Vor kurzem schneite es im Oberengadin, die malerische Landschaft präsentiert sich im prachtvollen Winterkleid. Gleichzeitig ist es bitterkalt. Das Thermometer zeigt in Samedan GR Minusgrade im zweistelligen Bereich an. Dennoch ist Franziska Preisig schnell auf Betriebstemperatur, wenn sie über sich und ihr Schaffen erzählt. Sie ist sich Kälte gewohnt, seit sie sich vor 15 Jahren hier niederliess.
Die 49-jährige Juristin ist so etwas wie der hartnäckigste Stachel im Fleisch der Mächtigen im Oberengadin, diesem Hochtal, das sich über knapp 40 Kilometer von Maloja bis S-chanf erstreckt.
Schon früh hatte sich Preisig in schwierigem Umfeld zu behaupten gewusst: Sie wuchs als älteste von fünf Geschwistern in einer Bauernfamilie in Herisau AR auf. «Unser Hof war gepachtet, wir waren abhängig von der Eigentümerin», erinnert sie sich. Sie habe damals zwei wichtige Lektionen gelernt: «Wer besitzt, der befiehlt. Und wenn man sich in der Gesellschaft nicht über Materielles definieren kann, muss man sich seinen Platz auf andere Weise erkämpfen.»
Mit 16 begann Preisig mit dem Lehrerseminar in Kreuzlingen (TG). Sie musste jobben, um sich die Ausbildung finanzieren zu können. Das tat sie als Skilehrerin im Oberengadin. Es war eine Tätigkeit, die sie insgesamt 22 Jahre lang ausüben sollte.
Juristische Feuertaufe und Genickbruch
Im Alter von 21 Jahren besass sie das Lehrerdiplom. Preisig wollte aber nicht gleich in die Berufswelt einsteigen, sondern Jus studieren. Das machte sie zuerst in Freiburg, dann in Bologna in Italien. In der Hochsaison tauschte sie die Gesetzbücher und Kommentare jeweils gegen Helm und Stöcke ein und unterrichtete Skischüler an den Hängen Celerinas. Im Engadin lernte sie auch ihren Partner, einen Zürcher, kennen und absolvierte ihr erstes juristisches Praktikum beim Samedaner Notar und Rechtsanwalt Josi Battaglia. Dieser will sich auf Anfrage von plädoyer nicht zu Franziska Preisig äussern.
Das hat womöglich damit zu tun, dass sich Preisig noch als Praktikantin bei Battaglia aufs politische Minenfeld begab. Ein Kollege hatte ihr ein vermeintlich harmloses «Jöbli» angeboten. Tatsächlich drehte sich dieses um ein heisses Eisen: Es ging um eine regionale Zweitwohnungsinitiative, die den Bau von Zweitwohnungen einschränkte.
Das Anliegen war von der Bevölkerung angenommen worden, die Verantwortlichen der betroffenen Gemeinden wollten die Initiative jedoch nicht umsetzen. Es kam zum Rechtsstreit, den Preisig für die Initianten gewann. «Das war in der Juristerei meine Feuertaufe – und hier im Oberengadin gleichzeitig mein Genickbruch», erinnert sie sich. Denn beim lokalen «Filz» sollte sie fortan Persona non grata sein.
«Ich spüre hier einen sehr rauen Wind», sagt Preisig auf die Frage, weshalb sie das Anwaltspatent nicht erworben habe. Weiter darauf eingehen will sie nicht.
Heute arbeitet sie als Dozentin an der Academia Engiadina, einer privat geführten, aber öffentlich finanzierten Institution, zu der die Höhere Fachschule für Tourismus gehört. Die Mutter von vier Kindern unterrichtet allgemeine Rechtslehre und Tourismusrecht. Daneben ist sie als selbständige Juristin tätig.
Preisig ist Teil der «Oberengadiner Opposition». Diese sei «klein, aber sehr effizient» und vertrete ungefähr einen Drittel der Bevölkerung, sagt sie. Eines ihrer Gefässe ist das «Forum Engadin», ein Verein, der sich unter anderem stark für den Naturschutz engagiert. Im Vorstand sitzt neben Preisig auch Reto Caflisch, Rechtsanwalt in Zürich und Samedan. Er beschreibt seine Kollegin als «engagierte, gradlinige Person, die den Mut hat, sich als Frau und linke Politikerin zu exponieren». Das setze im Oberengadin eine «dicke Haut» voraus.
2008 gründete Preisig die freie Liste «libera» mit, die damals bei den Parlamentswahlen im Kreis Oberengadin überraschend erfolgreich abschneiden sollte. Und als knapp zehn Jahre später über Olympische Winterspiele in der Region diskutiert wurde, gehörte Preisig wieder zu den kritischen Stimmen. Sie lernte Vertreter der Bündner SP kennen und trat auf deren Werben hin der oberengadiner Sektion bei.
Linke Exotin im bürgerlichen Milieu
Als Sozialdemokratin sollte sie in einer Region mit fast ausschliesslich freisinnigen Gemeindepräsidenten erst recht eine Exotin sein. Ihr Schritt zahlte sich dennoch aus: 2018 wurde sie als SP-Vertreterin in den Grossen Rat des Kantons Graubünden gewählt.
Preisigs juristische und politische Kämpfe sind mit den Jahren nicht einfacher geworden. Vor bald sechs Jahren wurden im Kanton Graubünden die Kreise abgeschafft. «Für das Oberengadin bedeutete dies einen massiven Verlust an Demokratie», so Preisig. Denn das Gebiet sei seither politisch nicht mehr als zusammenhängende Einheit organisiert, es gebe nur noch die einzelnen, kleinen Gemeinden: «Die grossen, wichtigen Themen betreffen aber stets die ganze Region.» Seit die Kreise abgeschafft wurden, wird über eben diese Themen in unübersichtlichen, überkommunalen Konstrukten ohne politische Kontrolle diskutiert.
Ein Beispiel ist der Flugplatz Samedan. Für diesen ist ein komplizierter Zusammenschluss namens Infra verantwortlich. Preisig erfuhr «hintenrum», dass der Flugplatzausbau plötzlich 88 statt der von den Stimmbürgern genehmigten 22 Millionen Franken kosten solle. Die Gründe dafür sind nebulös.
An einer Informationsveranstaltung mussten die Infra-Verantwortlichen – darunter die Oberengadiner Gemeindepräsidenten und Aviatikunternehmer – einräumen, dass es für die hochtrabenden Pläne keine Bedarfsanalyse gebe. Es war Franziska Preisig, die nachgebohrt hatte.
Ihre Beliebtheit im Tal gesteigert hat auch diese Episode nicht. Die Ablehnung spüre sie teilweise offen, sagt Preisig: «Doch auch hinter den Kulissen wird viel ge- mischelt im Engadin.» Aufgrund ihres Flugplatzengagements setzten Exponenten der Lokalpolitik jüngst gar auf Preisigs Arbeitgeberin Druck auf.
Über einen Wegzug habe sie durchaus schon nachgedacht – entsprechende Pläne aber stets wieder verworfen. «Unsere Kinder leben hier. Und politisch kann ich ja doch auch das eine oder andere bewirken.» Und schliesslich sei es auch das Engadin an sich, das sie dort halte. Es ist eben nicht nur kalt, sondern auch schön.