Selbstmorde sind in der Schweiz mehr als an der Tagesordnung. Allein im Jahr 2017 nahmen sich 1043 Personen das Leben. Dies zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik. Das sind 1,2 Personen pro 10 000 Einwohner.
In Gefängnissen war die Selbstmordquote im gleichen Jahr aber noch viel höher. Dort begingen im gleichen Jahr 10,1 Menschen pro 10 000 Insassen Suizid. In absoluten Zahlen waren es 7 Inhaftierte, die mit ihrem Leben Schluss machten.
In früheren Jahren lag die Suizidrate im Freiheitsentzug teilweise sogar noch höher: 2006 zum Beispiel nahmen sich 14 Gefangene das Leben – die Rate war damit fast 16 Mal höher als in Freiheit. Die Zahlen des Bundesamts zeigen auch: In einigen Jahren kam es hinter Gittern gar zu mehr Selbsttötungen als zu natürlichen Todesfällen – so letztmals 2014 mit sechs natürlichen Todesfällen und neun Freitoden. Die natürlichen Todesfälle erfolgten vor allem im Strafvollzug, die meisten Suizide in U-Haft: 2010 waren es sechs von sechs, 2015 neun von zehn und 2017 fünf von sieben.
Die Rechtsmedizinischen Institute und das Bundesamt für Gesundheit untersuchten im Bericht «Suizidprävention in der Schweiz» 50 Gefängissuizide zwischen 2000 und 2010. Resultat: 49 betrafen Männer, nur einer eine Frau. Zwischen 2003 und 2018 waren nur fünf bis sechs Prozent der Inhaftierten weiblichen Geschlechts. Es kommt bei Männern also verhältnismässig zu mehr Selbsttötungen als bei Frauen. Das gilt aber auch in Freiheit: 2017 zum Beispiel brachten sich 773 Männer und 270 Frauen um.
Die jüngste vom Europarat veröffentlichte Umfrage zur Gefängnisbevölkerung in Europa zeigt: Die Schweiz bewegte sich bei Selbsttötungen im Freiheitsentzug 2017 im europäischen Durchschnitt. Höher war die durchschnittliche Suizidrate zum Beispiel in Frankreich und Österreich, niedriger war sie in Italien und Norwegen (siehe Tabelle im PDF). Wie in der Schweiz waren die Inhaftierten, die Suizid begingen, meist noch nicht rechtskräftig verurteilt worden.
Der Schock der Inhaftierung kann destabilisieren
Weshalb sind die Suizidraten in Haftanstalten so hoch? Experten sind unterschiedlicher Meinung. Der Strafvollzugsexperte Benjamin Brägger führt die hohe Suizidrate hinter Gittern darauf zurück, dass eine Inhaftierung eine Person psychisch destabilisiere. «Sie führt stets zu einem sogenannten Inhaftierungsschock.» Der Inhaftierte sei von einem Moment auf den anderen von der Umwelt isoliert und habe nur noch wenig Aussenkontakt. Zudem wisse er nicht, wie lange die Haft dauern werde.
Zu Suiziden kommt es laut Brägger aber nicht nur im Affekt.Für die hohe Rate seien auch sogenannte Bilanzsuizide verantwortlich: Erkenne ein Gefangener, was er angerichtet habe, könne dies dazu führen, dass er mit dieser Situation nicht mehr weiterleben wolle. Daniel Fink, Lehrbeauftragter für Kriminalistik und Kriminalpolitik an der Universität Luzern, ergänzt: «Suizide ereignen sich auch kurz nach der Verurteilung – etwa bei besonders langen Strafen.»
Laut Thomas Noll vom Justizvollzug des Kantons Zürich gibt es im Freiheitsentzug spezifische Risikofaktoren – wie etwa Persönlichkeitsstörungen. «Dies wird bei 50 Prozent der Inhaftierten diagnostiziert.» Weitere Risikofaktoren seien der tiefe soziale Status sowie das männliche Geschlecht.
Laut Fink gibt es unter den Inhaftierten auch mehr Personen mit sozialen Problemen, wie etwa Alkohol- oder Drogensucht, und psychischen Erkrankungen als in der Gesamtbevölkerung. Gemäss dem ehemaligen Strafrechtsprofessor Martin Killias würden Daten aus der Schweiz und England zeigen, dass Straftäter generell sehr hohe Suizidraten haben – in Freiheit gar noch höhere als im Gefängnis, wo weniger Gelegenheiten zum Suizid bestehen würden.
Der Staat hat gegenüber Inhaftierten eine Fürsorgepflicht (Artikel 75 Absatz 1 StGB). Er muss deren Gesundheit und Wohlergehen schützen. Doch was wird konkret unternommen, um die Zahl der Suizide in Haft zu vermindern? Laut Brägger wird das Aufsichts- und Betreuungspersonal während der Grundausbildung am Schweizerischen Kompetenzzentrum für Justizvollzug umfangreich geschult: «Dazu gehört auch die Suizidprävention.» Selbstmordgefährdete Insassen würden in Kliniken verlegt oder besonders betreut. Gemäss Noll wird in den Gefängnissen alles getan, um Affektsuizide zu verhindern.
Die meisten Suizide geschehen wie aufgezeigt in U-Haft. Daher ist es vor allem wichtig, diese Phase der Haft für Inhaftierte erträglicher zu machen. Patrick Cotti, Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für den Justizvollzug, verweist auf «Mehrphasenmodelle für die Untersuchungshaft» in einigen Kantonen, die gerade in Vorbereitung sind. Diese sollten die besondere psychische Belastungssituation der Inhaftierten in dieser Phase berücksichtigen.
Laut Noll hat die Zürcher Justizdirektorin ein Projekt lanciert, das zur Verbesserung der Bedingungen in U-Haft führen sollte. «Insbesondere sollen die Kontaktmöglichkeiten der Untersuchungshäftlinge zur Aussenwelt verbessert werden.» Laut Brägger könnte die Suizidrate in der Untersuchungshaft gesenkt werden, wenn die Isolierung der Gefangenen wegen der Kollusionsgefahr vermieden werden könnte. «Dazu muss die Staatsanwaltschaft als Verfahrensleiterin Hand bieten, was leider selten der Fall ist.»
“Einzelfälle werden nicht hinreichend berücksichtigt”
Die Solothurner Strafverteidigerin Eveline Roos findet die hohe Selbstmordrate in den Gefängnissen besorgniserregend. «Die Zahlen sprechen nicht dafür, dass der konkrete Einzelfall hinreichend berücksichtigt wird.» Der Basler Strafverteidiger Niklaus Ruckstuhl ergänzt: «Wenn der Staat jemanden in Untersuchungshaft setzt, beansprucht er ihn über das übliche Mass hinaus und verlangt ein Sonderopfer von ihm.» Daraus erwachse ihm eine besondere Fürsorgepflicht. «Er hat alles zu tun, um negative Auswirkungen auf den Betroffenen zu vermeiden oder zumindest zu minimieren, denn der Betroffene hat nach wie vor als unschuldig zu gelten.»
Der Basler Strafverteidiger Alain Joset plädiert generell dafür, Untersuchungshaft viel weniger häufig anzuordnen. Auch sei das Regime der Untersuchungshaft in der Schweiz sehr streng ausgestaltet. «Dadurch wird seitens der Ermittlungsbehörden bewusst versucht, Druck auf den Gefangenen auszuüben und ihn wenn möglich zu einem Geständnis zu bewegen.» Für Verhaftete gelte die Unschuldsvermutung und der Eingriff in die Grundrechte müsse sich auf ein Minimum beschränken.
Der Zürcher Strafverteidiger Thomas Heeb pflichtet ihm bei. Die Untersuchungshaft sollte sich an den Lebensbedingungen in Freiheit orientieren. «Jede Einschränkung dieser Freiheit sollte konkret und im Einzelfall begründet werden müssen.» Heeb kennt die effektivste Massnahme gegen Suizide in der Untersuchungshaft: «Die Zwangsmassnahmengerichte müssten die Haftanträge der Staatsanwaltschaft strenger prüfen und deshalb weniger häufig Haft anordnen.»
“Gruppenaufenthalt sollte die Regel sein”
Ruckstuhl hat Verbesserungsvorschläge: Selbsttötungen im Gefängnis könnten durch den Einsatz von mehr Personal, bessere Schulung des Personals und vermehrte Gespräche mit den Häftlingen zur Erkennung von Krisen reduziert werden.
Der Luzerner Strafverteidiger Heinz Ottiger verlangt weiter, Untersuchungshäftlinge wenn immer möglich nicht in Arrestzellen der Polizei einzusperren. «Zudem sollten Gruppenaufenthalte und Aussenkontakte auch in der Untersuchungshaft nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein.» Roos weist auf einen wichtigen Punkt hin: «Gefangene haben keine Lobby, Todesfälle im Gefängnis werden von den Medien nicht oder nur am Rande beachtet.» Die Rechtsanwältin fordert, dass jeder einzelne Suizid im Gefängnis unabhängig untersucht wird, «und zwar nicht von Staatsanwälten und Kantonsärzten, sondern von unabhängigen Experten».