Kolumne: Das Klima bestimmt die Vergleichsquote
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Plädoyer 04/2023
10.07.2023
Karl Kümin
Der Klimawandel macht auch vor Gericht nicht Halt. Lange Plädoyers und zähe Vergleichsverhandlungen können bei Hitze für alle Beteiligten zur Tortur werden. Das wissen auch die Richterinnen und Richter, welche nicht nur die Dauer der Verhandlung, sondern auch das Klima im Saal bestimmen dürfen. Die meisten entscheiden sich für eine Kühlung der Geister, wie eine nicht ganz repräsentative plädoyer-Stichprobe im Juni bei Aussentemperatur...
Der Klimawandel macht auch vor Gericht nicht Halt. Lange Plädoyers und zähe Vergleichsverhandlungen können bei Hitze für alle Beteiligten zur Tortur werden. Das wissen auch die Richterinnen und Richter, welche nicht nur die Dauer der Verhandlung, sondern auch das Klima im Saal bestimmen dürfen. Die meisten entscheiden sich für eine Kühlung der Geister, wie eine nicht ganz repräsentative plädoyer-Stichprobe im Juni bei Aussentemperaturen von rund 30 Grad Celsius ergab.
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Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug thront im fünften Stock des Gerichtsgebäudes über dem Zugersee. Die Aussicht wäre atemberaubend. Doch die Teilnehmer der Hauptverhandlung in einem Versicherungsstreit sehen nichts davon. Der Gerichtspräsident gewichtet Abkühlung höher als die Aussicht. Die Läden sind zu, der Gerichtssaal und der Ausgang des Prozesses liegen im Dunkeln. Denn nach Verlesen der Plädoyers schliesst der Präsident die Verhandlung. Alles Weitere erfolgt schriftlich.
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Wenig Lust auf eine lange Verhandlung haben auch die Teilnehmer eines Verfahrens am Bezirksgericht Baden. Der Nachbarstreit ist zwar gehässig, aber die Stimmung keineswegs hitzig. Kein Wunder: Die Klimaanlage kühlt den Saal auf gefühlte 18 Grad. Die Anwälte plädieren kurz und haben kein Interesse an einem Vergleich. Nach einer halben Stunde ist Schluss. Das Urteil ergeht auch hier schriftlich.
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Das Bezirksgericht Zürich tagt in einem Altbau an der Badenerstrasse. Es versucht ebenfalls, mit Hilfe der Technik das Verhandlungsklima zu beeinflussen. Es machte die Rechnung aber ohne die Dolmetscherin. Der Saal 111 hat eine riesige Fensterfront Richtung Südost. Die Sonne brennt. Die Parteien streiten über einen Werklohn für die Erstellung einer Internetseite, die nie richtig funktionierte. Ein Klimagerät brummt. Die Dolmetscherin ist erkältet. Sie bittet, das Gerät auszuschalten. Sofort steigt die Hitze. Anwälte und Richter quälen sich durch Plädoyers, Parteibefragungen und Vergleichsgespräche. Nach jeder Pause ist der Raum wieder heruntergekühlt. Die Dolmetscherin bittet den Richter abermals, die Kühlung auszuschalten. Der Streit unter den Parteien wird hitziger, der Schweiss fliesst. Fünf Stunden später einigen sich die Parteien auf einen Vergleich. Hitze fördert offenbar die Vergleichsbereitschaft.
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Das lässt sich auch historisch nachweisen. 2011, im ersten Jahr der neuen Zivilprozessordnung, lag die Vergleichsquote der Mietschlichtungsstellen bei 50 Prozent. Der Klimawandel trieb sie hoch. Zurzeit liegt sie bei 60 Prozent.