Mietrecht
Generelles Verbot der Hundehaltung zulässig
Ein Hundehaltungsverbot im Mietvertrag ist gültig. Ein späteres persönliches Bedürfnis der Mieter schafft kein Recht auf Haltung eines Hundes in der Wohnung.
Sachverhalt
Eine Familie aus Lachen SZ durfte laut Mietvertrag in ihrer Wohnung Hunde oder Katzen nur mit Zustimmung des Vermieters halten. Der autistische Sohn benötigte einen Assistenzhund. Der Vermieter war damit nicht einverstanden. Die Familie kaufte den Hund trotzdem. Nach einer Mahnung kündigte der Vermieter den Mietvertrag. Die Mieter wehrten sich ohne Erfolg beim Bezirksgericht March und dem Kantonsgericht Schwyz gegen die Kündigung. Begründung: Ein Mieter müsse sich auch bei geänderten persönlichen Bedürfnissen an den Mietvertrag halten.
Aus den Erwägungen
2. Nach Art. 271a Abs. 1 OR ist die Kündigung durch die Vermieterin anfechtbar, wenn sie etwa ausgesprochen wird, weil der Mieter nach Treu und Glauben Ansprüche aus dem Mietverhältnis geltend macht oder während eines mit dem Mietverhältnis zusammenhängenden Schlichtungs- oder Gerichtsverfahrens, ausser wenn der Mieter das Verfahren missbräuchlich eingeleitet hat.
cc) Angesichts der geltend gemachten gesundheitlichen Probleme des Sohns mag der Wunsch nach der Zustimmung der Vermieterin, entgegen dem vertraglichen Hundehalteverbot einen Malteser halten zu können, nachvollziehbar sein. In einem Mietverhältnis, in dem das Halten von Hunden grundsätzlich verboten ist, kann angesichts der vom Vorderrichter zutreffend vermerkten Vertragsautonomie jedoch nicht durch den Richter entschieden werden, inwiefern eine Vermieterin neuen, mit dem bestehenden Vertrag nicht zu vereinbarenden Bedürfnissen von Mietern zu entsprechen hat oder nicht.
Somit ist hier nicht zu beurteilen, ob die Behauptung der Kläger, den Hund als therapeutische Massnahme für ihren autistischen Sohn zu halten, zutreffend oder, wie die Beklagte behauptet, vorgeschoben bzw. ein «Märchen» ist. Diskriminierungen von beeinträchtigten Personen werden im Berufungsverfahren gegen das Anliegen der Beklagten um rechtsgleiche Durchsetzung des vertraglichen Hundehaltungsverbots nicht geltend gemacht. Wenn die Kläger entgegen diesem Verbot, den bereits erwähnten unbestritten nicht zustimmenden Mitteilungen der Vermieterin im Voraus und der unter Kündigungsandrohung für den Widerhandlungsfall erfolgten, ebenfalls unbestrittenen weiteren mündlichen Ablehnung der Hundehaltung einen Hund in der Wohnung halten, liegt eine mutwillige Vertragsverletzung vor. Diese vertraglich verbotene bzw. unerlaubte Tierhaltung erachtete der Vorderrichter zu Recht als eine schwere Pflichtverletzung. Aufgrund dieses mutwillig vertragswidrigen Verhaltens der Kläger war der Beklagten die Fortsetzung des Mietverhältnisses objektiv nicht mehr zumutbar (vgl. etwa BGer 4A_621/2019 vom 26. Februar 2020, E. 3.1), unabhängig davon, in welchem konkreten Ausmass der vertragswidrig angeschaffte Hund zur Zeit der Kündigung die anderen Mieter störte oder Verständnis für den Wunsch der Mieter besteht, zum Wohle ihres Sohnes einen Hund zu halten.
c) Aus diesen Gründen erweist sich die per Ende September 2020 ausgesprochene Kündigung vom 18. Juni 2020, die nach einer weiteren, dieses Mal schriftlichen Kündigungsandrohung vom 17. April 2020 und anwaltlicher Korrespondenz vom 12. Mai/5. Juni 2020 erfolgte, nicht als missbräuchlich, sondern im Sinne von Art. 271a Abs. 3 lit. c OR als gerechtfertigt.
3. Der Mieter kann die Erstreckung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung der Miete für ihn oder seine Familie eine Härte zur Folge hätte, die durch die Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen wäre (Art. 272 Abs. 1 OR). Eine Erstreckung ist nur möglich, wenn keine Ausschlussgründe im Sinne von Art. 272a OR erfüllt sind (Permann, OFK, 3. A. 2016, Art. 272a OR N 2). Die Erstreckung ist wie die Anfechtbarkeit im Falle des zeitlichen Kündigungsschutzes (Art. 271a Abs. 3 lit. c OR) wegen schwerer Verletzung der Pflicht des Mieters zu Sorgfalt und Rücksichtnahme ausgeschlossen (Art. 272a Abs. 1 lit. b OR; vgl. auch Futterlieb, Svit-Kommentar, 4. A. 2018, Art. 271a OR N 90). Dieser Ausschlussgrund besteht grundsätzlich ebenfalls, wenn die Vermieterin auf eine vorzeitige Kündigung verzichtet und es bei einer ordentlichen Kündigung bewenden lässt (Hulliger, Svit-Kommentar, 4. A. 2018, Art. 272a OR N 6), wobei der Umstand, dass die Vermieterin ordentlich kündigte, ein Indiz gegen die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Mietverhältnisses bilden kann (Weber, BSK, 7. Aufl. 2020, Art. 272a OR N 2 m.H.). Ist anzunehmen, der Mieter würde auch künftig seine vertraglichen Verpflichtungen verletzen, spricht dies indes gegen eine Erstreckung (BGer 4A_62/2010 vom 13. April 2010, E. 6.1.1 m.H.).
a) Der Vorderrichter lehnte die Erstreckung des Mietverhältnisses in Berücksichtigung der faktischen Erstreckung von bereits mehr als acht Monaten – inzwischen von bald zwei Jahren – im Wesentlichen mit der Begründung ab, die mehrmals auf das Hundeverbot hingewiesenen Kläger hätten sich darüber hinweggesetzt und dadurch ihre Pflichten als Mieter schwer verletzt.
b) Es ist unbestritten, dass die Kläger sich über mehrfache Hinweise der Beklagten auf das Hundehalteverbot hinweggesetzt haben. Eine Erstreckung des Mietverhältnisses ist daher nach Art. 272a Abs. 1 lit. b OR ausgeschlossen, umso mehr, als anzunehmen ist, dass die Kläger während der Erstreckung weiterhin das Hundehalteverbot verletzen würden.
4. Aus diesen Gründen ist die Berufung, soweit darauf einzutreten ist, abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.
Kantonsgericht Schwyz, Urteil ZK1 2021 39 vom 8.9.2022
Strafprozessrecht
Beweismittel wegen mangelhaften Akten unverwertbar
Eine wirksame Verteidigung ist nur gewährleistet, wenn die be- und entlastenden Beweismittel aktenmässig so erschlossen sind, dass sie die Verteidigung tatsächlich auffinden kann.
Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau überwachte in einem Betäubungsmittelverfahren den Telekomverkehr eines Beschuldigten. In den Verfahrensakten fehlte eine Übersicht oder ein Protokoll aller zu den Akten genommenen Gespräche. Die Akten der Staatsanwaltschaft umfassten zwar einzelne Überwachungsprotokolle. Sie verschafften aber keine Gesamtübersicht über die Protokolle. Die Verteidigung wehrte sich mit Erfolg im Berufungsverfahren vor dem Obergericht des Kantons Thurgau.
Aus den Erwägungen
1. Ein Teilaspekt des Rechts auf wirksame Verteidigung beschlägt den effektiven Zugang zu allen be- und entlastenden Beweismitteln. Die Verteidigung brachte vor, es sei nicht nachvollziehbar, welche Überwachungsergebnisse die Staatsanwaltschaft in einer Vorselektion als irrelevant erachtete und nicht zu den Akten genommen habe. Ihr und auch dem Gericht müsse aber ermöglicht werden zu prüfen, was durch die staatsanwaltschaftliche Triage ausgesondert worden sei und ob sich darunter auch entlastendes Material finde.
2. c) Der sich aus Art. 6 EMRK ableitende Grundsatz der Waffengleichheit verlangt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die Anklage alle in ihrem Besitz befindlichen Akten offenlegt. Unabhängig davon, ob die Beweismittel für den Angeklagten günstig oder ungünstig erscheinen, ist es Sache der Verteidigung, zu entscheiden, ob sie auf Beweismittel reagieren will. Wollen sich die Strafverfolgungsbehörden auf die Ergebnisse besonderer Untersuchungsmassnahmen stützen, ist im Einzelfall zu prüfen, ob die beschuldigte Person genügend Möglichkeiten hatte, sich gegen die Beweismittel zu verteidigen.
Beschuldigte Personen haben nach dieser Rechtsprechung das Recht auf Einsicht in möglicherweise sachdienliche Unterlagen, die sich in Aktenteilen ausserhalb der Ermittlungsakten befinden, soweit sie «besondere Gründe» für deren Relevanz vorbringen können. Diesfalls ist ihnen der Zugang zu gewähren.
d) Die Umsetzung des in der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR geformten Anspruchs auf Kenntnisnahme sämtlicher – auch entlastender – Beweismittel hängt unmittelbar von der Aktenführung im Einzelfall ab. Eine wirksame Verteidigung ist nur gewährleistet, wenn die be- und entlastenden Beweismittel aktenmässig so erschlossen sind, dass die Verteidigung sie tatsächlich auffinden kann.
e) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist es Aufgabe der Verteidigung, die entlastenden Beweismittel ausfindig zu machen. Durch Abgleich der zu den Akten genommenen Protokolle und sich nicht bei den Akten befindlichen Gesprächsinhalten kann die Verteidigung die Triage der Staatsanwaltschaft nachvollziehen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Bestand der Strafakten nachvollziehbar erschlossen ist. Im Referenzfall 6B_403/2018 existierte ein 56 Seiten umfassendes Gesamtverzeichnis der zu den Akten genommenen Protokolle.
3. a) Im vorliegenden Fall fehlt eine Übersicht oder ein Protokoll aller zu den Akten genommener Gespräche. Die Verzeichnisse, welche die Staatsanwaltschaft im Berufungsverfahren einreichte, ermöglichen zwar den Zugriff auf einzelne Protokolle und den Abgleich mit einem Genehmigungsentscheid. Sie verschaffen aber keine Gesamtübersicht über die einzelnen Protokolle.
b) Die Rohdaten der Audio- und TK-Protokolle sind ebenfalls nicht aktenmässig erschlossen. Es gibt kein Verzeichnis der Ursprungsdateien. Während bei den TK-Protokollen anhand der Linien im «Aktenverzeichnis TK-Protokolle» immerhin der richtige Datenträger mit verhältnismässigem Aufwand gefunden werden kann, fehlt ein entsprechendes Verzeichnis für die Audio-Protokolle. Bei den Akten findet sich ein Verzeichnis, das nach Zeiträumen gegliedert ist und keine Aktenverweise enthält. Mit Blick auf die grosse Menge an Rohdaten können Verteidigung und Gericht ohne Verzeichnis der Rohdaten nicht nachvollziehen, welche Gespräche zu den Akten genommen wurden.
c) Da sich ein erheblicher Teil der Strafbarkeitsvorwürfe – namentlich im Zusammenhang mit den Betäubungsmitteldelikten – auf Audio- und TK-Protokolle stützt, ist es für die Verteidigung (und das Gericht) wesentlich, einen Gesamtüberblick über diese Beweismittel zu gewinnen. Die Aktenführung erlaubt den von der Rechtsprechung des Bundesgerichts geforderten jederzeitigen Zugriff auf den gesamten Aktenbestand nicht. Im Unterschied zu den referierten Entscheiden des Bundesgerichts fehlt es an einem Verzeichnis der Gespräche, die zu den Akten genommen wurden. Somit ist weder mit verhältnismässigem Aufwand möglich, die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Selektion der Gesprächsinhalte nachzuvollziehen, noch kann die Verteidigung wirksam nach entlastendem Material suchen. Erforderlich ist ein Verzeichnis der bei den Akten liegenden Gesprächsprotokolle sowie ein weiteres Verzeichnis der Rohdaten. Solange diese Verzeichnisse nicht vorliegen, sind die Protokolle nicht rechtsgenüglich erschlossen und folglich nicht verwertbar.
d) Sobald diese Verzeichnisse vorliegen, sind die Verteidigungsrechte gewahrt. Andernfalls ist hingegen von der Unverwertbarkeit all dieser Protokolle auszugehen. Die Staatsanwaltschaft – beziehungsweise bezüglich der Rohdaten das Gericht – ist daher zu verpflichten, entsprechende Verzeichnisse zu erstellen und damit eine rechtskonforme Aktenführung betreffend die TK- und Audio-Protokolle herzustellen.
Obergericht Thurgau, Entscheid SBR.2019.43 vom 8.10.2021
Sozialversicherungsrecht
Arbeitslosigkeit: Taggeldkürzung nur bei Vorsatz
Bei einem schweren Selbstverschulden muss ein Angestellter mit 31 bis 60 Einstelltagen der Arbeitslosenversicherung rechnen. Auszugehen ist von einem Mittelwert von 45 Tagen. Anschliessend ist das individuelle Verschulden zu berücksichtigen.
Sachverhalt
Eine Verkäuferin aus dem Kanton Glarus packte in der Filiale unerlaubt nicht mehr verkaufbare Lebensmittel ein, etwa eine von einem Kunden geöffnete Packung. Zudem tippte sie einzelne Produkte für sich selber, was ebenfalls den Betriebsregeln widersprach. Sie wurde fristlos entlassen. Später einigte sie sich mit dem Arbeitgeber über die arbeitsrechtlichen Folgen. Das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Glarus kürzte der Frau die Taggelder der Arbeitslosenversicherung um 60 Tage wegen schweren Selbstverschuldens. Auf eine Einsprache hin reduzierte das Amt die Einstellung auf 54 Tage. Die Verkäuferin forderte vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus mit Erfolg eine weitere Kürzung der Einstelltage.
Aus den Erwägungen
2.1 Die obligatorische Arbeitslosenversicherung will der versicherten Person einen angemessenen Ersatz für Erwerbsausfälle wegen Arbeitslosigkeit garantieren (Art. 1a Abs. 1 lit. a AVIG). Gemäss der im gesamten Sozialversicherungsrecht geltenden Schadenminderungspflicht (Art. 17 Abs. 1 AVIG) muss die Versicherte jedoch alles Zumutbare unternehmen, um den Eintritt oder das Fortdauern der Arbeitslosigkeit zu verhindern (BGer 8C_12/2010 vom 4. Mai 2010, E. 2.2). Ist die Versicherte durch eigenes Verschulden arbeitslos geworden, ist sie in der Anspruchsberechtigung einzustellen (Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG).
2.2 Die Arbeitslosigkeit gilt namentlich dann als selbstverschuldet, wenn die Versicherte durch ihr Verhalten, insbesondere wegen Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten, dem Arbeitgeber Anlass zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegeben hat (Art. 44 Abs. 1 lit. a der Verordnung über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung vom 31. August 1983 [AVIV]).
2.3 Das vorwerfbare Verhalten der versicherten Person muss nach Art. 20 lit. b des am 17. Oktober 1991 für die Schweiz in Kraft getretenen Übereinkommens Nr. 168 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über Beschäftigungsförderung und den Schutz gegen Arbeitslosigkeit vom 21. Juni 1988 vorsätzlich erfolgt sein, wobei Eventualvorsatz genügt. Hat hingegen eine versicherte Person nur grobfahrlässig zur Kündigung durch den Arbeitgeber beigetragen, ist eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung gemäss Art. 20 lit. b IAO nicht zulässig (BGer-Urteil 8C_19/2019 vom 1. April 2019, E. 2.4, mit Hinweisen; Nussbaumer, Rz. 837).
4.2.2 Die Argumentation der Beschwerdeführerin, wonach es sich bei der von einem Kunden bereits offen an die Kasse gebrachten Packung […] um einen nicht mehr verkäuflichen Artikel gehandelt habe, welcher entsorgt worden wäre, erscheint zwar nachvollziehbar. Indessen ist aber fraglich, ob sie durch die Behändigung dieses Artikels eine Kündigung nicht zumindest in Kauf genommen hat. Es ist mit dem Beschwerdegegner einig zu gehen, dass das von der Beschwerdeführerin beabsichtigte Verhindern von «Foodwaste» das von ihr gezeigte Verhalten zwar plausibel erscheinen lässt, dieses jedoch nicht entschuldigt. So wäre es ihr zuzumuten gewesen, sich bei der vorgesetzten Person zu vergewissern, ob sie diesen Artikel mit nach Hause nehmen dürfe.
4.2.3 Die Beschwerdeführerin verstiess mit dem eigenhändigen Kassieren sowie der Fehlrabattierung gegen Weisungen. Dass es sich hierbei um ein Fehlverhalten handelt, räumte sie denn auch selbst ein. Da die Weisungen überdies integrierenden Bestandteil des Arbeitsvertrags bildeten, mussten ihr diese bei gehöriger Sorgfalt bekannt gewesen sein, womit sie durch ihr Verhalten eine fristlose Kündigung zumindest in Kauf genommen hat.
5. Zu prüfen bleibt, ob die vom Beschwerdegegner verfügte 54-tägige Einstellung in der Anspruchsberechtigung angemessen ist.
5.1 Die Dauer der Einstellung in der Anspruchsberechtigung bemisst sich nach dem Grad des Verschuldens (Art. 30 Abs. 3 AVIG) und beträgt je nach Einstellgrund 1 bis 15 Tage bei leichtem, 16 bis 30 Tage bei mittelschwerem und 31 bis 60 Tage bei schwerem Verschulden (Art. 45 Abs. 3 AVIV). Bei der Bemessung der Einstellungsdauer hat die verfügende Stelle die Pflicht, das Verhalten der versicherten Person unter Berücksichtigung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls zu würdigen.
Namentlich sind die versicherte Person entlastende und belastende Gegebenheiten gleichermassen zu berücksichtigen. Bei der Anordnung der Sanktion kommt dem Beschwerdegegner ein Ermessen zu, in welches das Gericht nicht ohne Not eingreift.
5.2 Für die Festlegung der Einstellungsdauer ist als sachgemässer Ausgangspunkt für die individuelle Verschuldensbeurteilung im Bereich des schweren Verschuldens vom Mittelwert beziehungsweise von 45 Einstelltagen auszugehen.
5.3 Vorliegend setzte der Beschwerdegegner die Einstellung in der Anspruchsberechtigung mit 54 Tagen im oberen Bereich des für schweres Verschulden vorgegebenen Rahmens an, wobei sich zunächst ein Blick auf die Rechtsprechung aufdrängt. Mit Blick darauf wurde eine versicherte Person beispielsweise mit 46 Einstelltagen sanktioniert, welche als Buffetangestellte in einem Hotel drei kleine Käsestücke, welche weggeworfen worden wären, sowie zwei Salamischeiben behändigt, eingepackt und in ihren Garderobenschrank gelegt hat (vgl. BGer-Urteil 8C_873/2013 vom 17. Januar 2014, E. 3.1 f.).
Sodann wurde eine versicherte Person mit 47 Einstelltagen belegt, welche mehrmals die Arbeitszeit manipulierte, indem sie unter anderem die Mittagspause wiederholt erst dann erfasste, nachdem sie in der nahe gelegenen Tankstelle ihr Mittagessen eingekauft hatte (vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug S 2020 49 vom 14. April 2021). Mit 27 Tagen wurde eine versicherte Person in der Anspruchsberechtigung eingestellt, weil sie regelmässig trotz Zuspätkommens den Arbeitsplatz früher verliess und dennoch die volle Arbeitszeit aufgeschrieben hatte (vgl. Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich AL.2014. 00070 vom 7. Juli 2015).
5.4 Gemäss dem Prüfprotokoll des Beschwerdegegners wurde der Diebstahl als strafrechtlich relevantes Verhalten mit zehn zusätzlichen Einstelltagen sanktioniert. Um als strafrechtlich relevantes Verhalten zu gelten, bedürfte es jedoch einer ordentlichen Beurteilung durch eine Strafbehörde, was vorliegend nicht der Fall ist. Dementsprechend darf das strafrechtlich ungeahndete Verhalten nicht zu einer Verschärfung der Einstelldauer führen. Sodann konnte die Beschwerdeführerin anlässlich der Schlichtungsverhandlung Entschädigungsansprüche von insgesamt 32 Tagen realisieren, was vom Beschwerdegegner zu Recht als mildernd bei der Einstelldauer berücksichtigt wurde.
Ferner handelt es sich bei den behändigten Waren, welche teilweise gar als unverkäuflich anzusehen sind, lediglich um geringfügige Vermögenswerte und überdies weist die Beschwerdeführerin abgesehen von den streitbetroffenen Vorfällen ein offensichtlich tadelloses Arbeitsverhalten auf, worauf nicht zuletzt auch der Umstand hindeutet, dass sie als stellvertretende Filialleiterin eingesetzt wurde. Dies wirkt sich ebenfalls schuldmildernd aus.
5.5 Aufgrund des soeben Dargelegten sowie mit Blick auf die oben genannte Rechtsprechung muten die verfügten 54 Einstelltage als unverhältnismässig hoch an. Ausgehend von der durchschnittlichen Dauer von 45 Einstelltagen und unter Berücksichtigung der oben aufgeführten mildernden Umstände ist das Verschulden im mittleren Bereich des schweren Verschuldens anzusiedeln, wobei sich eine Reduktion auf 40 Einstelltage als verhältnismässig erweist.
Verwaltungsgericht Glarus, Urteil VG.2022.00049 vom 10.11.2022
Sozialhilferecht
Freizügigkeitsgeld bis zum Rentenalter geschützt
Gelder der beruflichen Vorsorge werden für das Pensionsalter angespart. Der Bezug der Gelder vor der Pensionierung ist unzumutbar, wenn bis zum Rentenalter der Grossteil davon verbraucht wäre.
Sachverhalt
Ein Mann aus dem Kanton St. Gallen verlor die Arbeitsstelle. Nachdem ihn die Arbeitslosenversicherung aussteuerte, war er auf Sozialhilfe angewiesen. Er besitzt ein Freizügigkeitskonto mit 203 000 Franken Guthaben. Als er 60 wurde, stellte die Sozialhilfe seiner Wohngemeinde die Unterstützung ein, da er nun das Altersgeld beziehen könne. Der Mann beschwerte sich mit Erfolg vor dem zuständigen kantonalen Departement. Das Verwaltungsgericht bestätigte den Entscheid.
Aus den Erwägungen
2. Altersleistungen von Freizügigkeitspolicen und Freizügigkeitskonten dürfen frühestens fünf Jahre vor und müssen spätestens fünf Jahre nach Erreichen des Rentenalters nach Art. 13 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (bei Männern: 65 Jahre) ausbezahlt werden (Art. 16 Abs. 1 der Verordnung über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [FZV]). Die Entstehung des Anspruchs auf Altersleistungen im Fall einer Frühpensionierung nach Art. 16 Abs. 1 FZV setzt nebst der Erfüllung der im Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen eine Willensäusserung der versicherten Person voraus (BGE 148 III 237 f., E. 6.2.1.2.2 am Schluss). Von Bundesrechts wegen geniessen die Vorsorgeguthaben einen Schutz, der deren Erhaltung dient. Der Vorsorgeschutz wird namentlich durch eine Freizügigkeitspolice oder durch ein Freizügigkeitskonto erhalten (Art. 10 Abs. 1 FZV). Er fällt (erst) nach einem tatsächlich erfolgten Bezug des Freizügigkeitsguthabens dahin (BGE 148 V 124, E. 7.2.1).
3. In der Botschaft des Bundesrats vom 30. Oktober 2019 zum Bundesgesetz über Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose (ÜLG; SR 837.2) wurde in damit zu vereinbarender Weise der Standpunkt vertreten, dass die Freizügigkeitsguthaben der 2. Säule nur ergänzend zu einer (vorbezogenen) AHV-Altersrente aufgelöst werden sollen, damit der Vorsorgezweck erhalten bleibe. Die Sozialdienste würden denn auch in der Regel darauf verzichten, von Sozialhilfebeziehenden (vorgängig) den vorzeitigen Bezug der Freizügigkeitsleistungen zu verlangen (BBl 2019, S. 8271). Hinsichtlich eines Vorbezugs einer AHV-Altersrente, der für Männer frühestens nach Vollendung des 63. Altersjahres zulässig ist, gelangte das Verwaltungsgericht zur Auffassung, dass ein solcher nur ausnahmsweise und erst nach einer sorgfältigen Abwägung aller Umstände von den Sozialhilfebehörden verlangt werden kann (Entscheid B 2015/38 vom 22. Januar 2016, E. 2.2). Diese Überlegungen haben erst recht für einen unfreiwilligen Vorbezug des Freizügigkeitsguthabens zu gelten, der bereits drei Jahre vor dem AHV-Altersrentenvorbezug möglich wäre und damit die für die Altersvorsorge bestimmten Mittel erheblich stärker in Anspruch nehmen würde. Zudem würde das zum frühestmöglichen Zeitpunkt bezogene Freizügigkeitsguthaben – wenn auch bloss noch wenige Jahre bis zum (Vor-)Bezug der AHV-Altersrente – der von Bundesrechts wegen bis zum tatsächlichen Bezug geschützten Invalidenvorsorge entzogen. Hinzu kommt, dass auch das von der St. Gallischen Konferenz der Sozialhilfe herausgegebene KOS-Handbuch (Version vom 1. Januar 2021), worin im Wesentlichen die SKOS-Richtlinien übernommen und vereinzelt ergänzt wurden, vorsieht, dass Vermögen der 2. Säule grundsätzlich zusammen mit dem AHV-Altersrentenvorbezug herauszulösen seien. Älteren Arbeitslosen sei bis zum AHV-Altersrentenvorbezug eine Weiterführung der Altersvorsorge in der 2. Säule bei ihrer bisherigen Vorsorgeeinrichtung zu ermöglichen.
4. Die Vorinstanz zog den ausführlich begründeten Schluss, dass dem gesundheitlich stark angeschlagenen, mehrere Jahre arbeitslosen, inzwischen ausgesteuerten und seit März 2020 zu 100 Prozet arbeitsunfähigen, alleinstehenden Beschwerdegegner ein Vorbezug des Freizügigkeitsguthabens im Zeitpunkt der Vollendung des 60. Altersjahres und die damit verbundene sechsstellige Reduktion des Freizügigkeitsguthabens (von etwas mehr als 200 000 Franken auf günstigstenfalls 99 000 Franken) nicht zugemutet werden kann. Dabei liess sie zu Recht den erhöhten Heilbehandlungsbedarf sowie die damit verbundenen Kosten nicht ausser Acht.
5. Soweit die Beschwerdeführerin auf die Möglichkeit des Bezugs von Ergänzungsleistungen (EL) verweist, gilt es in casu zu beachten, dass bei einem frühestmöglichen Vorbezug der Freizügigkeitsleistungen im Monat der Vollendung des 60. Altersjahres und in den Folgejahren mangels Anspruchs auf eine Rente der 1. Säule noch gar kein entsprechender EL-Anspruch besteht. Damit greift die von der Beschwerdeführerin geforderte Massnahme im Vergleich zu einem Vorbezug der AHV-Altersrente, deren Folgen (prozentuale Kürzung) grundsätzlich unmittelbar durch Ergänzungsleistungen kompensiert werden können, stärker in die Altersvorsorge ein. Die Vorinstanz legte denn auch nachvollziehbar und zutreffend dar, mit welcher erheblichen, im Rahmen einer Gesamtwürdigung letztlich nicht zumutbaren Reduktion des Freizügigkeitsguthabens der Beschwerdegegner konfrontiert wäre.
6. Mit der Vorinstanz ist die Rechtmässigkeit der von der Beschwerdeführerin per 31. Mai 2021 angeordneten Einstellung der Sozialhilfeleistungen folglich zu verneinen. Gemäss vorstehenden Erwägungen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Verwaltungsgericht St. Gallen, Urteil B 2022/74 vom 13.12.2022
Migrationsrecht
Familiennachzug der Eltern einer Schweizer Tochter
Die Anforderungen an einen Familiennachzug sind nicht besonders streng anzusetzen. Konkretisierung der Voraussetzung einer «dauerhaften Aufenthaltsbewilligung» in einem EU- oder Efta-Staat.
Sachverhalt
Ein Seniorenpaar aus Sri Lanka lebte bei seinem Sohn in Italien, wo es auch eine Aufenthaltsbewilligung hatte. Der Sohn starb. Die Eltern zogen zu ihrer Tochter, die einen Schweizer Pass hat und im Kanton Aargau lebt. Das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau verweigerte den Eltern die Aufenthaltsbewilligung. Das Verwaltungsgericht Aargau erlaubte es der Familie hingegen, zusammenzuleben.
Aus den Erwägungen
2.1.1 Gemäss Art. 42 Abs. 2 AIG haben ausländische Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung und deren Verlängerung, wenn sie im Besitz einer dauerhaften Aufenthaltsbewilligung eines Staates sind, mit dem ein Freizügigkeitsabkommen abgeschlossen wurde. Als Familienangehörige im Sinne von Art. 42 Abs. 2 AIG gelten der Ehegatte und die Verwandten in absteigender Linie, die unter 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird (lit. a), sowie die eigenen Verwandten und die Verwandten des Ehegatten in aufsteigender Linie, denen Unterhalt gewährt wird (lit. b).
2.1.2 Die Beschwerdeführer 1 und 2 sind die Eltern der Schweizer Beschwerdeführerin 3. Sie haben daher nach Art. 42 Abs. 2 lit. b AIG jeweils einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zwecks Verbleibs bei der Beschwerdeführerin 3, sofern sie im Gesuchzeitpunkt über eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines Staates verfügten, mit dem ein Freizügigkeitsabkommen besteht, und die Beschwerdeführerin 3 ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits Unterhalt gewährte.
2.2.1.1 Zu der in Art. 42 Abs. 2 AIG statuierten Nachzugsvoraussetzung der dauerhaften Aufenthaltsbewilligung eines Staates, mit dem ein Freizügigkeitsabkommen besteht, hat sich das Bundesgericht – soweit ersichtlich – bislang nicht konkretisierend geäussert (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_574/2020 vom 27. Juli 2021, E. 4.4, wo die Frage ausdrücklich offengelassen wird; vgl. ferner die Weisungen und Erläuterungen des SEM zum Ausländerbereich, deren Ziff. 6.2.2 ebenfalls keine näheren Angaben enthält).
2.2.1.2 Anzumerken bleibt, dass das nationale Gesetzesrecht möglichst verfassungs- und konventionskonform auszulegen ist. Das heisst, die in Art. 42 Abs. 2 AIG festgelegte Nachzugsvoraussetzung der dauerhaften Aufenthaltsbewilligung in einem Staat mit Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz ist so auszulegen, dass sie den Familiennachzug zu Schweizern gemäss Art. 42 Abs. 2 AIG gegenüber demjenigen zu EU-Bürgern in der Schweiz gemäss Art. 3 Anhang I FZA möglichst wenig einschränkt. Dies im Rahmen dessen, was der Wortlaut sowie der Sinn und Zweck der Nachzugsvoraussetzung zulassen.
2.2.1.3 Der Zweck der Nachzugsvoraussetzung besteht demzufolge darin, die Anwendung von Art. 42 Abs. 2 AIG auszuschliessen, «wenn es sich um den Nachzug eines Familienmitglieds direkt aus einem Drittstaat handelt».
Mithin ist das Kriterium der Dauerhaftigkeit so auszulegen, dass ein Nachzugsanspruch gemäss Art. 42 Abs. 2 AIG ausser Betracht fällt, wenn sich die nachzuziehende Person vor Einreichung des Nachzugsgesuchs in die Schweiz lediglich illegal, besuchsweise oder im Rahmen eines anderen zweckgebundenen Kurzaufenthalts in einem Staat aufhält, mit dem ein Freizügigkeitsabkommen besteht. So wird verhindert, dass Familienangehörige von Schweizern, die in einem Drittstaat leben und sich deshalb nach dem Willen des Gesetzgebers nicht auf Art. 42 Abs. 2 AIG sollen berufen können, durch rechtswidrige oder kurzzeitige Verlegung ihres Aufenthalts gleichwohl zu einem Nachzugsanspruch gemäss jener Bestimmung gelangen.
Nach dem Gesagten sind an das Vorliegen einer dauerhaften Aufenthaltsbewilligung in einem Staat mit Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz im Sinne von Art. 42 Abs. 2 AIG keine besonders hohen Anforderungen zu stellen. Die Nachzugsvoraussetzung ist regelhaft bereits dann als erfüllt zu betrachten, wenn im Gesuchszeitpunkt eine gültige Aufenthaltserlaubnis eines entsprechenden Staates vorliegt, die nicht bloss für wenige Monate ausgestellt wurde und die grundsätzlich verlängert werden kann. Dies im Sinne einer möglichst verfassungs- und konventionskonformen Auslegung, welche den Gesetzeszweck verwirklicht, dabei jedoch die aus den bundesgesetzlichen Vorgaben resultierende Inländerdiskriminierung von Schweizern gegenüber EU-Bürgern so gering wie möglich hält. (Vgl. zum Ganzen auch die [nochmals weniger restriktive] Auslegung der Nachzugsvoraussetzung durch Marc Spescha in: Marc Spescha /Andreas Zünd /Peter Bolzli /Constantin Hruschka /Fanny de Weck [Hrsg.], Kommentar Migrationsrecht, 5. Aufl., Zürich 2019, N. 7 zu Art. 42 AIG.)
2.2.2 Die Beschwerdeführer 1 und 2 verfügten bei Einreichung des Familiennachzugsgesuchs vom 22. Oktober 2019 über italienische Aufenthaltsbewilligungen, ausgestellt am 5. Juli 2017 und gültig bis zum 3. Januar 2020. Damit ist nach dem Gesagten die Nachzugsvoraussetzung der dauerhaften Aufenthaltsbewilligung in einem Staat mit Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz erfüllt. Davon, dass die Beschwerdeführer faktisch aus einem Drittstaat in die Schweiz nachgezogen würden, was unter Art. 42 Abs. 2 AIG unzulässig wäre, kann somit keine Rede sein.
2.3.1.1 Weiter setzt ein allfälliger Anspruch der Beschwerdeführer 1 und 2 auf Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen zwecks Verbleibs bei der Beschwerdeführerin 3 gestützt auf Art. 42 Abs. 2 AIG voraus, dass ihnen die Beschwerdeführerin 3 Unterhalt gewährt.
Die Beschwerdeführer 1 und 2 waren im Gesuchszeitpunkt 70 respektive 65 Jahre alt und beide nicht erwerbstätig. Soweit aus den Akten ersichtlich und wie bereits das MIKA festgehalten hat, verfügten sie auch sonst über keine eigenen Einkünfte, etwa aus Renten, und über kein eigenes Vermögen. Soweit aus den Akten ersichtlich, wurde dieser Unterhaltsbedarf im Gesuchszeitpunkt durch die Beschwerdeführerin 3 und deren Ehemann gedeckt, die – vornehmlich durch Gewährung von Kost und Logis – für den Lebensunterhalt der Beschwerdeführer 1 und 2 aufkamen und offenbar bis heute aufkommen.
2.3.1.5 An der Erfüllung der Nachzugsvoraussetzung ändert im vorliegenden Fall auch nichts, dass die Unterhaltsgewährung durch die Beschwerdeführerin 3 erst mit der Einreise der Beschwerdeführer 1 und 2 in die Schweiz einsetzte – und somit erst kurz vor Einreichung des Familiennachzugsgesuchs. Dies stünde einem Familiennachzug gestützt auf Art. 42 Abs. 2 AIG nur dann entgegen, wenn aufgrund der Umstände davon auszugehen wäre, dass zwischen der nachzuziehenden und der nachziehenden Person kein effektives, auf eine tatsächliche familiäre Beziehung hindeutendes Abhängigkeitsverhältnis bestünde, sondern die seit Kurzem bestehende finanzielle Abhängigkeit bloss eingerichtet wurde, um den angestrebten Familiennachzug zu ermöglichen. Hierfür bestehen vorliegend keine konkreten Anhaltspunkte.
2.4 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführer 1 und 2, bei denen es sich um die Eltern der Schweizer Beschwerdeführerin 3 handelt, im Gesuchszeitpunkt über dauerhafte Aufenthaltsbewilligungen eines Staates verfügten, mit dem ein Freizügigkeitsabkommen besteht. Weiter wurde ihnen im Gesuchszeitpunkt durch die Beschwerdeführerin 3 Unterhalt gewährt, während sie selbst nicht in der Lage waren und auch in ihrem vorherigen Aufenthaltsstaat Italien nicht in der Lage gewesen wären, für ihre Grundbedürfnisse aufzukommen.
Damit sind die Anspruchsvoraussetzungen von Art. 42 Abs. 2 AIG allesamt erfüllt und die Beschwerdeführer 1 und 2 haben einen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen zwecks Verbleibs bei ihrer Tochter, der Beschwerdeführerin 3.
Verwaltungsgericht Aargau, Urteil WBE.2021.80 vom 18.5.2022
Schulrecht
Grosses Ermessen der Schulleitung bei Massnahmen
Ein Tritt auf den Kopf eines Mitschülers rechtfertigt Disziplinarmassnahmen der Schulleitung wie etwa Strafaufgaben und ein Fussballverbot.
Sachverhalt
Ein Schüler in der fünften Primarklasse im Kanton Luzern warf einen Mitschüler beim Fussballspiel zu Boden und trat ihm mit dem Fuss auf den Kopf. Die Schulleitung erteilte ihm einen schriftlichen Verweis und verpflichtete ihn zu zusätzlicher Arbeit in der Freizeit von zweimal drei Stunden. Zudem wurde er bis zu den Sommerferien vom Fussballspiel auf dem Schulareal während der Schulzeit ausgeschlossen. Der Schüler wehrte sich – vertreten durch seinen Vater – ohne Erfolg vor dem kantonalen Bildungsdepartemtent.
Aus den Erwägungen
5. Gemäss § 17 Abs. 1 der Verordnung zum Gesetz über die Volksschulbildung (VBV, SRL Nr. 405) können Lernende, die den Schulbetrieb stören, mutwillig Sacheigentum der Schule zerstören oder beschädigen, gegen die Schul- oder Hausordnung und ähnliche Bestimmungen oder gegen Anordnungen der zuständigen Organe, Lehrpersonen oder Fachpersonen der Schuldienste verstossen, disziplinarisch bestraft werden. Als abschliessender Massnahmenkatalog bei einem Fehlverhalten sieht die Verordnung die Verwarnung, die kurze Wegweisung vom Unterricht innerhalb des Schulhauses, zusätzliche Hausaufgaben, zusätzliche Arbeit in der schulfreien Zeit, den schriftlichen Verweis, die Versetzung in eine andere Klasse, den Unterrichtsausschluss bis höchstens vier Schulwochen pro Schuljahr bei gleichzeitiger Beschäftigung (Time-out) sowie den auf mehrere Tage oder Wochen befristeten vollständigen oder teilweisen Schulausschluss vor.
5.2 Dabei kommt der Vorinstanz bei der Wahl der Massnahme beziehungsweise der Massnahmen sowohl ein Entschliessungs- als auch ein Auswahlermessen zu, womit sie einen Spielraum für den Entscheid im Einzelfall erhält (Häfelin / Müller / Uhlmann, a.a.O., N 396 ff.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Schulbehörden in Bezug auf die möglichen und angemessenen Disziplinarmassnahmen über eine grössere Nähe zum Schulbetrieb und einen besseren Einblick in die jeweilige Schulkultur verfügen. Zudem können sie durch ihre Nähe zu den Lernenden besser beurteilen, wie sich Massnahmen auf das Verhalten der betroffenen Lernenden und den gesamten Schulbetrieb auswirken. Schliesslich haben die Schulbehörden auch einen besseren Überblick über vergleichbare Fälle, was eine rechtsgleiche Behandlung im Einzelfall begünstigt.
So wird auch in der Literatur darauf hingewiesen, dass die Bestimmung von Art und Mass der zu ergreifenden Disziplinarsanktionen vorab Sache der zuständigen Behörde sei (Paul Richli / René Wiederkehr, Praxis des Allgemeinen Verwaltungsrechts, Band I, Bern 2012, N 3157). Im Übrigen wird bei Disziplinarmassnahmen auch anderen Behörden im Rahmen von Sonderstatusverhältnissen oder besonderen Aufsichtsfunktionen des Staates ein Ermessen zugestanden. So kommt den zuständigen Behörden beispielsweise ein Ermessen zu bei Disziplinarmassnahmen im Justizvollzug (Urteil des Verwaltungsgerichts Zürich VB.2010.00365 vom 22. September 2010, E. 2.3), im Zivildienst (BVGer-Urteil B-6262/2015 vom 18. März 2016, E. 5.1 f.) oder bei der Aufsicht über die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (BGer-Urteil 2C_114/2020 vom 25. Mai 2020, E. 5.3). Es ist deshalb sachgerecht, dass der Schulleitung auch im vorliegenden Fall ein Ermessen zukommt bei der Beurteilung der Frage, welche der möglichen Disziplinarmassnahmen notwendig sind. Dieses Ermessen ist vom Bildungs- und Kulturdepartement als Rechtsmittelbehörde – trotz grundsätzlich uneingeschränkter Kognition – zu respektieren (vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts Bern 100 2015 335 vom 22. April 2016, E. 4.6; BVGer-Urteil A-4366/2020 vom 18. Mai 2021, E. 7.5; vgl. hierzu auch LGVE 2002 II Nr. 4., E. 6e). Dies bedeutet aber nicht, dass die Schulleitung in ihrer Entscheidung völlig frei ist. Die Schulbehörden sind in ihren Entscheiden dennoch an die Verfassung gebunden und müssen insbesondere das Rechtsgleichheitsgebot, das Willkürverbot, das Verhältnismässigkeitsprinzip und die Pflicht zur Wahrung der öffentlichen Interessen befolgen. Ausserdem sind Sinn und Zweck der gesetzlichen Ordnung auch bei Ermessensentscheiden zu beachten (vgl. Häfelin / Müller/Uhlmann, a.a.O., N 409).
5.3 Im vorliegenden Fall sind der angefochtene disziplinarische Verweis und die zusätzliche Arbeit in der Freizeit geeignet, den Beschwerdeführer dazu anzuhalten, sich künftig an die geltenden Regeln zu halten und insbesondere Konflikte gewaltfrei zu lösen. Eine Disziplinarmassnahme muss im Hinblick auf das im öffentlichen Interesse angestrebte Ziel aber zusätzlich erforderlich sein. So ist unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit nach Möglichkeit die jeweils am wenigsten einschneidende Massnahme zu wählen (vgl. BGer-Urteil 2P.252/2006 vom 13. März 2007, E. 2.5.2).
5.4 Im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit der gewählten Disziplinarmassnahmen ist auf der einen Seite zu berücksichtigen, dass es sich bei einem Tritt in den Kopfbereich nicht um eine Bagatelle handelt. Diesbezüglich weist die Vorinstanz zu Recht darauf hin, dass bei einem Tritt gegen den Kopf ohne Weiteres auch gravierende und bleibende körperliche Schäden entstehen können. Entgegen der Sichtweise des Beschwerdeführers lässt sich ein solcher Tritt auch nicht mit Übereifer im Sport oder mit einer Affekthandlung aufgrund einer bestehenden Wut entschuldigen. Wohl ist nachvollziehbar, dass Kinder und Jugendliche im Affekt sich gelegentlich auch schlagen oder treten. Dabei ist von einem 12-jährigen Jugendlichen aber zu erwarten, dass er sich der Gefährlichkeit von Tritten gegen den Kopf bewusst ist und diese auch im Rahmen einer Affekthandlung unterlässt.
5.5 Schliesslich sind die Massnahmen auch im Hinblick auf ihre Zumutbarkeit verhältnismässig. Wie dargelegt, besteht ein erhebliches öffentliches Interesse an einem geordneten Schulbetrieb. Hinzu kommt vorliegend der Schutz der körperlichen Integrität aller Lernenden als zusätzlich zu schützendes Rechtsgut. Diesbezüglich ist bei einem Fehlverhalten ein konsequentes und wirkungsvolles Eingreifen der Schulbehörden gefordert. Diese öffentlichen Interessen überwiegen vorliegend die privaten Interessen des Beschwerdeführers an der Aufhebung der Disziplinarmassnahmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Massnahmen seinen Anspruch auf ausreichenden Grundschulunterricht nicht tangieren.
6. Zusammenfassend ist vorliegend ein Fehlverhalten des Beschwerdeführers erstellt, welches Disziplinarmassnahmen rechtfertigt. Weiter erweisen sich die von der Vorinstanz in der Verfügung vom 2. Juni 2022 verfügten Disziplinarmassnahmen als geeignet, erforderlich und verhältnismässig. Die Verfügung vom 2. Juni 2022 ist damit zu schützen und die Beschwerde vom 23. Juni 2022 ist abzuweisen.
Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Luzern, Entscheid BKD 2022 3 vom 25.10.2022