Zivilprozess
Unentgeltliche Vertretung auch vor der Kesb möglich
Die Notwendigkeit eines unentgeltlichen Rechtsbeistands kann auch bei Besuchsrechtfällen vor Kindesschutzbehörde gerechtfertigt sein. Hat die Gegenpartei einen Anwalt, verstärkt das Gebot der Waffengleichheit den Bedarf nach einem kostenlosen Vertreter.
Sachverhalt
Ein Vater aus dem Kanton Solothurn verlangte von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) ein Besuchsrecht für seine Tochter. Die Behörde eröffnete ein Verfahren zur Regelung des persönlichen Verkehrs und lud die Eltern zu einer gemeinsamen Verhandlung vor. Die Mutter des Kindes antwortete darauf mit einem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und eines unentgeltlichen Rechtsbeistands. Die Kesb verweigerte ihr beides. Die Mutter wehrte sich erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht dagegen.
Aus den Erwägungen
3.3 Die Beschwerdeführerin führt in ihrer Beschwerde im Wesentlichen aus, der vom Kindsvater beantragte Kontaktaufbau stelle einen durchaus komplexen Sachverhalt dar. Die Beziehung zwischen den Kindseltern sei geprägt von häuslicher Gewalt. Im Mai 2022 habe der Kindsvater die Beschwerdeführerin – einmal mehr im Beisein der gemeinsamen Tochter – mit einem Messer bedroht und ihr gesagt, er werde sie umbringen. Das Verfahren habe eine erhebliche Tragweite.
Die Kindseltern hätten drei gemeinsame Kinder, wovon nur der älteste Sohn Kontakt zum Vater habe. Aufgrund der schweren Gewalt des Vaters hätten der mittlere Sohn und die Tochter den Kontakt zum Vater abgebrochen. Wieso der Kindsvater den Kontakt lediglich zur Tochter wünsche und nicht zum mittleren Sohn, erstaune. Die Beschwerdeführerin spreche zwar Deutsch, jedoch nicht ausreichend, um ein Verfahren vor der Kesb zu verstehen und ihre Rechte wahrzunehmen.
4.1 Nach Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit zur Wahrung ihrer Rechte notwendig, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Die bedürftige Partei hat Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen.
Droht das Verfahren besonders stark in die Rechtsposition der betroffenen Person einzugreifen, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters grundsätzlich geboten, andernfalls nur, wenn zur relativen Schwere des Falles besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen wäre. Dabei sind neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der betroffenen Person liegende Gründe zu berücksichtigen, so das Alter, die soziale Situation, Sprachkenntnisse und allgemein die Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden. Massgebend ist auch das Prinzip der Waffengleichheit.
4.2 Die Kesb stützt sich in ihrer Begründung insbesondere auf einen Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 19. September 2019 (VWBES.2019.200). Darin führte das Verwaltungsgericht aus, die sich stellenden Rechtsfragen über die Modalitäten und die Dauer des Besuchsrechts griffen nicht besonders stark in die Rechtsstellung des Kindsvaters ein, noch seien sie kompliziert oder vielschichtig (VWBES.2019.200, E. 3.3), weshalb die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung nicht gegeben sei. Folglich sei das Gesuch um Beiordnung einer unentgeltlichen Rechtsbeistandschaft abzuweisen.
4.3 Das Bundesgericht hat zwar in diversen Urteilen, in welchen es um die Regelung des Besuchsrechts ging, die Notwendigkeit der Einsetzung einer unentgeltlichen Rechtsbeiständin verneint.
4.4 Die Rechtsprechung zeigt, dass die Verneinung der Notwendigkeit, eine unentgeltliche Rechtsbeistandschaft einzusetzen, stets einzelfallabhängig ist und nicht bloss – wie die Vorinstanz zu Unrecht ausführte – per se verneint werden kann, wenn es um die Regelung des persönlichen Verkehrs geht. Vielmehr kommen diverse weitere Kriterien hinzu, die es zu berücksichtigen gilt. Auch wenn der von der Beschwerdeführerin ins Feld geführte Grundsatz der Waffengleichheit durchaus ein gewichtiges Argument für die Gewährung der Einsetzung einer unentgeltlichen Rechtsbeiständin ist, ist der Vorinstanz beizupflichten, dass der Umstand, dass die Gegenpartei anwaltlich vertreten ist, nicht automatisch dazu führt, dass die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands geboten ist.
Vorliegend geht es nicht bloss um die Modalitäten eines Besuchsrechts, sondern um den Aufbau eines Kontaktrechts vom Vater zur Tochter. Die Beschwerdeführerin führt selbst aus, sie könne zwar Deutsch sprechen, jedoch nicht ausreichend, um ein Verfahren vor der Kesb zu verstehen und ihre Rechte darin wahrzunehmen. Sie habe offenbar der Kesb die Umstände nicht schildern können, warum sie grosse Angst vor dem Kindsvater habe, warum kein Kontakt zwischen Kindsvater und Tochter bestehe und warum sie nicht im gleichen Raum mit dem Kindsvater sitzen möchte. Für einen allfälligen Aufbau eines Kontaktrechts sind dies jedoch entscheidrelevante Umstände. Ausserdem stellt sich die Frage, ob allfällige weitergehende Schutzmassnahmen zu prüfen sind.
Aus diesen Gründen ist vorliegend die Einsetzung einer unentgeltlichen Rechtsbeiständin notwendig. Da eine Rechtsbeiständin einzusetzen ist, hat die Kesb auch den Verhandlungstermin neu anzusetzen.
4.7 Die Beschwerde erweist sich in der Hauptsache als begründet. Sie ist teilweise gutzuheissen. Ziffer 3.2 des Entscheids der Kesb vom 4. März 2024 wird aufgehoben, und das Gesuch um Beiordnung einer unentgeltlichen Rechtsbeiständin vor der Vorinstanz ist gutzuheissen.
Verwaltungsgericht Solothurn, Entscheid VWBES.2024.109 vom 3.6.2024
Strafprozess
Pauschalhonorare für Verteidigung sind zulässig
Gerichte haben den notwendigen Zeitaufwand der Verteidigung aufgrund der Akten zu schätzen, sofern keine Honorarnote vorliegt. Pauschalen sind zulässig, doch sie müssen in einem angemessenen Verhältnis zum Aufwand stehen.
Sachverhalt
Eine regionale Staatsanwaltschaft im Kanton Zürich stellte das Strafverfahren gegen einen Beschuldigten ein und verpflichtete ihn, die Verfahrenskosten zu tragen. Dieser wehrte sich vor dem Obergericht Zürich mit seiner amtlichen Verteidigerin gegen die Kostenauflage. Die Verteidigerin ersuchte um Gelegenheit, die Honorarnote vor Erlass des Entscheids einzureichen. Das Obergericht wies die Beschwerde ab und sprach der Anwältin für das Beschwerdeverfahren eine Entschädigung als amtliche Verteidigerin von 600 Franken zu.
Diese fordert vor dem Bundesstrafgericht mit Beschwerde ein Honorar für das obergerichtliche Verfahren von 2706 Franken. Das Bundesstrafgericht hob den Honorarentscheid des Zürcher Obergerichts zweimal auf. Nach einer dritten Beschwerde entschied das Bundesstrafgericht in der Sache selbst.
Aus den Erwägungen
3.3 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es zulässig, für das Anwaltshonorar Pauschalen vorzusehen. Die Festsetzung des Honorars im Rahmen einer Pauschale verletzt als solche das Recht auf effektive Verteidigung gemäss Art. 32 Abs. 2 BV nicht (BGE 141 I 124, E. 4.2). Pauschalen nach Rahmentarifen erweisen sich aber dann als verfassungswidrig, wenn sie auf die konkreten Verhältnisse in keiner Weise Rücksicht nehmen und im Einzelfall ausserhalb jedes vernünftigen Verhältnisses zu den von der Rechtsanwältin oder vom Rechtsanwalt geleisteten Diensten stehen (BGE 141 I 124, E. 4.3 mit Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichts 6B_856/2009 vom 9. November 2009, E. 4.4).
4.1 In seiner ersten, die vorliegende Streitsache betreffenden Verfügung vom 27. September 2023 hielt der Einzelrichter der Beschwerdekammer insbesondere fest, aus der ungenügenden Begründung der Beschwerdegegnerin in deren Verfügung vom 27. März 2023 werde nicht ersichtlich, ob und in welchem Ausmass sie ein offensichtliches Missverhältnis zwischen dem Streitwert und dem notwendigen Zeitaufwand der amtlichen Verteidigung annehme bzw. auf wie viele Stunden sie diesen veranschlage und inwiefern sie diesen bei der Berechnung ihrer Entschädigung mitberücksichtige.
4.4 Obwohl die Beschwerdegegnerin nunmehr ausdrücklich auf die oben erwähnte Kritik (siehe E. 4.1) an ihrer aufgehobenen Verfügung vom 27. März 2023 Bezug nahm, unterliess sie es auch in ihrer neuen Verfügung vom 9. Oktober 2023, sich konkret zum notwendigen Zeitaufwand der Beschwerdeführerin im kantonalen Beschwerdeverfahren zu äussern. In E. 3.5 der angefochtenen Verfügung hält sie hierzu lediglich fest, dieser sei nicht beziffert worden, und spielt damit vermutlich auf den Umstand an, dass die Beschwerdeführerin im obergerichtlichen Beschwerdeverfahren keine Honorarnote eingereicht habe.
Die Beschwerdegegnerin verkennt dabei, dass die Justizbehörden den notwendigen Zeitaufwand aufgrund der Akten zu schätzen haben, wenn sich die Gebühr nach diesem richtet und keine Honorarnote vorliegt. Dasselbe gilt auch, wenn es sich beim notwendigen Zeitaufwand um ein Kriterium für die Erhöhung oder Ermässigung der Gebühr handelt. Wie bereits in der aufgehobenen Verfügung vom 27. März 2023 gibt die Beschwerdegegnerin zu erkennen, dass sie von einem offensichtlichen Missverhältnis zwischen dem Streitwert und dem notwendigen Zeitaufwand der Vertretung im Sinne von § 2 Abs. 2 AnwGebV/ZH ausgeht.
Da sie es aber erneut unterlassen hat, ihrer Obliegenheit nachzukommen und den notwendigen Zeitaufwand zu schätzen, ist aufgrund der nunmehr angefochtenen Verfügung nach wie vor nicht ersichtlich, in welchem Ausmass die Beschwerdegegnerin ein offensichtliches Missverhältnis zwischen dem Streitwert und dem notwendigen Zeitaufwand der amtlichen Verteidigung annimmt. Aufgrund der fehlenden Schätzung dieses notwendigen Zeitaufwands bleibt auch nicht nachvollziehbar, inwiefern sie diesen bei der Berechnung ihrer Entschädigung mitberücksichtigt.
Der blosse Hinweis der Beschwerdegegnerin, sie habe dem (nicht bezifferten) notwendigen Zeitaufwand mit einer Vervierfachung des Maximalbetrags des einschlägigen Gebührenrahmens bereits erheblich Rechnung getragen, bleibt diesen Punkt betreffend ohne Aussagekraft. Damit bleibt für die Rechtsmittelinstanz namentlich auch unklar, ob und inwiefern die von der Beschwerdegegnerin festgelegte Pauschale auf die konkreten Verhältnisse tatsächlich Rücksicht nimmt und in welchem Verhältnis sie zu den von der Beschwerdeführerin geleisteten Diensten steht. Damit erlaubt die Begründung der angefochtenen Verfügung keine Beurteilung der festgelegten Pauschale auf ihre Verfassungsmässigkeit hin. Sie erweist sich nach wie vor als ungenügend.
4.5 Als Sachgericht ist die Beschwerdegegnerin am besten in der Lage, die Angemessenheit der anwaltlichen Bemühungen zu beurteilen, weshalb ihr ein erheblicher Ermessensspielraum zusteht (vgl. BGE 141 I 124, E. 3.2, S. 126). Diese Sachnähe spricht im Falle einer unzureichenden Begründung eigentlich für eine Rückweisung der Streitfrage an die Beschwerdegegnerin.
Nachdem es die Beschwerdegegnerin nun aber bereits in zwei Verfahren unterlassen hat, ihrer Obliegenheit zur Schätzung des notwendigen Aufwands nachzukommen, und sie sich auch im Rahmen des zweiten Beschwerdeverfahrens in derselben Sache nirgends zu dieser Frage oder auch konkret zur Angemessenheit der von der Beschwerdeführerin nachträglich vorgelegten Leistungsübersicht äussern mochte, ist es – auch zur Vermeidung weiterer Verzögerungen – angezeigt, dass der erneut angerufene Einzelrichter gestützt auf Art. 397 Abs. 2 StPO selbst einen Entscheid in der Sache fällt.
5.4 Das pauschalisierende Vorgehen sieht gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung keine systematische «Kontrollrechnung» mit einem bestimmten Stundenansatz vor (vgl. BGE 143 IV 453, E. 2.5.1, S. 455). Dennoch ist im vorliegenden Fall festzuhalten, dass der der Beschwerdeführerin zugesprochene Nettobetrag von 600 Franken mit Blick auf den gemäss § 3 AnwGebV/ZH für nach Zeitaufwand bemessenen Gebühren grundsätzlich massgebenden Stundenansatz von 220 Franken einer Entschädigung von 2,73 Stunden entspräche. Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber in ihrer nachträglich vorgelegten Leistungserfassung einen Aufwand von 11,42 Stunden geltend.
5.5 Der Umfang der von der Beschwerdeführerin im kantonalen Beschwerdeverfahren verfassten Eingaben beträgt (netto) zehn Seiten für die Beschwerde sowie drei Seiten für die Kurzreplik. Keine der Eingaben scheint inhaltlich ausufernd oder übertrieben zu sein. Die Argumentation erscheint durchwegs sachbezogen. Neben der Frage nach der Rechtmässigkeit der Kostenauflage an sich hatte die Beschwerdeführerin im Rahmen der Beschwerde auch die Genugtuungsforderung des vormals Beschuldigten für den erlittenen Freiheitsentzug zu substanziieren.
Aufgrund der vorliegenden Akten veranschlagt der angerufene Einzelrichter den notwendigen Aufwand im Sinne von § 2 Abs. 2 AnwGebV/ZH für das kantonale Beschwerdeverfahren auf sieben Stunden. Die von der Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin zugesprochene Entschädigung in der Höhe von (netto) 600 Franken würde diesbezüglich einem Stundenansatz von unter 100 Franken entsprechen. Deren Bemessung durch die Beschwerdegegnerin nimmt offensichtlich zu wenig Rücksicht auf die konkreten Verhältnisse des Einzelfalls. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als begründet.
6. Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. Ziff. 1 des Dispositivs der angefochtenen Verfügung ist im Sinne der Erwägungen abzuändern. Diese lautet neu: «Die amtliche Verteidigerin wird für das vorerwähnte Verfahren aus der Gerichtskasse entschädigt mit total Fr. 1615.50 (Fr. 1500.– zzgl. 7,7 Prozent MwSt., ausmachend Fr. 115.50)».
Bundesstrafgericht, Verfügung BB.2023.182 vom 6.6.2024
Betreibungsrecht
Strenge Anforderungen an Nichtigkeit
Mehrmalige Betreibungen für dieselbe Forderung sind nicht in jedem Fall rechtsmissbräuchlich.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer ist Vermögensverwalter aus dem Baselbiet und beriet eine Unternehmerin zwischen 2005 und 2014 in Steuer- und Unternehmensfragen. Dafür erhielt er insgesamt über 248'000 Franken Honorar. Nach dem Tod der Unternehmerin verlangt ihr Sohn Honorarzahlungen zurück und betreibt den Beschwerdeführer wiederholt mit der gleichen Forderung von knapp 374'000 Franken. Der Vermögensverwalter wehrt sich dagegen mit einer Beschwerde. Die Betreibung sei als nichtig zu erklären, weil der Beklagte mit seinen Betreibungen einzig das Ziel verfolge, ihn zu diffamieren. Die kantonale Aufsichtsbehörde weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen
2.2 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung kann eine Betreibung nichtig sein, wenn der Betreibende mehrere Zahlungsbefehle für dieselbe Forderung und über gewichtige Beträge zustellen lässt, ohne jemals Rechtsöffnung zu verlangen oder die Anerkennungsklage zu erheben, wenn er gegen eine Person den Betreibungsweg beschreitet mit dem einzigen Zweck, deren guten Ruf zu schädigen, oder wenn er vor dem Betreibungsamt oder vor dem Betriebenen selbst erklärt, nicht gegen den effektiven Schuldner vorzugehen (BGer 5A_563/2018 vom 12. August 2019, E. 3.5.1; 5A_595/2012 vom 24. Oktober 2012, E. 4, in: SJ 2013 I 188; BGE 115 III 18, E. 3b; James T. Peter in: Basler Kommentar Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs I, Daniel Staehelin, Thomas Bauer, Franco Lorandi (Hrsg.), 3. Aufl., 2021, Art. 8a, N 39).
Dagegen ist die Betreibung nicht schon deswegen nichtig, weil die in Betreibung gesetzte Forderung angeblich rechtsmissbräuchlich sei; darüber hat der ordentliche Richter zu befinden (BGer 5A_563/2018 vom 12. August 2019, E. 3.5.1 m.w.H.; BGE 113 III 2, E. 2b).
Es stellt ausserdem keinen Rechtsmissbrauch dar, wenn der Gläubiger den gesetzlich vorgesehenen Weg der Verjährungsunterbrechung durch Schuldbetreibung einschlägt (Art. 135 Ziff. 2 OR; BGer 5A_252/2015 vom 10. September 2015, E. 4.2; BSK SchKG I-Peter, 3. Aufl., 2021, Art. 8a, N 39).
2.3 Der Beschwerdeführer bringt vorliegend selbst vor, dass der Betreibungsgläubiger B. mit seiner Betreibungsforderung in Höhe von Fr. 373 912.50 in der Betreibung Nr. X die Rückforderung von Honorarbezügen des Beschwerdeführers zwischen 2004 und 2014 geltend macht, wie sich auch aus dem Forderungsgrund im Betreibungsbegehren des Betreibungsgläubigers und im ausgestellten Zahlungsbefehl vom 12. Dezember 2023 ergibt.
Zur Betreibungsforderung hält der Betreibungsgläubiger fest, dass er die Honorarbezüge des Beschwerdeführers als ungerechtfertigt erachte und teilweise zurückfordere. Damit liegt kein Sachverhalt vor, wonach der Betreibungsgläubiger mit seiner Betreibung ganz offensichtlich sachfremde Ziele verfolgt, die nicht das Geringste mit der Zwangsvollstreckung zu tun haben.
Aufgrund der der Betreibungsforderung zugrunde liegenden Honorarstreitigkeit kann ebenso wenig festgestellt werden, dass es dem Betreibungsgläubiger offensichtlich einzig darum gehe, die Kreditwürdigkeit des Beschwerdeführers zu schädigen oder diesen zu diffamieren. Unbestritten ist sodann, dass die Betreibung zum Zweck der Verjährungsunterbrechung erfolgt ist, was ebenfalls aus dem Forderungsgrund im Betreibungsbegehren des Betreibungsgläubigers und im ausgestellten Zahlungsbefehl vom 12. Dezember 2023 hervorgeht und gegen eine offensichtlich rechtsmissbräuchliche Betreibung spricht.
Hingegen könnte Rechtsmissbräuchlichkeit vorliegen, wenn der Betreibungsgläubiger für dieselbe Forderung von Fr. 373'912.50 tatsächlich mehrere Betreibungen eingeleitet hätte, ohne jemals Rechtsöffnung verlangt oder die Anerkennungsklage erhoben zu haben.
Aus einer vom Beschwerdeführer erstellten Übersicht vom 19. Januar 2024 ist zu entnehmen, dass ihm zwischen 18. Dezember 2019 und 11. Januar 2024 insgesamt 17 Zahlungsbefehle zugestellt worden sein sollen, wobei auf diesen Zahlungsbefehlen entweder der Betreibungsgläubiger B., die Y. AG oder die Z. AG als Gläubigerschaft ausgewiesen sein sollen.
Zumal eine Aktiengesellschaft eine eigenständige juristische und wirtschaftliche Rechtseinheit mit eigenen Rechten und Pflichten darstellt sowie selbst betreibungsfähig ist, sind die Betreibungsforderungen in den Betreibungsbegehren der Aktiengesellschaften von denjenigen des Betreibungsgläubigers zu unterscheiden. Gemäss genannter Übersicht soll der Betreibungsgläubiger am 18./19. Dezember 2019, am 18. Januar 2021, am 14. Januar 2022 und am 11. Januar 2024 jeweils Zahlungsbefehle für eine Forderung von Fr. 373'912.55 (in den ersten zwei Betreibungen) bzw. Fr. 373'912.50 (in den letzten zwei Betreibungen) zugestellt haben lassen.
Der Beschwerdeführer gibt allerdings auf seiner Übersicht selbst an, dass der Betreibungsgläubiger in der vorliegenden Betreibung Nr. X erstmals handelnd für sämtliche Erben der Erbengemeinschaft E. die Betreibungsforderung gestellt habe. Anhand der Akten lässt sich für die Aufsichtsbehörde lediglich der letzte Teil des Sachverhaltsvortrags des Beschwerdeführers bestätigen, wonach B. handelnd für die Erbengemeinschaft E. die Betreibung Nr. X gegen den Beschwerdeführer eingeleitet hat.
Selbst wenn der gesamte Sachverhaltsvortrag des Beschwerdeführers zutreffend wäre und er insgesamt 17 Mal vom Betreibungsgläubiger, von der Y. AG oder der Z. AG betrieben worden wäre, ist er mit der hier zu beurteilenden Betreibung Nr. X das erste Mal von der Erbengemeinschaft E. für eine Forderung von Fr. 373'912.50 betrieben worden. Die Betreibung Nr. X des Betreibungsgläubigers B., handelnd für die Erbengemeinschaft E., erweist sich demnach nicht als offensichtlich rechtsmissbräuchlich, womit die Beschwerde vom 20. Januar 2024 abgewiesen werden muss.
4.4 In Bezug auf das Argument des Beschwerdeführers, das Ziel seiner Beschwerde liege darin, die Kenntnisgabe dieser Betreibung an Dritte durch das Betreibungsamt Basel-Landschaft zu verhindern, ist ihm zu entgegnen, dass der Gesetzgeber mit Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG per 1. Januar 2019 ein neues Verfahren eingeführt hat, gestützt auf welches ein Schuldner vom zuständigen Betreibungsamt unter gewissen Voraussetzungen die Nichtbekanntgabe von Betreibungen an Dritte verlangen kann.
Dieses Instrument hat der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben mit Bezug auf 15 vorerwähnte Betreibungen erfolgreich eingesetzt, um den negativen Folgen der Betreibungen entgegenzuwirken. Die dabei entstandenen Kosten des Beschwerdeführers könnten allenfalls im Rahmen eines ordentlichen Gerichtsverfahrens über die geltend gemachte Betreibungsforderung widerklage- oder verrechnungsweise zurückverlangt werden.
Aufsichtsbehörde Schuldbetreibung und Konkurs Basel-Landschaft, Entscheid 420 24 14 vom 19.3.2024
Anwaltsrecht
Strafverteidiger dürfen Geschädigte kontaktieren
Ein Strafverteidiger schrieb einer Geschädigten, um nachzufragen, ob sie den Strafantrag zurückziehen will. Das stellt gemäss der Aufsichtskommission keine unzulässige Privatbefragung dar.
Sachverhalt
Ein Basler Anwalt vertrat seine Mandantin in einem Strafverfahren, in dem sie per Strafbefehl wegen verschiedener Straftaten verurteilt wurde. Ende 2023 erhob der Anwalt Einsprache. Kurze Zeit später schrieb er an eine der Geschädigten ein E-Mail und erklärte ihr, dass seine Mandantin aufgrund ihrer Epilepsie und einer schweren Störung arbeitsunfähig sei und sich an den Vorfall nicht erinnern könne. Er entschuldigte sich im Namen seiner Mandantin und bat die Geschädigte, den Strafantrag zurückzuziehen. Der Staatsanwalt sah darin einen Versuch der Zeugenbeeinflussung und zeigte den Anwalt bei der Aufsichtskommission an.
Aus den Erwägungen
2.2.2 Die berufsrechtlich gebotene Gewissenhaftigkeit (Art. 12 lit. a BGFA) verpflichtet den Anwalt, ausschliesslich mit rechtlich zulässigen Mitteln zu arbeiten. Dem Anwalt ist es daher verboten, bewusst unwahre Behauptungen aufzustellen, das Gericht oder Behörden durch Auflage unrichtiger Beweismittel über einen für die Beurteilung wesentlichen Sachverhalt irrezuführen, Zeugen zu beeinflussen oder mit rechtswidrigen Drohungen auf die Gegenpartei oder den Gang eines Verfahrens einzuwirken (Fellmann, Anwaltsrecht, 2. Auflage, Bern 2017, N 262; VGE VD.2019.205 vom 23. April 2020, E. 3.1).
Mit der selbständigen Kontaktaufnahme mit einer Person, die als Zeuge in Betracht kommt, ist stets eine zumindest abstrakte Gefahr verbunden, dass diese im Prozess nicht mehr unvoreingenommen aussagt (BGE 136 11551, E. 3.2.1; Brunner /Henn / Kriesi, Anwaltsrecht, Zürich 2015, S. 87). Der vorgängige Zeugenkontakt ist nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung indessen nicht absolut verboten. Die Kontaktnahme ist ausnahmsweise zulässig, wenn sie erstens sachlich notwendig ist, zweitens so ausgestaltet ist, dass jede Beeinflussung vermieden wird und die störungsfreie Sachverhaltsermittlung durch die Behörden gewährleistet bleibt, und drittens die Befragung im Interesse des Mandanten liegt (BGE 136 II 551, E. 3.2.2 ff.; näher dazu auch Fellmann, a.a.O., N 230 ff.; Brunner /Henn / Kriese, a.a.O., S. 88 f.).
2.3 Die E-Mail des beanzeigten Advokaten an Frau K. vom 4. Januar 2024 war offensichtlich nicht darauf gerichtet, ihr künftiges Aussageverhalten zu beeinflussen.
Dem beanzeigten Advokaten ging es ausschliesslich darum, sich im Namen seiner Mandantin für deren Verhalten am 7. Mai 2022, das er mit ihrer psychischen Erkrankung erklärte, zu entschuldigen und Frau K. zum Rückzug ihrer Strafanzeige zu bewegen.
Dass bei Antragsdelikten wie vorliegend der Beschimpfung (Art. 177 StGB) und der Sachbeschädigung (Art. 144 StGB) eine Einigung mit der Antragstellerin versucht wird, ist gängige Praxis und in keiner Weise zu beanstanden. Die Absicht einer eigentlichen privaten Zeugenbefragung im Vorfeld der Befragung durch die Staatsanwaltschaft ist in dieser Kontaktnahme nicht zu erkennen. Der beanzeigte Advokat machte zwar Ausführungen zur Motivation der in den anderen vier
Fällen involvierten Gruppe von Frauen, offenbar alles Hundebesitzerinnen, welche es nach seiner Darstellung darauf abgesehen hatten, seiner Klientin ihren geliebten Hund behördlich wegnehmen zu lassen, und zum Umstand, dass – wiederum nach seiner Darstellung – seine Mandantin mindestens in einem Fall ihrerseits zum Opfer tätlicher Übergriffe ihrer Widersacherinnen geworden war. Dies geschah aber gemäss seinen Ausführungen vor dem Hintergrund, dass Frau K. der Strafbefehl, welcher im Übrigen ausschliesslich die beanzeigten Auseinandersetzungen mit den erwähnten Hundebesitzerinnen zum Gegenstand hatte und welcher nach seiner Auffassung das Geschehen sehr einseitig dargestellt hatte, ebenfalls zugestellt worden war.
Der beanzeigte Advokat warb demnach um Verständnis für die Vorgeschichte wie auch die emotionale Notlage seiner Mandantin und wollte auch auf diese Weise Frau K. zum Rückzug ihrer Strafanzeige bewegen. Dass Frau K. in die übrigen vier beanzeigten Vorfällen, wegen derer Frau G. sonst verurteilt worden war, verwickelt gewesen wäre und infolgedessen als Zeugin hierzu hätte befragt werden sollen, wird vom Anzeigesteller nicht dargetan und ergibt sich auch nicht aus den vom beanzeigten Advokaten eingereichten Unterlagen.
Was die (damals noch anstehende) Befragung von Frau K. in eigener Sache angeht, ergibt sich aus den zur Verfügung gestellten Akten nicht, ob im Zeitpunkt des Versands der inkriminierten E-Mail am 4. Januar 2024 bereits festgestanden hat, ob Frau K. als Zeugin oder Auskunftsperson befragt würde. Unabhängig davon weist in dieser Nachricht absolut nichts darauf hin, dass der beanzeigte Advokat Frau K. in irgendeiner Weise aufgefordert oder gar unter Druck gesetzt hätte, den Sachverhalt anders darzustellen, als sie dies bereits getan hatte.
Eine unzulässige Zeugenbeeinflussung liegt demnach nicht vor, umso mehr, als es im Nachgang zur E-Mail vom 4. Januar 2024 offenbar auch nicht zu einem Treffen des beanzeigten Advokaten mit Frau K. gekommen ist, wie es von ihm angeboten worden war. Ein Verstoss gegen die anwaltliche Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung (Art. 12 lit. a BGFA) ist unter diesen Umständen zu verneinen.
Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte Basel-Stadt, Entscheid AK.2024.6 vom 15.4.2024.
Verwaltungsverfahren
Bei Kündigungen ist eine Rechtsmittelbelehrung nötig
Bei öffentlich-rechtlichen Arbeitsverträgen sind schriftliche Anordnungen zu begründen. Dazu gehören auch Kündigungen. Zudem müssen sie eine Rechtsmittelbelehrung enthalten.
Sachverhalt
Einer Heimleiterin aus dem Kanton Zürich wurde auf Ende Juni 2023 gekündigt. Auf Nachfrage erhielt sie ein Schreiben mit den Kündigungsgründen, jedoch ohne Hinweis auf die Rechtsmittel. Die Heimleiterin reichte Rekurs beim Bezirksrat ein und beantragte eine Entschädigung von sechs Monatslöhnen sowie die Auszahlung offener Ferienguthaben. Der Bezirksrat trat nicht darauf ein, da der Rekurs verspätet eingereicht worden sei. Daraufhin erhob die Frau Beschwerde beim Verwaltungsgericht und forderte die Aufhebung des Rekursentscheids sowie einen materiellen Entscheid. Sie sei nicht über die Rechtsmittelfrist informiert worden. Das Verwaltungsgericht Zürich hiess die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen
3.1 Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 VRG ist der Rekurs innert 30 Tagen bei der Rekursinstanz schriftlich einzureichen. Diese Frist beginnt gemäss § 11 Abs. 1 Satz 1 VRG am Tag nach Eröffnung der Ausgangsverfügung. Wird eine Kündigungsverfügung unbegründet eröffnet, beginnt die Rechtsmittelfrist erst mit Zustellung der begründeten Kündigungsverfügung zu laufen (§ 10a lit. b VRG). Gemäss unbestritten gebliebener Darstellung wurde die Kündigungsbegründung der Beschwerdeführerin am 1. März 2023 übergeben.
Die Rechtsmittelfrist hätte demnach am (Freitag, dem) 31. März 2023 geendet. Der erst am (Mittwoch, dem) 5. April 2023 erhobene Rekurs erwiese sich damit als verspätet. Das anerkennt auch die Beschwerdeführerin; sie macht aber geltend, weil die Ausgangsverfügung keine Rechtsmittelbelehrung enthalten habe, liege keine verspätete Rekurserhebung vor.
3.2 Nach § 10 Abs. 1 VRG sind schriftliche Anordnungen zu begründen und mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen. Die Rechtsmittelbelehrung ist formelles Gültigkeitserfordernis einer Anordnung; fehlt sie, beginnt die Rechtsmittelfrist nicht zu laufen und kann eine Anordnung grundsätzlich nicht in Rechtskraft erwachsen. Allerdings können Adressaten einer ohne Rechtsmittelbelehrung eröffneten Anordnung nach Treu und Glauben nicht beliebig lange mit der Anfechtung zuwarten; vielmehr sind sie gehalten, die Anordnung innert nützlicher Frist anzufechten bzw. sich zumindest nach dem Rechtsmittel zu erkundigen.
Wie lange nach Treu und Glauben mit dem Tätigwerden zugewartet werden kann, ist von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängig, wobei bei rechtskundigen oder rechtskundig vertretenen Personen ein strengerer Massstab angesetzt wird als bei Laien.
Vorliegend enthielten weder das Kündigungsschreiben vom 27. Dezember 2022 noch das Begründungsschreiben vom 20. Februar 2023 eine Rechtsmittelbelehrung oder überhaupt einen Hinweis auf die Anfechtbarkeit. Einzig die Möglichkeit, innert 30 Tagen eine Begründung zu verlangen, wird im Schreiben vom 27. Dezember 2022 erwähnt, dies allerdings wiederum, ohne darauf hinzuweisen, dass das Anfechtungsrecht verwirkt, wenn nicht innert Frist eine Begründung verlangt wird. Dieses Schreiben vermittelt im Übrigen den Eindruck, der Beschwerdegegner habe damit ein Gestaltungsrecht ausgeübt und nicht über ein öffentlich-rechtliches Anstellungsverhältnis verfügt.
Beim Begründungsschreiben vom 20. Februar 2023 handelt es sich sodann nicht um eine begründete Kündigung, sondern nur um eine Aufzählung von Kündigungsgründen. Dementsprechend ist für Laien kaum erkennbar, dass mit diesem Schreiben der Rechtsmittelweg gegen die Kündigung eröffnet wird. Schliesslich ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass dieses Schreiben der Beschwerdeführerin übergeben und damit in eher informellem Rahmen statt auf dem üblichen Weg mittels eingeschriebener Sendung eröffnet wurde.
Angesichts dieser Umstände konnte die Beschwerdeführerin die Anfechtbarkeit des Schreibens vom 20. Februar 2023 nicht ohne weiteres erkennen. Entgegen der Vorinstanz ist die Beschwerdeführerin sodann nicht allein deswegen als prozesserfahren anzusehen, weil sie in einem personalrechtlichen Rekursverfahren namens des Beschwerdegegners Kündigung und Rekursantwort unterzeichnete. Auch aus ihrer Stellung als Heimleiterin lässt sich nicht schliessen, dass sie trotz fehlender Rechtsmittelbelehrung hätte erkennen müssen, dass mit Übergabe der Kündigungsbegründung eine Rechtsmittelfrist von 30 Tagen zu laufen begann.
Angesichts der schweren formellen Mängel, die sowohl dem Kündigungsschreiben als auch dem Begründungsschreiben anhaften, wurde die Beschwerdeführerin mit ihrer Rekurserhebung fünf Tage bzw. drei Arbeitstage nach Ablauf der Rekursfrist noch innert nützlicher Frist tätig. Die Vorinstanz ist demnach zu Unrecht auf den Rekurs nicht eingetreten.
4. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen und der Beschluss der Vorinstanz vom 16. August 2023 aufzuheben. Die Angelegenheit ist zur weiteren Behandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, Entscheid VB.2023.00553 vom 21.12.2023
Sozialversicherungsrecht
Streit um Gutachter: Einigungsversuch zwingend
Bei der Anordnung von monodisziplinären Gutachten sind IV-Stellen verpflichtet, einen Einigungsversuch durchzuführen, wenn gegen den Gutachter Einwände vorgebracht werden.
Sachverhalt
Die IV-Stelle des Kantons Luzern ordnete in einem Verfahren um Zusprache einer Rente die monodisziplinäre Begutachtung durch einen Arzt an. Die Betroffene wehrte sich gegen den vorgeschlagenen Gutachter. Die IV-Stelle hielt am vorgeschlagenen Gutachter fest. Die Beschwerdeführerin kritisierte vor dem Kantonsgericht, die IV-Stelle habe es vernachlässigt, vor dem Erlass einer Verfügung eine Einigung über die Person des Gutachters durchzuführen. Das Kantonsgericht Luzern gab ihr recht.
Aus den Erwägungen
3.4.1 Der Ablauf eines Einigungsverfahrens ist im Kreisschreiben über das Verfahren in der IV (KSVI) wie folgt beschrieben: Sofern Ausstandsgründe oder Einwände vorgebracht werden, prüft die IV-Stelle, ob einer der folgenden Ausstandsgründe (Art. 36 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 VwVG) vorliegt: Der Sachverständige hat in der Sache ein persönliches Interesse; der Sachverständige ist mit einer Partei in gerader Linie oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder verschwägert oder durch Ehe, Verlobung oder Kindesannahme verbunden; der Sachverständige ist aus anderen Gründen in der Sache befangen (KSVI Rz. 3080).
Liegt ein Ausstandsgrund nach Rz. 3080 vor, legt die IV-Stelle unter Berücksichtigung der Gegenvorschläge der versicherten Person einen neuen Sachverständigen fest. Die IV-Stelle stellt der versicherten Person eine neue Mitteilung mit dem Namen sowie dem Facharzttitel der mit dem Gutachten beauftragten Person zu. Nach Ablauf der zehntägigen Frist für die Erhebung von Ausstandsgründen oder Einwänden wird der Auftrag an die begutachtende Person erteilt (KSVI Rz. 3081). Liegt kein Ausstandsgrund nach Rz. 3080 vor, aber die versicherte Person hat andere Einwände gegen die Wahl des Sachverständigen geltend gemacht, findet ein Einigungsversuch statt.
Die IV-Stelle prüft, ob sie einen der von der versicherten Person vorgeschlagenen Sachverständigen annehmen kann (KSVI Rz. 3082). Hat die versicherte Person keine Gegenvorschläge eingereicht oder kann die IV-Stelle keinen der vorgeschlagenen Sachverständigen annehmen, muss eine Einigung gesucht werden (Art. 7j Abs. 1 ATSV; KSVI Rz. 3083). Dafür hat die IV-Stelle der versicherten Person die Liste der Sachverständigen nach Art. 57 Abs. 1 lit. n IVG und Art. 41b IVV vorzulegen (KSVI Rz. 3084).
5.2.2 Das Vorgehen der IV-Stelle entspricht nicht demjenigen, welches für sie grundsätzlich nach KSVI verbindlich ist. Nachdem die IV-Stelle zum Schluss gekommen war, sie könne die Gegenvorschläge nicht beachten, hätte sie im Rahmen des Einigungsverfahrens der Beschwerdeführerin die Liste der Sachverständigen nach Art. 57 Abs. 1 lit. n IVG und Art. 41b IVV vorlegen müssen. Indem die IV-Stelle jedoch zu den Gegenvorschlägen nicht begründet Stellung genommen hat, verletzte sie ihre Begründungspflicht und damit das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin.
Die Korrektive zur Stärkung der Partizipationsrechte gebieten zudem ein konsensorientiertes Vorgehen bei der Auswahl einer Gutachterstelle resp. einer Gutachterperson, welches über die blosse Prüfung allfälliger Ablehnungs- bzw. Ausstandsgründe hinaus – im Interesse einer verbesserten Akzeptanz bei den Betroffenen – auf ein Einvernehmen mit den Versicherten abzielt. Daraus folgt, dass auch dann auf eine Einigung hinzuwirken ist, wenn keine Ausschliessungs- und Ausstandsgründe vorliegen.
Zu diesem Zweck muss sich die IV-Stelle mit den Vorschlägen der versicherten Personen auseinandersetzen und prüfen, ob die vorgeschlagenen Gutachterpersonen grundsätzlich in Frage kommen. Entspricht eine vorgeschlagene Gutachterperson nach Ansicht der IV-Stelle diesen Anforderungen nicht, hat sie dies der versicherten Person mitzuteilen, wobei sie darzulegen hat, von welchen Überlegungen sie sich leiten liess. Dieses Versäumnis holte sie auch im vorliegenden Verfahren nicht nach, weshalb eine Heilung der Verletzung des rechtlichen Gehörs ausgeschlossen ist. Damit führte die IV-Stelle trotz entsprechender Bezeichnung kein rechtsgenügliches Einigungsverfahren durch.
6. Zusammenfassend ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Sinn gutzuheissen, dass die Verfügung vom 7. Juni 2023 aufzuheben und die Sache an die IV-Stelle zur ordentlichen Durchführung des Einigungsverfahrens gemäss den anwendbaren Rechtsgrundlagen und dem KSVI zurückzuweisen ist.
Kantonsgericht Luzern, Entscheid 5V 23 203 vom 29.1.2024
Entschädigung für Hilflosigkeit deckt Begleitung nicht ab
Die lebenspraktische Begleitung ist ein eigenständiges Institut der Hilfe für ausserhalb eines Heims lebende IV-Versicherte dar. Sie schliesst den Anspruch auf Hilflosenentschädigung nicht aus.
Sachverhalt
Ein Urner bezieht seit 2003 eine ganze Rente der Invalidenversicherung. 2022 beantragte er die Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung. Die IV-Stelle wies sein Gesuch ab. Der Kläger verlangt vor Obergericht, ihm solle mindestens eine Hilflosenentschädigung leichten Grades ausgerichtet werden.
Aus den Erwägungen
4. Versicherte mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die hilflos sind, haben Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung (Art. 42 Abs. 1 IVG). Als hilflos gilt eine Person, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 9 ATSG). Es ist zu unterscheiden zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit (Art. 42 Abs. 2 IVG). Als hilflos gilt ebenfalls eine Person, welche zu Hause lebt und wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 IVG).
4.1 Da der Beschwerdeführer unbestrittenermassen nur in einem Lebensbereich (Fortbewegung) hilflos ist, fällt eine Hilflosenentschädigung basierend auf einer mittelschweren oder schweren Hilflosigkeit von vornherein ausser Betracht (Art. 37 Abs. 1 und 2 IVV e contrario).
4.2 Die Hilflosigkeit gilt gemäss Art. 37 Abs. 3 IVV als leicht, wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von Hilfsmitteln (alternativ) in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist (lit. a), einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf (lit. b), einer durch das Gebrechen bedingten ständigen und besonders aufwendigen Pflege bedarf (lit. c), wegen einer schweren Sinnesschädigung oder eines schweren körperlichen Gebrechens nur dank regelmässigen und erheblichen Dienstleistungen Dritter gesellschaftlichen Kontakt pflegen kann (lit. d) oder dauernd auf lebenspraktische Begleitung im Sinne von Art. 38 IVV angewiesen ist (lit. e).
4.3 Ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung liegt gemäss Art. 38 Abs. 1 IVV vor, wenn eine volljährige versicherte Person ausserhalb eines Heimes lebt und infolge Beeinträchtigung der Gesundheit ohne Begleitung einer Drittperson nicht selbständig wohnen kann (lit. a), für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung einer Drittperson angewiesen ist (lit. b), oder ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren (lit. c).
Zu berücksichtigen ist nur die lebenspraktische Begleitung, die regelmässig und im Zusammenhang mit einer der Situationen nach Absatz 1 erforderlich ist.
Die Notwendigkeit einer Dritthilfe ist objektiv nach dem Gesundheitszustand der versicherten Person zu beurteilen. Grundsätzlich unerheblich ist die Umgebung, in welcher sich der Versicherte aufhält. Es darf mithin keine Rolle spielen, ob die versicherte Person allein lebt, zusammen mit dem Lebenspartner, mit Familienmitgliedern oder in einer der heutzutage verbreiteten neuen Wohnformen. Massgebend ist einzig, ob die versicherte Person, wäre sie auf sich allein gestellt, erhebliche Dritthilfe in Form von Begleitung und Beratung benötigen würde. Von welcher Seite diese letztlich erbracht wird, ist ebenso bedeutungslos wie die Frage, ob sie kostenlos erfolgt oder nicht.
6. Die Beschwerdegegnerin hält in ihrer Stellungnahme vom 26. Juni 2023 fest, die von ihr beim Beschwerdeführer wegen bestehender Sturzgefahr in der Lebensverrichtung «Fortbewegung» angerechnete Hilflosigkeit könne nicht zusätzlich bei der Beurteilung der Überwachungsbedürftigkeit und/oder der lebenspraktischen Begleitung im Rahmen von Art. 38 Abs. 1 lit. b IVV berücksichtigt werden.
6.1 Der Beschwerdeführer bringt in seiner Eingabe vom 24. Mai 2023 demgegenüber vor, das Argument der Beschwerdegegnerin, dass die regelmässige Hilfe bei einer Lebensverrichtung (deren Notwendigkeit gemäss Abklärungsbericht bei der Fortbewegung ausgewiesen sei) nicht zusätzlich bei der lebenspraktischen Begleitung berücksichtigt werden dürfe, gehe vorliegend völlig fehl und verletze die gesetzlichen Bestimmungen (Art. 42 IVG). Das eine schliesse das andere überhaupt nicht aus. Die lebenspraktische Begleitung stelle ein zusätzliches und eigenständiges Institut der Hilfe für ausserhalb eines Heimes lebende Versicherte dar (BGE 133 V 450).
6.2 Es ist zwar zutreffend, dass die gleiche Hilfeleistung nur einmal – das heisst entweder als Hilfe bei der Teilfunktion der alltäglichen Lebensverrichtung oder als lebenspraktische Begleitung – berücksichtigt werden darf. Dies bedeutet jedoch nicht, dass – wie die Beschwerdegegnerin anzunehmen scheint – die Berücksichtigung der Dritthilfe zwingend bei den alltäglichen Lebensverrichtungen zu erfolgen hat. In gewissen Konstellationen ist eine Hilflosigkeit – je nachdem, ob eine benötigte Hilfeleistung bei alltäglichen Lebensverrichtungen oder bei der lebenspraktischen Begleitung berücksichtigt wird – zu verneinen (Art. 37 Abs. 3 lit. a IVV e contrario, wenn nur in einer alltäglichen Lebensverrichtung hilflos) oder zu bejahen (Art. 37 Abs. 3 lit. e IVV).
Es kann in diesen Fällen nicht angehen, sämtliche von der versicherten Person benötigte Dritthilfe unter einen Bereich der alltäglichen Lebensverrichtungen zu subsumieren, um so die Notwendigkeit der lebenspraktischen Begleitung zu verneinen. Vielmehr kann und soll eine Berücksichtigung der Hilfe bei der lebenspraktischen Begleitung erfolgen, sofern dadurch ein Anspruch auf Hilflosenentschädigung entsteht. Denn bei der Zuordnung einer Hilfeleistung hat eine funktional gesamtheitliche Betrachtungsweise Platz zu greifen (BGer 9C_381/2020 vom 15.2.2021, E. 5.1.2).
9. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beschwerdegegnerin die Grundlagen für einen Anspruch auf eine lebenspraktische Begleitung ungenügend abgeklärt hat. Von einer Rückweisung zur ergänzenden Abklärung kann jedoch abgesehen werden, da aufgrund der Akten ein Hilfebedarf von mindestens zwei Stunden pro Woche ab Oktober 2022 ausgewiesen ist und somit die Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades erfüllt sind.
Obergericht Uri, Entscheid OG V 23 19 vom 16.2.2024.