und 5 EMRK zudem eine Vorschrift, nach der ein sich weigernder Staat erneut durch den EGMR verurteilt werden kann. Der dadurch ausgeübte politische Druck sei ausreichend, um den betroffenen Staat zur Urteilsbefolgung zu veranlassen.31 Bislang ist jedoch noch nie ein Mitgliedstaat der EMRK auf diese Weise ein zweites Mal gerügt worden. Schliesslich bestünde auch die Möglichkeit, dass andere Mitgliedstaaten eine Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK gegen den säumigen Staat einleiten, was ebenfalls negative Folgen für den Ruf und das Vertrauen in den betroffenen Staat hätte.32
Allerdings sind diese Massnahmen und die Folgen eines Nichtbefolgens der Urteile des EGMR allesamt auf politischer Ebene zu verorten. Es gibt diesbezüglich jedoch einen viel weitreichenderen und folgenschwereren Effekt, wenn die Schweiz aus der EMRK austreten oder einzelne Urteile schlicht nicht befolgen würde. Die Schweiz ist neben der EMRK auch in zahlreichen anderen internationalen Abkommen Mitglied. Zu erwähnen wäre beispielsweise das Lugano-Übereinkommen. In strafrechtlicher Sicht besteht beispielsweise das Europäische Auslieferungsabkommen.
7. Auswirkungen auf Schweizer Urteile
Würde die Schweiz nach einer erfolgreichen Abstimmung entweder aus der EMRK austreten oder wäre sie kein verlässlicher Partner hinsichtlich der Anerkennung von Urteilen des EGMR mehr, hätte dies auch für in der Schweiz ergangene Urteile weitreichende Folgen. So sind nämlich Urteile von Staaten, die nicht für die Mindestgarantien der EMRK Gewähr bieten, durch einen Mitgliedstaat der EMRK innerstaatlich zur Vollstreckung nicht anzuerkennen.33 Beim Anspruch auf ein unabhängiges und unparteiliches Gericht handelt es sich um ein fundamentales Recht mit essenzieller Bedeutung.34 Nach der Rechtsprechung des EGMR ist eine Auslieferung von einem Mitgliedstaat in einen anderen Staat dann nicht zulässig, wenn dort ein schwerwiegender Verstoss gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK zu befürchten ist.35
Bislang kann sich ein Mitgliedstaat der EMRK darauf beschränken, bei der Prüfung der Vollstreckbarkeit festzustellen, dass das anzuerkennende Urteil in einem Staat ergangen ist, der Mitgliedstaat der EMRK ist.36 Würde dieser Anspruch bei den Urteilen aus der Schweiz entfallen, wären Urteile aus der Schweiz im Geltungsbereich des Lugano-Übereinkommens oder der EMRK im schlimmsten Fall nicht mehr ohne Weiteres vollstreckbar. Die Folgen wären für die Schweiz nicht abzuschätzen. In Bezug auf den Nichtmitgliedstaat Weissrussland ist beispielsweise eine Auslieferung deshalb nicht erfolgt, weil die Justiz in Weissrussland keine Garantie für Minimalstandards an Rechtsstaatlichkeit belegen konnte.37
Ob dies im Falle eines Austritts der Schweiz aus der EMRK auch einträte, ist nicht vorhersehbar. Ein solches Risiko besteht indes offenkundig.
Schliesslich findet sich auch die Meinung, dass die Schweiz die EMRK künden könnte, um sodann sofort wieder der EMRK beizutreten und bei dieser Gelegenheit einen Vorbehalt anzubringen. Abgesehen davon, dass ein solches Vorgehen als Rechtsmissbrauch unzulässig wäre,38 wäre auch ein solcher unbestimmter und generell gehaltener Vorbehalt ohnehin nicht wirksam.39 Eine Motion wurde denn auch im Jahre 2016 zurückgezogen.40
Was ist also aus der rechtlichen Situation hinsichtlich des «gesetzlichen Richters» zu folgern? Die Schweiz befindet sich im Falle der Annahme der Selbstbestimmungsinitiative in einem Dilemma, entweder die EMRK entsprechend dem Volkswillen zu kündigen und dadurch unvorhersehbare Folgen für den Standort Schweiz in Kauf nehmen zu müssen oder im Falle der Annahme den Volkswillen zu übergehen und die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine konventionskonforme Gesetzgebung zu schaffen. Beides ist nicht wünschenswert.
Es bleibt zu hoffen, dass die Abstimmung zu dem Ergebnis führt, dass die Mitgliedschaft zur EMRK durch ein deutliches Votum bestätigt wird, damit im Anschluss an die Abstimmung durch die Befürworter der EMRK eine EMRK-konforme, «auf Gesetz beruhende» Gerichtsorganisation erlassen werden kann. Bei der aktuellen Rechtslage besteht nämlich das Risiko, dass die derzeitige Richterzuteilung durch den EGMR ständig gerügt wird.
Vgl. Art. 4 der Schweizerischen Zivilprozessordnung (SR 272) und Art. 14 der Schweizerischen Strafprozessordnung (SR 312.0).
Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17.6.2005, SR 173.110.
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950, SR 0.101.
Arthur Haefliger / Frank Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl., Bern 2014, S. 46.
Ulrich Karpenstein / Franz Mayer (Hrsg.), EMRK Kommentar, 2. Aufl., München 2015, Art. 6, N 40.
Lydia Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 EMRK, Berlin 2015, S. 36 f.
Karpenstein / Mayer, a.a.O., N 42.
Urteil 36455/02 des EGMR
vom 11.6.2006 in Sachen Gurov c. Moldawien, Ziffer 35.
Karpenstein / Mayer, a.a.O., N 42a.
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Urteil 64962/01 des EGMR
vom 18.5.2010 in Sachen Ozerov c. Russland, Ziffer 57.
Urteil 8139/09 des EGMR vom 17.1.2012 in Sachen Othman c. Grossbritannien
Paulina Ptak, Der Europäische Vollstreckungstitel und das rechtliche Gehör des Schuldners, Tübingen 2014, S. 50.
Beschluss 1 Ausl 30/07 des Oberlandsgerichts Zweibrücken vom 29.4.2009 = NStZ 2008,
641 (Leitsatz).
BGE 118 Ia 473, E. 7c/cc; Meyer-Ladewig / Nettesheim /
von Raumer, a.a.O., Art. 58 N 2; Karpenstein / Mayer, a.a.O.,
Art. 58 N 4.
Meyer-Ladewig / Nettesheim /
von Raumer, a.a.O., Art. 57 N 6; Karpenstein / Mayer, a.a.O.,
Art. 57 N 10.
Vgl. Motion 14.4248 von Luzi Stamm «Kündigung der EMRK und sofortiger Wiederbeitritt mit Vorbehalt» vom 12.12.2014.