Schengen: Ne bis in idem gilt auch für Angehörige von Drittstaaten
Das Oberlandesgericht München hatte über ein Auslieferungsgesuch der USA gegen einen serbischen Staatsangehörigen zu entscheiden. Er war für dieselben Taten bereits in Slowenien rechtskräftig verurteilt worden und hatte die verhängte Strafe dort vollständig verbüsst. Zwischen den USA und Deutschland besteht ein Auslieferungsvertrag, der die Auslieferung aufgrund des Grundsatzes ne bis in idem (Verbot der Doppelbestrafung) nur dann verbietet, wenn Verfolgte im ersuchten Staat bereits rechtskräftig verurteilt wurden, nicht aber bei einer ausserhalb dieses Mitgliedstaates erfolgten Verurteilung.
Vor diesem Hintergrund legte das Oberlandesgericht München dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob das Verbot der Doppelbestrafung, das in Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Schengen-Übereinkommens (SDÜ) und in Artikel 50 der Grundrechtecharta niedergelegt ist, der Auslieferung im aktuellen Fall entgegenstehe, insbesondere wenn damit die Verletzung eines bilateralen Auslieferungsvertrags einhergeht.
In seinem Urteil entschied der EuGH, dass der durch SDÜ und Charta verbürgte Grundsatz Ne bis in idem der Auslieferung von Drittstaatsangehörigen durch einen Mitgliedstaat an einen anderen Drittstaat tatsächlich entgegensteht, wenn diese Person wegen derselben Taten bereits in einem anderen Mitgliedstaat verurteilt wurde und die verhängte Strafe vollständig verbüsst hat.
Der EuGH betonte, dass der vom SDÜ verbürgte Grundsatz unabhängig von der Rechtmässigkeit des jeweiligen Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen gelte. Alles andere würde gegen die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsentscheiden in Strafsachen verstossen. Im Hinblick auf den Auslieferungsvertrag zwischen den USA und Deutschland stellte der EuGH fest, dass die nationalen Gerichte angesichts der unmittelbaren Wirkung der Charta und des SDÜ jede Bestimmung dieses Vertrags, die mit dem Grundsatz Ne bis in idem unvereinbar ist, nicht anwenden dürfen. Als assoziiertes Mitglied des Schengenraums ist dieses Urteil auch für die Schweiz von Bedeutung.
Urteil C-435/22 PPU vom 28.10.2022, Generalstaatsanwaltschaft München, EU:C:2022:852
Selbständige geschützt vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung
Ein Selbständigerwerbender erstellte während sieben Jahren audiovisuelle Inhalte für den nationalen öffentlichen Fernsehsender TP in Polen. Die Zusammenarbeit basierte auf einer Reihe aufeinanderfolgender Dienstverträge, wobei der Selbständige jeden Monat zwei Wochen für TP arbeitete. Unmittelbar nachdem er 2017 ein Weihnachtsmusikvideo mit seinem Lebensgefährten veröffentlicht hatte, mit dem das Paar für Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren wirbt, strich TP die Dienstzeiten des Selbständigerwerbenden von TP und schloss keinen weiteren Dienstvertrag mit ihm.
Der Mann erhob beim zuständigen Rayongericht in Warschau eine Schadenersatzklage. Dieses legte dem Europäischen Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Frage vor, ob der vorliegende Sachverhalt in den Geltungsbereich der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78 falle. Zudem wollte das polnische Gericht vom EuGH wissen, ob diese Richtlinie einer nationalen Regelung vorgehe, welche die Vertragsfreiheit garantiert, sofern der Grund für die Weigerung des Vertragsschlusses die sexuelle Ausrichtung ist.
In seinem Urteil stellt der EuGH fest, dass der Zweck der Antidiskriminierungsrichtlinie in der Beseitigung aller auf Diskriminierungsgründe gestützten Hindernisse bestehe. Der Geltungsbereich der Richtlinie sei weit auszulegen. Sie erfasse den Zugang zu jeglicher beruflichen Tätigkeit, unabhängig von deren Art und Merkmalen. Während blosse Lieferungen von Gütern und das Erbringungen von Dienstleistungen nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen, werden selbständige Erwerbstätigkeiten gemäss EuGH durchaus erfasst, wenn sie im Rahmen einer durch eine gewisse Stabilität gekennzeichneten Rechtsbeziehung ausgeübt werden. Die Situation von Selbständigerwerbenden, die durch Beendigung eines Vertrags gezwungen werden, diese Tätigkeit aufzugeben, sei mit jener von entlassenen Angestellten vergleichbar. Die Entscheidung von TP, den Vertrag mit dem Kläger aufgrund seiner sexueller Ausrichtung zu beenden, falle in den Geltungsbereich der Richtlinie.
Mit seinem Urteil leistet der EuGH einen wichtigen Beitrag zur Bestimmung der Grenze zwischen Selbständigerwerbenden, die mit einem einzigen Auftraggeber in einem Quasi-Arbeitsverhältnis stehen, und solchen, die als Unternehmen Dienstleistungen anbieten und nicht von einzelnen Kunden abhängig sind. Da das Unionsrecht keine einheitliche Definition «selbständiger Erwerbstätigkeit» kennt, bleibt hier aber vieles offen.
Urteil C-356/21 vom 12.1.2023, TP, EU:C:2023:9