Die «Fürsorgerische Unterbringung» ist eines der heikelsten Instrumente der Schweizer Rechtsordnung. Das euphemistische Wort und die etwas umständlich formulierte Gesetzesbestimmung vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, worum es sich bei der Fürsorgerischen Unterbringung letztlich meistens handelt: um eine Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik. Um einen Freiheitsentzug, der für die Betroffenen nicht selten mit traumatischen Erlebnissen verbunden ist. Auch das Bundesamt für Gesundheit spricht von einer «sehr sensiblen Thematik».
Die Fürsorgerische Unterbringung wurde 2013 mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht eingeführt und löste die «Fürsorgerische Freiheitsentziehung» ab. Geändert hat sich vor allem die Terminologie – die Voraussetzungen für eine Anordnung blieben grundsätzlich dieselben. Seit dem Jahr 2016 publiziert das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) die wichtigsten Eckdaten auf seiner Website. 2019, im letzten Jahr vor der Coronapandemie, wurden in der Schweiz 14 561 Fürsorgerische Unterbringungen angeordnet. Die Rate der Zwangseinweisungen pro 1000 Einwohner beträgt 1,68 (siehe Kasten). Im internationalen Vergleich ist die Rate gemäss älteren Studien hoch.
Rechtsanwälte und Vertreter von Gesundheitsorganisationen kritisieren seit Jahren, dass Fürsorgerische Unterbringungen viel zu oft angeordnet werden: «Sie werden eben nicht als Ultima Ratio eingesetzt, wie es eigentlich dem Sinn des Gesetzes entsprechen würde», sagt Roger Staub, Geschäftsleiter von Pro Mente Sana, einer Stiftung, die sich für psychisch beeinträchtigte Menschen einsetzt.
Tatsächlich schreibt Artikel 426 ZGB vor, dass eine Fürsorgerische Unterbringung erst verfügt werden darf, wenn «die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann». Weitere Voraussetzungen sind das Vorliegen einer psychischen Störung, einer geistigen Behinderung oder einer schweren Verwahrlosung.
Grosse Unterschiede zwischen den Kantonen
Das Zivilgesetzbuch regelt nur die Grundzüge des Verfahrens. Alle weiteren Bestimmungen fallen in die Hoheit der Kantone. Ein Flickenteppich, den einige Anwälte scharf kritisieren: «In den Nullerjahren kam der Gesetzgeber zum Schluss, das Straf- und Zivilprozessverfahren zu vereinheitlichen. Ausgerechnet im Bereich der Fürsorgerischen Unterbringungen existieren jedoch nach wie vor 26 verschiedene kantonale Verfahrensordnungen», sagt Rechtsanwalt Adriano Marti aus Saland ZH, der regelmässig Betroffene vertritt. Gerade vor dem Hintergrund der regelmässig schweren Grundrechtseingriffe dürfe es nicht sein, dass die Regelung des Verfahrens den einzelnen Kantonen überlassen bleibe. Martis Kollege Roger Burges, Rechtsanwalt in St. Gallen und ebenfalls Vertreter zahlreicher Zwangseingewiesener, sagt dazu: «Die Unterschiede im Umgang mit Fürsorgerischen Unterbringungen sind zwischen einzelnen Kantonen grösser als der Unterschied zwischen der Schweiz und der Türkei, wenn es um die Anwendung der EMRK geht.»
Nicht nur Psychiater können einweisen
Ein wichtiger Unterschied liegt etwa in der Bezeichnung der Personen, die eine Fürsorgerische Unterbringung anordnen können: Im Kanton Basel-Stadt zum Beispiel sind es lediglich die Ärzte des zuständigen kantonalen Dienstes. Im Kanton Zürich hingegen können sämtliche zugelassenen Ärzte eine Zwangseinweisung anordnen. «Es könnte also sein, dass jemand bei einem Besuch beim Augenarzt auffällig wird und dieser die Person dann in eine psychiatrische Klinik einweist», erklärt Roger Staub von Pro Mente Sana. Dass auch psychiatrisch nicht qualifizierte Ärzte einen derart schweren Eingriff in die persönliche Freiheit vornehmen dürfen, hält er für falsch. «Die Anforderungen sollten höher sein. Zumindest sollten die Verantwortlichen regelmässig an Evaluationen und Supervisionen teilnehmen und ihre Arbeit reflektieren.»
Auch der Winterthurer Rechtsanwalt Jürg Gassmann, der Betroffene, Angehörige, aber auch Institutionen in Fragen der Fürsorgerischen Unterbringung berät, hält eine Eingrenzung des Kreises der Einweisungsberechtigten für sinnvoll: «In Basel-Stadt, wo nur bestimmte Ärzte Fürsorgerische Unterbringungen verfügen dürfen, ist die Unterbringungsrate tiefer als in Zürich, wo jeder Arzt einweisen darf», sagt er. Hinzu komme: «Die Ärzte entscheiden bei der Einweisung nach medizinisch-psychiatrischen Kriterien. Die juristische, grundrechtliche Perspektive fehlt.» Entweder müssten bei der Zwangseinweisung also zwingend Anwälte beigezogen werden. Oder dann müssten die verantwortlichen Ärzte zumindest über juristische Zusatzkenntnisse verfügen. «Dass aber Ärzte ohne juristische Ausbildung jemandem für mehrere Wochen die Freiheit entziehen können, wie es aktuell die Praxis ist, ist europaweit wohl einmalig», sagt Gassmann.
Nur wenige Betroffene sind vertreten
Wird ein Betroffener in eine Klinik eingewiesen, kommt es zu einem Eintrittsgespräch. «Es gibt Leute, die werden danach umgehend entlassen», sagt Rechtsanwalt Roger Burges. Falls nicht, wird den Betroffenen eine formelle Verfügung ausgehändigt. Sie kann innert zehn Tagen gerichtlich angefochten werden. Auch bei einem negativen Entscheid haben Betroffene jederzeit die Möglichkeit, ein Entlassungsgesuch zu stellen. Dieses wird von den Klinikverantwortlichen, später vom zuständigen Gericht, beurteilt.
Möglichkeiten, sich gegen eine Fürsorgerische Unterbringung zu wehren, sind für die Betroffenen also vorhanden – zumindest theoretisch. In der Praxis wüssten nur die wenigsten Betroffenen über ihre Rechte Bescheid. «Es ist oft zufällig, ob jemand durch die Verantwortlichen über die Beschwerdemöglichkeiten aufgeklärt wird», sagt Roger Staub. Ein Eindruck, den die Rechtsanwälte Gassmann und Burges teilen – und der auch durch Zahlen gestützt wird.
So wurden im Kanton Zürich 2019 gemäss Obsan-Erhebung 3341 Fürsorgerische Unterbringungen angeordnet. Der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz belegt bezüglich Anzahl angeordneter Fürsorgerischer Unterbringungen pro Kopf landesweit einen der Spitzenplätze. Von Bezirksgerichten überprüft wurden nur 532 Fälle, wie dem Rechenschaftsbericht des Zürcher Obergerichts entnommen werden kann.
Roger Burges schätzt die Quote der anwaltlich vertretenen Eingewiesenen auf rund 20 Prozent. Genauerere Zahlen zur Frage, bei wie vielen Zwangseinweisungen ein Anwalt beigezogen wurde, fehlen. Eine Stichwortsuche auf der Website des Bundesgerichts fördert unter den Begriffen «Fürsorgerische Unterbringung» 418 Ergebnisse zu Tage. Ergänzt man die Suche um die Worte «vertreten durch» kommt man auf 119 Ergebnisse. Dies würde bedeuten, dass von 418 Personen, die wegen einer Zwangseinweisung ans höchste Gericht der Schweiz gelangen, lediglich 119 anwaltlich vertreten sind – also ein Viertel.
Auf den Verlauf eines Verfahrens hat die Frage der anwaltlichen Vertretung einen entscheidenden Einfluss: «Wenn jemand auf sich allein gestellt ist und dazu noch unter dem Einfluss von Medikamenten steht, ist die Durchsetzung seiner Rechte für ihn viel schwieriger als für eine anwaltlich vertretene Person», sagt Burges. Sein Fazit: «Eine Kontrolle der Fürsorgerischen Unterbringung durch einen Anwalt wäre genauso wichtig wie nach einer Verhaftung.» Auch seine Kollegen Marti und Gassmann würden ein obligatorisches Prüfverfahren und ein anwaltliches Pikettsystem wie in Strafverfahren begrüssen.
Der Verein Psychex kümmerte sich lange Zeit um den Rechtsschutz von Leuten, die in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen wurden. Das Bundesamt für Sozialversicherungen strich dem Verein jedoch vor fünfeinhalb Jahren die zuvor gesprochenen Mittel. Der Nachfolgeverein Psychexodus führt weiterhin eine Liste mit 250 Anwälten, die von Betroffenen angerufen werden können.
Ebenfalls zurückgreifen können Eingewiesene auf ein Angebot der Pro Mente Sana: Diese verfügt über einen Pool an Vertrauenspersonen – nicht gleichzusetzen mit Rechtsvertretern, die von Eingewiesenen beigezogen werden können. Auch auf diese Möglichkeit würden die Betroffenen von den Kliniken aber zu selten hingewiesen, sagt Pro-Mente- Sana-Geschäfsleiter Roger Staub.
Rolle der Kesb beschäftigt Strassburg
Eine Fürsorgerische Unterbringung endet nach spätestens sechs Wochen automatisch, wenn bis dann kein vollstreckbarer Entscheid der Erwachsenenschutzbehörde vorliegt – die so genannte behördliche Unterbringung. Diese kann vor einem Gericht angefochten werden.
In der Rolle der Erwachsenenschutzbehörden sieht Rechtsanwalt Adriano Marti einen weiteren gravierenden Unterschied zwischen den Kantonen. Im Thurgau zum Beispiel ist die Erwachsenenschutzbehörde nicht nur nach sechs Wochen für die behördliche Überprüfung einer Fürsorgerischen Unterbringung zuständig, sie ist auch Beschwerdeinstanz gegen eine Zwangseinweisung. Sie nimmt damit also die Rolle ein, die in anderen Kantonen den erstinstanzlichen Gerichten zukommt. «Niemand kann als Verwaltungsbehörde behördliche Verlängerungen anordnen und gleichzeitig Beschwerden gegen diese Anordnung neutral beurteilen», sagt Marti. Er sieht durch diese Regelung im Kanton Thurgau den in der EMRK festgeschriebenen Anspruch auf einen unabhängigen Richter verletzt. Das Bundesgericht war allerdings anderer Meinung. Einen entsprechenden Entscheid zog Marti an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg weiter. Die Klage ist dort pendent.
“Fliessbandartiges Abnicken”
Auch in Fällen, in welchen der Anspruch auf einen unabhängigen Richter nicht in Zweifel gezogen wird, ist von Anwälten seit Jahren Kritik zu hören: Zwischen Klinikärzten, Richtern und gerichtlich beigezogenen Gutachtern bestehe oft eine zu grosse Nähe. Entscheide über die Aufrechterhaltung von Fürsorgerischen Unterbringungen würden von einem eingespielten «Team» meist fliessbandartig abgenickt, die Weichen schon in der informellen Vorbesprechung gestellt. Das beobachtet auch der Winterthurer Rechtsanwalt Stefan Blum, der seit Jahrzehnten Betroffene vertritt. Er habe schon oft «leer geschluckt», als er mitbekommen habe, wie salopp gewisse Gutachten ausgefertigt wurden. «Der Begriff ‹Gutachten› ist in diesem Kontext zu hoch angesetzt», so Blum.
Anwalt Jürg Gassmann beobachtet, dass Gerichte oft jene Psychiater als Gutachter aufbieten, die zeitlich am besten verfügbar sind: «Und das sind nicht immer die besten – im Gegenteil.» Übereinstimmend bemängeln Gassmann und Pro-Mente-Sana-Geschäftsführer Staub, dass es in der Schweiz zu wenig ambulante psychiatrische Angebote gibt, aber zu viele Betten in Kliniken. «Die Kantone geben für diese stationären Plätze viel Geld aus – und was man bezahlt, will man auch möglichst gut nutzen», sagt Gassmann. Staub ergänzt: «Ohne Fürsorgerische Unterbringungen hätten die Kliniken Überkapazitäten.» Was diese Argumentation suggeriert, ist brisant: Die Schwelle für die Anordnung von Fürsorgerischen Unterbringungen sei deshalb so niedrig, weil man die stationären Überangebote der Kliniken ausnutzen wolle.
Weniger Klinikplätze dank ambulanten Angeboten
Erich Seifritz, Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) Zürich, weist diese Argumentation zurück. «Es stimmt einfach nicht, dass Fürsorgerische Unterbringungen regelrecht generiert werden, um die Kliniken zu füllen», sagt er. In die Zürcher Klinik treten rund 30 Prozent der Patienten gestützt auf eine Zwangseinweisung ein. Diese würden aber meist rasch aufgehoben und in freiwillige Aufenthalte umgewandelt. Der Bettenbedarf sei auch ohne FU-Patienten hoch. Seifritz: «Wir haben keinerlei Interesse, dass Personen gegen ihren Willen in die Klinik eingewiesen werden oder dort bleiben.» Die Behandlung solcher Personen sei schwierig. Und: «Es sind nicht die Ärzte der PUK, die Fürsorgerische Unterbringungen anordnen.»
Den Ruf nach mehr ambulanten Behandlungen kann Seifritz aber nachvollziehen. Die Zürcher Uniklinik habe jüngst einen Paradigmenwechsel vollzogen: Patienten werden öfter von Teams zu Hause aufgesucht und nach einem Plan behandelt. Das gilt als stationäre Behandlung – ausserhalb der Klinik. «Dieses Modell erlaubte uns bereits die Reduktion von 21 Klinikbetten», so Seifritz.
Laut dem Direktor ist der Anteil an Fehlzuweisungen zumindest in seine Klinik klein. Er steht mit der grundsätzlich positiven Sicht auf den Umgang mit Fürsorgerischen Unterbringungen nicht allein da. Auch Rechtsanwalt Stefan Blum sagt, dass er mit der Praxis überwiegend gute Erfahrungen gemacht habe. «Die Akzeptanz gegenüber uns Rechtsvertretern ist in den letzten Jahren gestiegen», sagt er. Zwar könnten Anwältinnen und Anwälte aktiver informiert und eingesetzt werden. «Aber das Bewusstsein, dass der Rechtsschutz für Betroffene wichtig ist, wurde geschärft.»
Roger Burges beurteilt das System ebenfalls als weitgehend funktionierend – zumindest im Kanton Zürich. Aber etwa in der Innerschweiz sei die Praxis «katastrophal». Im Kanton Zug zum Beispiel herrsche seit dem Attentat von Friedrich Leibacher auf den Kantonsrat ständige Alarmstimmung. «Jede noch so blöde Bemerkung kann zur Anordnung einer FU führen», so Burges. Auch andernorts mache ihm die Tendenz Sorge, die Fürsorgerische Unterbringung zunehmend bei angeblichen Fremdgefährdungen anzuwenden. «Auf Fremdgefährdungen sollte nicht mit Zwangseinweisungen, sondern mit den Instrumenten des Strafrechts reagiert werden», sagt Burges.
Bund will genauer hinschauen
Auf Bundesebene ist man zum Schluss gekommen, dass der Umgang mit Fürsorgerischen Unterbringungen in der Schweiz ein näheres Hinsehen verdient. Laut Lea Pucci vom Bundesamt für Gesundheitwesen wurden «aufgrund der Relevanz und der Sensibilität des Themas» unabhängig von einem parlamentarischen Auftrag zwei Projekte lanciert: Zum einen vergab das Amt ein Mandat, um Daten zur Fürsorgerischen Unterbringung genauer zu erheben. Ziel ist auch, sie national zu vergleichen. Zum anderen gab das Bundesamt für Justiz eine grössere Evaluation zur Fürsorgerischen Unterbringung in Auftrag. Damit soll die «Wirksamkeit des gesamten Regelungskomplexes» unter die Lupe genommen werden – also auch einige umstrittene kantonale Regelungen. Der Bericht soll laut Pucci «im Laufe des kommenden Jahres» abgeschlossen werden.
Schaffhausen ist bei den Zwangseinweisungen Spitzenreiter
Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium publiziert seit 2016 die vom Bundesamt für Statistik erhobenen Daten zu Fürsorgerischen Unterbringungen in Schweizer Spitälern. Landesweit wurden 2019 insgesamt 14 561 Zwangseinweisungen angeordnet. Das entspricht einer Rate von 1,68 Personen pro 1000 Einwohner. 2018 betrug die Zahl der Fälle 13 708 und die Rate 1,6, ein Jahr zuvor 14 234 und 1,66.
Erhoben wird auch, welche Altersgruppen am stärksten davon betroffen waren: Von 2016 bis 2019 war dies stets die Gruppe der über 80-Jährigen, deren Rate pro 1000 Einwohner immer über 3,4 lag. Gefolgt wurde sie von der Gruppe der 19- bis 34-Jährigen, deren Rate lag bei der letzten Auswertung 2019 bei 1,99.
Weiter werden die Kantone verglichen. Am meisten Zwangseinweisungen gab es in den letzten beiden Jahren im Kanton Schaffhausen. Es folgt der Kanton Zürich, 2017 war er noch Spitzenreiter. Die hintersten Plätze wurden im Jahr 2019 in absteigender Reihenfolge von den Kantonen Wallis, Nidwalden und Appenzell Innerrhoden belegt.