Der Prozess begann vor zweieinhalb Jahren, im Dezember 2020, mitten in der Corona-Pandemie. Der Verhandlungssaal in Bellinzona TI blieb fast leer, nur akkreditierte Medien waren zugelassen. Der Angeklagte: Alieu Kosiah, ehemaliges Mitglied der bewaffneten Fraktion Ulimo. Die Bundesanwaltschaft warf ihm mehrfache, teils grausame Kriegsverbrechen vor.
Es war das erste Mal, dass sich ein mutmasslicher Täter wegen Völkerstraftaten während des ersten Bürgerkriegs in Liberia (1989 bis 1997) vor Gericht verantworten musste. Es war auch das erste Mal, dass Völkerstraftaten vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona verhandelt wurden. Das Urteil der Strafkammer: Schuldspruch in 10 von 14 Anklagepunkten, 20 Jahre Freiheitsstrafe und eine Landesverweisung von 15 Jahren.
Die Verteidigung sowie Privatkläger erhoben gegen das Urteil Berufung, die Bundesanwaltschaft erklärte Anschlussberufung. Im Januar und Februar dieses Jahres fand die Verhandlung vor der Berufungskammer statt, am vergangenen 1. Juni folgte das Urteil: Kosiah wurde wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen und zu 20 Jahren Gefängnis und 10 Jahren Landesverweis verurteilt.
Der liberianische Staatsangehörige Kosiah lebte seit 1999 legal in der Schweiz. Im November 2014 wurde er verhaftet – nach einer Strafanzeige der Genfer Organisation Civitas Maxima, die sich für die Dokumentation internationaler Verbrechen und deren Wiedergutmachung einsetzt.
Die Organisation koordiniert ein Netzwerk von Ermittlern und Anwälten, die Opfern von Völkerstrafrechtstaten helfen, Zugang zur Justiz zu erhalten, um die Täter vor ausländischen, inländischen oder internationalen Gerichten zur Verantwortung zu ziehen. Zu diesem Zweck arbeitet die Organisation mit lokalen Partnern zusammen – in diesem Fall mit der liberianischen Nichtregierungsorganisation Global Justice and Research Project (GJRP).
Lackmustest für die Bundesanwaltschaft
Diese Zusammenarbeit war im Prozess gegen Kosiah von entscheidender Bedeutung. Die Bundesanwaltschaft erhielt keine Rechtshilfe von Liberia, die Bundespolizei somit auch keinen Zugang zum liberianischen Staatsgebiet. Die Schweiz verfügt im Land auch über keine diplomatische Vertretung. Das Verfahren wurde deshalb als Lackmustest für den Willen der Bundesanwaltschaft gesehen, völkerstrafrechtliche Taten zu verfolgen.
Aus dem Urteil des Bundesstrafgerichts geht hervor, dass die Schweiz mit Hilfe des Departements für auswärtige Angelegenheiten mehrere ausländische Vertretungen in Liberia um Unterstützung angefragt hatte. Schliesslich konnten einige Einvernahmen in den Räumlichkeiten der US-Botschaft in Monrovia durchgeführt und per Internet in die Schweiz übertragen werden.
Vorwurf der «persönlichen Verschwörung»
Vor der ersten Instanz warf der Angeklagte den Direktoren von Civitas Maxima und GJRP eine persönliche Verschwörung gegen ihn vor. GJRP habe mehrfach Zeugen und Auskunftspersonen kontaktiert und befragt, ohne dass ihre Methoden der Verteidigung bekannt gewesen seien. Die Verteidigung beantragte daher vor der Strafkammer, dass alle von Civitas Maxima und GJRP gesammelten Beweismittel vom Verfahren auszuschliessen seien.
Diese Vorwürfe wiederholten sich vor der Berufungskammer. Beim Gericht fanden sie aber kein Gehör. Im Gegenteil, die Strafkammer hielt fest, dass allgemein bekannt sei, dass Völkerstraftaten von den Opfern nur sehr schwer zur Anzeige kommen würden. Dafür gebe es mehrere Gründe – unter anderem die Angst vor Repressalien durch die Täter, deren Angehörige oder sogar durch den Staat, in dem die Opfer solcher Taten leben. Daher würden die Opfer von sich aus oft keine Strafanzeigen gegen die Täter einreichen.
Die Strafkammer bekräftigte die wichtige Rolle, die nichtstaatlichen Akteuren im Völkerstrafrechtsverfahren zukommt. Oft sind es die ersten, die mit Opfern in Kontakt kommen, Beweise sammeln und diese für staatliche oder internationale Strafverfolgungsbehörden erst zugänglich machen. Umso wichtiger sind sie für die Aufarbeitung von Konflikten, bei denen der Staatsapparat selbst dazu nicht willens oder fähig ist und die nicht in die Zuständigkeit eines spezifischen internationalen Tribunals fallen.
Nach einer Ära der Zunahme internationaler Straftribunale seit den 90er-Jahren verschob sich die Verfolgung von Völkerstraftaten in den letzten Jahren zunehmend auf die nationale Gerichtsbarkeit. Die juristische Aufarbeitung von Konflikten erstreckt sich so oft auf mehrere Länder – dorthin, wo sich Täter aufhalten.
Gegen mutmassliche Täter des ersten Bürgerkriegs in Liberia wurden bisher Prozesse in Finnland, Frankreich, den USA oder Belgien hängig gemacht, teilweise sind sie abgeschlossen. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Strafverfolgung von Verbrechen seit 2011 in Syrien: Zivilgesellschaftliche Organisationen brachten in diversen Ländern Verfahren gegen mutmassliche Täter in Gang.
Nicht alle Akteure halten sich an Gerichtsstandards
An die Methoden und die Unbefangenheit zivilgesellschaftlicher Organisationen sind hohe Anforderungen zu stellen. Dazu etablierten sich in den letzten Jahren eine zunehmende Zahl anerkannter Standards. So beispielsweise Guidelines von Eurojust und dem Internationalen Strafgerichtshof oder des Institute for International Criminal Investigations in Den Haag (Niederlande).
Dennoch halten sich nicht alle Akteure an solche Standards. Es ist im Einzelfall darauf zu achten, wie Aussagen und andere Beweismittel beeinflusst worden sein könnten. Die entscheidenden Beweismittel müssen wie üblich in der Strafuntersuchung unter Wahrung der Rechte der beschuldigten Person nochmals gründlich erhoben werden. So geschah es auch im Liberia-Verfahren.
Eine weitere Besonderheit des Völkerstrafrechts zeigte sich in Bellinzona: Die Strafkammer des Bundesstrafgerichts sah sich mit Aussagen konfrontiert, die mehrere Jahrzehnte nach den Taten gemacht wurden. Ein grosser Teil der Vorwürfe basierte vor allem auf diesen Aussagen. Die Verteidigung machte denn auch viele Fehler und Widersprüche in diesen Aussagen geltend.
Das Bundesstrafgericht machte für künftige Verfahren entscheidende Ausführungen zur Beweisqualität der Aussagen: Bei der Beurteilung von Widersprüchen oder Fehlern in den Zeugenaussagen müsse berücksichtigt werden, dass die Menschen traumatische Ereignisse erlebt hätten.
In den Schilderungen solcher Ereignisse seien deshalb Widersprüche oder Ungenauigkeiten zu erwarten. Es sei auch zu beachten, dass traumatische Ereignisse anders verarbeitet würden als alltägliche. Es könne aufgrund von Verdrängungsvorgängen zu Erinnerungsverzerrungen und Gedächtnisverlust kommen. Die Strafkammer zeigte damit viel Verständnis für die Hintergründe der Aussagen.
Das Gericht beantwortete auch Fragen nach dem anwendbaren Recht. Die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten wurden nach den Artikeln 108 und 109 des ehemaligen Militärstrafgesetzbuchs in Verbindung mit Artikel 3 der Genfer Konventionen und Artikel 4 des Zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen beurteilt. Diese fielen für den Angeklagten günstiger aus als die auf den 1. Januar 2011 in Kraft gesetzten Artikel 264c, 264e, 264f oder 264g StGB.
Plünderungen, Mord und Kannibalismus
Die Vorwürfe gegen den Angeklagten decken eine Palette von Kriegsverbrechen ab und bieten ein Abbild des Bürgerkriegs in Liberia: Vergewaltigung, Schändung, Mord, Zwangstransporte von Waren durch Zivilisten, Plünderung sowie Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten.
Dazu kommt der Vorwurf des Kannibalismus: Der Angeklagte solle bei der Tötung eines Mannes anwesend gewesen sein und habe einen Teil seines Herzens gegessen.
Kosiah bestritt alle Vorwürfe sehr ausführlich. Die Strafkammer bewertete seine Aussagen aber in keinem Punkt als glaubhaft. Auch die Berufungskammer wies die Aussagen des Beschuldigten und dessen Vorwürfe gegen andere Zeugen sowie die Privatkläger mit klaren Worten ab.
Beide Kammern verwiesen zudem auf verschiedene Berichte und historische Dokumente über den Kontext, in dem die vorgeworfenen Straftaten stattfanden. So beispielsweise den Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission, von zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Medienberichten, die etwa die weit verbreitete Praxis sexueller Gewalt oder des Kannibalismus im ersten liberianischen Bürgerkrieg dokumentiert hatten.
Vor der Berufungskammer stand weiter die Rechtsfrage im Zentrum, ob die dem Beschuldigten vorgeworfenen Straftaten auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu qualifizieren seien. Die Vertreter der Privatkläger hatten dies während des Verfahrens wiederholt gefordert, die Bundesanwaltschaft weigerte sich aber, die Strafuntersuchung auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszudehnen.
Hauptstreitpunkt war, ob die Schweiz für die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig ist, die vor 2011 – seit dann ist Artikel 264a StGB in Kraft – begangen wurden. Die Berufungskammer forderte die Bundesanwaltschaft zur Erweiterung der Anklage auf.
Alieu Kosiah wurde schliesslich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen (Artikel 264a Absatz 1 litera a StGB). In der mündlichen Begründung zu diesem Punkt berief sich der Präsident der Berufungskammer auf Materialien der StGB-Revision, auf völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz und die bisherige Rechtsprechung der Schweizer Strafgerichte.
Wegweisendes Urteil für die Schweizer Justiz
Die Morde, die Kosiah vorgeworfen wurden, waren zur Zeit des Inkrafttretens von Artikel 264a Absatz 1 litera a noch nicht verjährt. Alle anderen Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden eingestellt. Mit dem Urteil der Berufungskammer wurde erstmalig eine Person von einem Schweizer Gericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Die schriftliche Begründung steht noch aus.
Die Bundesanwaltschaft und das Bundesstrafgericht zeigten in dem Verfahren, dass sie ihrer Pflicht der Verfolgung von Völkerstraftaten nachkommen. Weitere Strafverfahren werden folgen. So machte die Bundesanwaltschaft kürzlich publik, dass sie gegen den ehemaligen gambischen Innenminister Ousman Sonko wegen zahlreicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit Anklage erhoben hat. Er ist der hochrangigste Exponent, der bisher in Europa unter dem Weltrechtsprinzip angeklagt wurde.