Als Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine haben die beiden skandinavischen Staaten Schweden und Finnland ihre traditionelle Politik der militärischen Bündnisfreiheit und Neutralität aufgegeben. Innerhalb von zwei Monaten nach Beginn des Krieges am 24. Februar letzten Jahres sprachen sich fast alle in den Parlamenten in Stockholm und Helsinki vertretenen politischen Parteien für den Beitritt ihres Landes zur Nato aus. Bevölkerungsumfragen ergaben ebenfalls eine mehrheitliche Unterstützung für diesen Schritt. Mitte Mai schickten die Regierungen Schwedens und Finnlands ihren formalen Mitgliedsantrag an die Zentrale des Militärbündnisses in Brüssel.
Laut den Statuten der Nato erfordert die Aufnahme eines neuen Mitgliedsstaats die Zustimmung aller bisherigen Mitglieder sowie die Ratifizierung durch die Parlamente dieser Länder. In 28 der 30 Nato-Staaten ist dies bereits geschehen. Ungarn hatte die lange hinausgezögerte Ratifizierung durch das Parlament in Budapest für die erste Session in diesem Jahr angekündigt, ein Datum steht noch nicht fest.
Blockiert wird die Norderweiterung der Nato weiterhin durch die türkische Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Dies nicht etwa, weil Erdogan den Beitritt Schwedens und Finnlands mit seiner über 1340 Kilometer langen Grenze zu Russland sicherheitspolitisch für unklug hielte und für eine gefährliche Provokation Russlands. Mit einer derartigen Begründung hätte der türkische Präsident eine politisch höchst relevante und längst überfällige Debatte in der Nato über ihre seit den 1990er-Jahren betriebene Erweiterungspolitik auslösen können.
Stattdessen begründet Erdogan seinen Einspruch gegen eine Nato-Mitgliedschaft der beiden skandinavischen Staaten mit der Behauptung, die Regierungen in Helsinki und Stockholm würden die türkisch-kurdische Arbeiterpartei PKK unterstützen, weil sie angeblich die Anwesenheit von PKK-Mitgliedern unter den in beiden Ländern lebenden Kurden duldeten sowie Massnahmen zur Geldbeschaffung für die PKK.
Unterstützung des IS durch die Türkei ausgeblendet
Die Regierung Erdogan betrachtet die PKK als «Terrororganisation» und bekämpft sie mit militärischen und polizeilichen Mitteln. Sie verlangte von den Regierungen in Stockholm und Helsinki, ihre völkerrechtlich verbindlichen Schutz- und Asylverpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention für verfolgte türkische Kurden aufzugeben, die von Erdogan pauschal und systematisch als PKK-Anhänger und damit als «Terroristen» diffamiert werden. In Schweden leben über 85 000 Kurden, in Finnland rund 15 000. Der grösste Teil sind Flüchtlinge in erster, zweiter oder dritter Generation, die seit dem Ende der 1960er-Jahre in erster Linie aus der Türkei, aber auch aus dem Irak und aus Syrien vor Verfolgung und Krieg geflohen sind.
Zudem fordert Erdogan die Wiederaufnahme von Rüstungsexporten an die Türkei. Die Regierungen in Helsinki und Stockholm hatten die Lieferungen von Waffen an Ankara 2016 gestoppt, weil die türkischen Streitkräfte diese Waffen bei ihren völkerrechtswidrigen Kriegen und militärischen Interventionen gegen Kurden in Syrien und im Irak einsetzten sowie gegen die Kurden im eigenen Land.
Mit der Rückendeckung aus Washington drängt vor allem Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Regierungen in Stockholm und Helsinki, den Forderungen Erdogans nachzugeben. «Wenn ein wichtiger Schlüsselverbündeter wie die Türkei Bedenken hinsichtlich Terrorismus äussert, dann müssen wir uns natürlich hinsetzen und das ernst nehmen», erklärte Stoltenberg am 12. Juni bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö in Helsinki. «Kein anderes Nato-Land» habe «mehr Terrorangriffe erlitten als die Türkei». Sie sei «ein wichtiger Verbündeter, der eine Schlüsselrolle im Kampf gegen Terrorgruppen wie die Terrormiliz Islamischer Staat gespielt hat», behauptete der Nato-Generalsekretär im Widerspruch zu allen Erkenntnissen, die eine vielfältige Unterstützung des Islamischen Staats (IS) durch die Türkei belegen, zumindest bis zur weit gehenden Vertreibung der Terrormiliz aus Syrien im Jahr 2018.
Auslieferung von mehr als 70 Oppositionellen
Unter dem Druck des Nato-Generalsekretärs machten die Regierungen in Stockholm und Helsinki bis Ende 2022 bereits weitgehende Zugeständnisse an Ankara.
Bei ersten Verhandlungen am Rand des Madrider Nato-Gipfels im Juni letzten Jahres verständigten sich Schweden und Finnland in einem Abkommen mit der Türkei zunächst auf fast ein Dutzend Bedingungen, welche die beiden skandinavischen Nato-Bewerber für ein grünes Licht der Regierung Erdogan erfüllen müssen. Darunter fällt etwa ein komplettes Ende der Aktivitäten der PKK in den eigenen Ländern, keine Unterstützung für die kurdische «Partei der Demokratischen Union» (PYD) in Syrien und ihren militärischen Arm der «Volksverteidungseinheiten» (YPG).
Dazu kommt die Auslieferung von über 70 Personen, die von Ankara als «Terroristen» eingestuft werden. Darunter fallen auch nichtkurdische Oppositionelle, die wegen ihrer innerstaatlichen Verfolgung und Bedrohung durch die türkische Regierung in Schweden oder Finnland Asyl erhielten.
Das Stockholmer Institut für Aussenpolitik bezeichnete das trilaterale Abkommen von Madrid als «starke Karte vor allem für die Türkei, um die eigenen Interessen in gleich mehrere Richtungen maximieren» zu können. Die Regierung in Ankara habe «Schweden gezwungen, sich den türkischen Interessen anzupassen». In der Folge machte Erdogan die Zustimmung zur schwedischen und finnischen Nato-Mitgliedschaft von einer sofortigen Umsetzung aller Vereinbarungen des Madrider Abkommens gemäss seiner Auslegung dieser Vereinbarungen abhängig sowie von der Erfüllung weiterer Forderungen insbesondere an die Adresse Schwedens.
Ende September genehmigte die neugewählte rechtskonservative Regierung Schwedens unter Ministerpräsident Ulf Kristersson nach einem mehrjährigen Stopp wieder die Ausfuhr von Kriegsmaterial an die Türkei. «Stockholms Antrag auf eine Nato-Mitgliedschaft stärkt die Argumente, Rüstungsexporte in andere Mitgliedstaaten zu genehmigen, einschliesslich der Türkei», teilte die für Rüstungsausfuhren zuständige schwedische Regierungsbehörde ISP zur Begründung mit.
Anfang November reiste Kristersson eigens nach Ankara, um bei Erdogan erneut um die Zustimmung zu Schwedens Nato-Mitgliedschaft zu werben. Dabei machte Kristersson weitere Zugeständnisse. Ein geheimes Dokument der schwedischen Regierung vom 25. November zeigt, wie weit Stockholm dem Druck Erdogans bis dahin bereits nachgegeben hatte. Im Regierungsdokument mit dem Titel «Umsetzung des trilateralen Abkommens zwischen der Türkei, Schweden und Finnland» wird gleich an mehreren Stellen betont, wie sehr sich Schweden dem «Kampf gegen den Terrorismus» verschrieben habe.
Folglich würden schwedische Behörden nun verstärkt auf «PKK-bezogene Sicherheitsprobleme» bei der Beantragung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen von Kurden achten. Konkret heisst es, dass bereits ein Dutzend Flüchtlinge an der Einreise gehindert beziehungsweise «zur Ausreise gezwungen» worden seien.
Engerer Austausch mit Geheimdienst der Türkei
Hervorgehoben wird auch das neue schwedische «Anti-Terror-Gesetz», mit dem die rechtskonservative Regierung Mitte November, gestützt durch Stimmen der Sozialdemokraten, die Verfassung änderte. Das Gesetz schränkt faktisch die Versammlungs- und Meinungsfreiheit ein, da unter anderem die Weitergabe geheimer Informationen verboten wird, sofern sie die internationale Zusammenarbeit betreffe.
Investigative Recherchen über mögliche Verbrechen schwedischer Soldaten im Ausland oder unrechtmässige Waffenlieferungen – beispielsweise an die Türkei – werden dadurch weitgehend unmöglich gemacht. Kritiker der Verfassungsänderung sehen darin einen «Kniefall vor Erdogan». Laut dem Dokument hat der schwedische Nachrichtendienst Säpo ausserdem seine Zusammenarbeit mit dem türkischen MIT «intensiviert». Bereits im September hätten sich «hochrangige» Säpo-Mitarbeiter mit türkischen Kollegen über eine «langfristige» Zusammenarbeit ausgetauscht.
Doch die bereits erpressten Zugeständnisse reichen der Regierung in Ankara noch nicht. Ende Dezember lobte Präsident Erdogan die Regierung in Stockholm zwar dafür, dass sie auf die türkischen «Sicherheitsbedenken eingegangen» sei. Zugleich betonte er aber, es müsse mehr getan werden, um Ankaras volle Unterstützung für Schwedens Nato-Beitrittsgesuch zu gewinnen.
Minsterpräsident Kristersson lehnte die Nachforderungen der Türkei, die im Detail öffentlich noch nicht bekannt sind, Anfang Januar auf einer Sicherheitskonferenz im schwedischen Sälen ab: «Die türkische Regierung verlangt Dinge, die wir ihr nicht geben können oder geben wollen.» Auf derselben Konferenz liess Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg durchblicken, dass er die Nachforderungen aus Ankara ebenfalls für überzogen hält. Finnland und Schweden hätten sich «eindeutig zu einer langfristigen Zusammenarbeit mit der Türkei verpflichtet», erklärte Stoltenberg. Daher sei nun «die Zeit gekommen, um den Beitrittsprozess zum Abschluss zu bringen und das Beitrittsprotokoll zu ratifizieren».
Wann das geschehen wird, ist allerdings noch offen. Beobachter der türkischen Politik gehen davon aus, dass Erdogan mindestens bis zu den für Juni dieses Jahres anberaumten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei warten wird im Kalkül, er und seine Regerungspartei AKP könnten von dieser aussenpolitischen Konfliktlage profitieren und damit von der desolaten Wirtschaftslage ablenken.
Erdogan will auch die Biden-Regierung in Washington zu einem Entgegenkommen bewegen. Zum einen verlangt er von den USA die Lieferung von Kampfflugzeugen an die Türkei, die Washington nach Ankaras Kauf russischer Boden-Luft-Raketen storniert hatte. Zum zweiten will Erdogan von Washington grünes Licht für eine neue, weitreichende weitere Militäroperation gegen Kurden in Nordsyrien, die er seit letztem Jahr bereits mehrfach angekündigt hat. Doch für die USA waren die Bodentruppen der YPG ein wichtiger Partner im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Da dieser nach seiner weitgehenden Vertreibung aus Syrien im Jahr 2018 dort inzwischen wieder Anschläge verübt, wollen die USA diese Partnerschaft mit der YPG zumindest vorläufig nicht aufgeben.
Atomwaffenstützpunkt Incirlik als Druckmittel
Das Militärbündnis der Nato bezeichnet sich selbst seit seiner Gründung im Jahr 1949 gern als eine «Wertegemeinschaft». Laut der Gründungsakte der Nato sind ihre inzwischen 30 Mitgliedstaaten «der Uno-Charta verpflichtet» und darüber hinaus «den Prinzipien der Demokratie, individuellen Freiheiten und der Rechtsstaatlichkeit». In fundamentalem Widerspruch zu den hehren Prinzipien dieser «Wertegemeinschaft» stehen allerdings die völkerrechtlichen Kriege des Nato-Mitglieds Türkei gegen die Kurden in ihren Nachbarländern Syrien und Irak, das Vorgehen gegen die Kurden im eigenen Land sowie der systematische Abbau von Demokratie und Freiheitsrechten in der Türkei.
Zu allem schweigen die Nato und ihre Mitgliedsstaaten. Auch weil die Türkei bereits seit vielen Jahren androht, die Nato-Basis Incirlik in der Südosttürkei zu schliessen. Diese Basis war und ist für die Nato und für die USA die wichtigste Militärinfrastruktur für sämtliche bisherigen Kriege im Nahen und Mittleren Osten. Zudem sind in Incirlik Atomwaffen der USA stationiert. Ein gleichwertiger Ersatz für diese Militärbasis in einem anderen Land der Region ist für die USA und die Nato nicht in Sicht.
Türkei: Nato-Staaten verhindern Uno-Sanktionen
Unter dem Vorwand der «Terrorbekämpfung» führt die Türkei seit dem Golfkrieg von 1991 unter Verstoss gegen die Uno-Charta immer wieder völkerrechtswidrige Angriffskriege gegen Kurden in den Nachbarländern Syrien und Irak. Die Kurden im eigenen Land werden durch die türkischen «Sicherheitskräfte» – Polizei und Militär – unter Verletzung universell gültiger und völkerrechtlich verbindlicher Menschenrechtsnormen massiv unterdrückt. Zudem baut die Regierung Erdogan unter Verletzung von Uno-Normen die demokratischen Rechte auch für nichtkurdische oppositionelle Politiker und Medien systematisch ab.
Doch innerhalb der Uno haben vor allem die USA und andere Nato-Verbündete Ankara bisher vor Verurteilungen oder Sanktionen durch die Generalversammlung, den Sicherheitsrat oder den Menschenrechtsrat geschützt. Nur das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf mit seinen von den Regierungen der Uno-Mitgliedsstaaten unabhängigen Experten äussert sich hin und wieder kritisch. So stellte es etwa 2017 fest, türkische Sicherheitskräfte seien für zahlreiche Todesfälle, viele andere schwere Menschenrechtsverstösse und massive Zerstörung in den Kurdengebieten verantwortlich.