Familienrecht
Sohn darf den Vater in U-Haft nicht besuchen
Das Kantonsgericht Basel-Landschaft lehnt ein Besuchsrecht für den Vater eines vierjährigen Kindes ab, weil der Besuch in Untersuchungshaft nur mit einer Trennscheibe möglich sei.
Sachverhalt
Ein 34-jähriger Mann aus dem Baselbiet kam im August in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen ihn wegen häuslicher Gewalt gegen seine Ex-Partnerin. Die beiden sind nicht verheiratet und haben einen gemeinsamen vierjährigen Sohn. Im November beantragte der Mann bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, ihm sei vorsorglich ein Besuchsrecht einzuräumen, sodass der Sohn ihn alle zwei Wochen im Gefängnis besuchen könne.
Aus den Erwägungen
4.1 Gemäss Art. 307 Abs. 1 ZGB trifft die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe sorgen oder sie dazu ausserstande sind. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde trifft alle für die Dauer des Verfahrens notwendigen Massnahmen (Art. 314 Abs. 1 ZGB i.V.m. Art. 445 Abs. 1 ZGB). Vorsorgliche Massnahmen müssen unumgänglich, das heisst so dringlich sein, dass der ordentliche, spätere Entscheid nicht abgewartet werden kann, ohne einen erheblichen Nachteil für die betroffene Person in Kauf zu nehmen (Christoph Häfeli, Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, 3. Auflage, Bern 2021, Rz. 826).
4.2 Grundsätzlich haben Eltern, denen die elterliche Sorge oder Obhut nicht zusteht, und das minderjährige Kind Anspruch auf persönliche, direkte und private Kontakte.
4.3 Wird das Wohl des Kindes durch den persönlichen Verkehr gefährdet, üben die Eltern ihn pflichtwidrig aus, haben sie sich nicht ernsthaft um das Kind gekümmert oder liegen andere wichtige Gründe vor, so kann ihnen das Recht auf persönlichen Verkehr verweigert oder entzogen werden. Materiell-rechtlich beruht die Einschränkung des Besuchsrechts auf Art. 273 ZGB und Art. 274 Abs. 2 ZGB. Bei der Beschränkung des persönlichen Verkehrs ist stets das Gebot der Verhältnismässigkeit zu beachten (Häfeli, a.a.O., Rz. 1080).
5.2 Da dem beschwerdeführenden Kindsvater weder die elterliche Sorge noch die Obhut über E. zusteht, sind die Voraussetzungen zur Anspruchsprüfung auf persönlichen Verkehr grundsätzlich erfüllt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der sich in Untersuchungshaft befindende Beschwerdeführer zurzeit über keine eigene Wohnung verfügt. Denn die Inhaftierung als solche schliesst im Grundsatz ein Besuchsrecht nicht von vornherein aus, selbst wenn diese bereits für sich alleine für das Kindeswohl unbestrittenermassen eine Belastung darstellt (Urteil des Bundesgerichts 5C.93/2005 vom 9. August 2005, E. 4.3, publiziert in FamPra.ch 2006, S. 183 ff.).
Andererseits stellt die Inhaftierung einen besonderen Umstand dar, der im Hinblick auf die Beurteilung des Kindeswohls eine vertiefte Prüfung einerseits der daraus resultierenden Umstände und andererseits der Erfordernisse nach zusätzlichen (Kindesschutz-)Massnahmen erfordert. Auch der Sozialbericht Kindesschutz vom 16. November 2022 hält diesbezüglich fest, dass das Kind in einem (örtlich) adäquaten Rahmen Kontakt zu seinem Vater aufbauen können müsse.
In der aktuell vorherrschenden Situation bedingt durch die Untersuchungshaft seien die Rahmenbedingungen zum Aufbau für eine solche adäquate Besuchssituation nicht gegeben. Aus den Verfahrensakten ergibt sich insbesondere, dass E. und sein Vater bei einem Besuch vor Ort permanent durch eine Trennscheibe getrennt wären. Dem vierjährigen E., der sowohl von der Untersuchungshaft als auch vom Grund der Inhaftierung keine Kenntnis hat, wäre es dadurch in einer für ihn völlig neuen und unbekannten Umgebung nicht möglich, seinen Vater physisch anzufassen beziehungsweise von ihm in die Arme genommen zu werden, obwohl dies in dieser Situation und nach einer so langen Zeit wohl sein grösstes Bedürfnis wäre. Dass dieser Umstand für E. ohne Zweifel traumatisierend wäre, bedarf keiner weiteren Erläuterungen. Auch die Anwesenheit einer Drittperson im Rahmen eines begleiteten Besuchsrechts würde nichts an der beschriebenen Traumatisierung ändern. Deshalb verunmöglichen bereits die momentan in der Untersuchungshaft geltenden strikten Besuchsempfangsauflagen eine im Kindeswohl von E. liegende Umsetzung der Besuchskontakte.
5.3.1 Neben den Wohnverhältnissen des Besuchsberechtigten sind insbesondere die folgenden Umstände und Kriterien bei der konkreten Regelung des Besuchsrechts zu prüfen: Alter des Kindes, Persönlichkeit und Bedürfnisse des Kindes und des Besuchsberechtigten, Beziehung des Kindes zum Besuchsberechtigten, Beziehung der Eltern untereinander, zeitliche Beanspruchung bzw. Verfügbarkeit aller Beteiligten, Gesundheitszustand aller Beteiligten sowie Entfernung bzw. Erreichbarkeit des Wohnortes des besuchsberechtigten Elternteils. Der aktenkundige Abklärungsstand im vorsorglichen Massnahmeverfahren ermöglicht dazu die folgenden Rückschlüsse:
5.3.2 E. ist vierjährig und damit im Kleinkindalter, in welchem er viele Umstände noch nicht adäquat erfassen, nachvollziehen oder richtig einordnen kann. Ein Kind in seinem Alter hat vor allem das Bedürfnis nach Harmonie zu und unter seinen Eltern. Wie bereits erwähnt, weiss E. nicht, dass und weshalb genau sein Vater im Gefängnis ist, sondern meint, dass dieser auf einer Geschäftsreise weilt. Der Umstand, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund der ihm vorgeworfenen Delikte gegen die Mutter von E. in Untersuchungshaft befindet, erschwert die altersgerechte Kommunikation gegenüber E. um ein Vielfaches. Dass die Beschwerdegegnerin aufgrund des Vorgefallenen keinen Kontakt mehr zum Beschwerdeführer haben will, ist mehr als nachvollziehbar und hat zur Konsequenz, dass eine direkte Absprache und Einigung der Eltern auf absehbare Zeit nicht mehr möglich ist. Erschwerend kommt hinzu, dass vor der Inhaftierung des Beschwerdeführers nicht eine gefestigte und gut funktionierende Vater-Kind-Beziehung bestand, auf welche nun unter den neuen erschwerten Voraussetzungen aufgebaut werden könnte. Ein allfälliger Vollzug des Besuchsrechts, und zwar unabhängig davon ob in der Untersuchungshaft, im ordentlichen Strafvollzug oder in einer geschlossenen Psychiatrie, setzt deshalb voraus, dass E. altersgerecht über das Vorgefallene und die daraus resultierenden Konsequenzen informiert wird, was aufgrund der beschriebenen Komplexität der Verhältnisse eine gewisse Zeit dauert.
5.4 Ob ein späterer Vollzug des Besuchsrechts so möglich sein wird, dass er kindeswohlgerecht umgesetzt werden kann, wird das laufende Abklärungsverfahren zeigen müssen. Dazu ist eine sorgfältige Prüfung aller relevanten Umstände und des Erfordernisses von weiteren Massnahmen notwendig. Aus dem Gesagten ist zusammengefasst festzuhalten, dass eine Bewilligung des Besuchsrechts, ohne die aufgezeigten erforderlichen Abklärungsergebnisse abzuwarten, zum jetzigen Zeitpunkt eine Gefährdung des Kindeswohls von E. darstellt.
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Entscheid 810 22 271 vom 1.2.2023
Zivilprozessrecht
Digitale Beschwerde nur «eingeschrieben» zulässig
Eine digitale Eingabe über die Zustellplattform Incamail muss zwingend mit der Versandart «Eingeschrieben» verschickt werden. Auf eine Beschwerde mit Versandart «vertraulich» trat das Obergericht Zürich nicht ein.
Sachverhalt
Ein Mann aus dem Kanton Zürich unterlag im Eheschutzverfahren vor dem zuständigen Bezirksgericht. Seine Anwältin erhob dagegen mit einer elektronischen Eingabe Beschwerde. Sie verschickte diese unter der Kategorie «Vertraulich» der Zustellplattform Incamail der Schweizerischen Post. Das Obergericht Zürich trat nicht auf die Beschwerde ein. Hinreichend seien nur elektronische Eingaben mit der Versandart «Eingeschrieben».
Aus den Erwägungen
4. a) Gemäss Art. 143 Abs. 2 ZPO ist bei elektronischer Einreichung für die Wahrung einer Frist der Zeitpunkt massgebend, in dem die Quittung ausgestellt wird, die bestätigt, dass alle Schritte abgeschlossen sind, die auf der Seite der Partei für die Übermittlung notwendig sind. Der Gesetzgeber statuierte damit ausdrücklich das Empfangsprinzip: Der Eingang der Sendung muss innert Frist bestätigt worden sein (Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO] vom 28.6.2006, BBl. 2006, S. 7221 ff., S. 7308). Mit dem blossen Eingang beim Gericht ohne Bestätigung ist die Frist nicht gewahrt (ZK ZPO-Staehelin, Art. 143 N. 5; ähnlich BGer 2C_502/2018 vom 4.4.2019, E. 2.4 f.). Konkret ist der Zeitpunkt massgebend, in welchem die von den Verfahrensbeteiligten verwendete Zustellplattform die Quittung ausstellt, dass sie die Eingabe zuhanden der Behörde erhalten hat (Abgabequittung; Art. 8b Abs. 1 VeÜ-ZSSV).
c) Die eingereichte Bestätigungs-E-Mail erfüllt die Anforderungen an die (zertifizierte) Quittung nicht. Insbesondere fehlen die Angaben, ob es sich um eine Abgabe-, Abhol-, Verfall- oder Annahmeverweigerungsquittung handelt, sowie der Zeitstempel und die elektronische Signatur.
d) Ergänzend ist Folgendes anzumerken: Zurzeit sind zwei Zustellplattformen anerkannt, nämlich Privasphere Secure Messaging sowie Incamail der Schweizerischen Post (www.bj.admin.ch/bj/de/ home/staat/rechtsinformatik/e- uebermittlung.html, besucht am 20.1.2023). Bei Incamail gibt es die Versandarten «Vertraulich», «Persönlich» und «Eingeschrieben». Der Absender von vertraulichen und persönlichen Incamail-Nachrichten erhält eine Versandbestätigung, während ihm beim Einschreiben eine Versand- und Empfangsquittung in Form einer signierten PDF-Datei zugestellt wird. Nur wer bei Incamail die Versandart «Eingeschrieben» wählt, erhält somit eine Abgabequittung im Sinne von Art. 143 Abs. 2 ZPO (s. Peter Guyan / Lukas Huber, Elektronischer Rechtsverkehr nach VeÜ-ZSSchK, AJP 2011, S. 74 ff., S. 79). Das Gericht verstösst nicht gegen das Verbot des überspitzten Formalismus, wenn es auf eine elektronische Eingabe nicht eintritt, welche die Voraussetzungen an die Form solcher Eingaben nicht erfüllt (BGer 5A_650/2011 vom 27.1.2012, E. 4).
e) Die Rechtsvertreterin des Gesuchstellers bediente sich der Versandart «Vertraulich» von Incamail und erhielt entsprechend keine signierte PDF-Datei, welche den Anforderungen an die Abgabequittung genügt. Sie wählte damit einen Übermittlungsweg, mit welchem – wie bei einer gewöhnlichen E-Mail (Georges Chanson, «Durchklick»: Fristwahrung auf elektronischem Weg, Anwaltsrevue 2012, S. 248 ff.) – keine fristwahrenden elektronischen Eingaben möglich sind.
f) Zusammenfassend ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.
Obergericht Kanton Zürich, Beschluss RE220012 vom 25.1.2023
Strafprozessrecht
Ohne Einsicht in Beweismittel keine Verurteilung
Ein Beschuldigter darf ohne Einsicht in die wesentlichen Beweismittel nicht schuldig gesprochen werden. Gestützt auf diesen elementaren Verfahrensgrundsatz hob das Kantonsgericht Luzern einen Schuldspruch des Bezirksgerichts auf.
Sachverhalt
Ein Mann aus dem Tibet stellte 2011 in der Schweiz ein Asylgesuch. Dieses wurde insbesondere gestützt auf ein sogenanntes Lingua-Gutachten verweigert. Laut dieser umstrittenen Herkunftsanalyse stammt der Schutzsuchende nicht aus Tibet. Das Staatssekretariat für Migration (Sem) verweigerte dem Betroffenen jedoch die Einsicht in das Lingua-Gutachten. Das Bezirksgericht Luzern verurteilte den Mann wegen rechtswidrigen Aufenthalts in der Schweiz. Der Betroffene wehrte sich beim Kantonsgericht Luzern erfolgreich gegen die Verurteilung.
Aus den Erwägungen
2.2.1 Der Beschuldigte stellt den Antrag auf Edition sämtlicher Akten beim Sem, einschliesslich der Lingua-Analyse.
2.2.2 Die Strafbehörden sind bei der Beurteilung einer Bestrafung wegen rechtswidrigen Aufenthalts in der Schweiz resp. wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht zur Beschaffung von Ausweispapieren grundsätzlich an die Entscheide der Ausländerbehörden gebunden. Sie weichen von einem rechtskräftigen Wegweisungsentscheid lediglich dann ab, wenn sich dieser als offensichtlich unzulässig erweist (BGer-Urteile 68_38512019 vom 27.9.2019, E. 3.3.1, 68_1055/2017 vom 9.11.2017, E. 2.3, 68_56612017 vom 9.11.2017, E. 3.3, je mit Hinweisen).
Das Kantonsgericht erachtete es als unerlässlich, beim Sem die vollständigen Akten edieren zu lassen, um der Verteidigung im Strafverfahren das rechtliche Gehör im Hinblick auf allfällige Vorbringen zur offensichtlichen Unzulässigkeit des rechtskräftigen Wegweisungsentscheids zu gewähren. Nachdem das Sem auf mehrfache Aufforderung des Kantonsgerichts sich geweigert hatte, vollumfänglich Einsicht in die Akten des Sem betreffend den Beschuldigten (namentlich in die Lingua-Analyse) zu gewähren, stellte das Kantonsgericht am 13. Dezember 2021 beim Bundesstrafgericht ein Gesuch nach Art. 194 Abs. 3 StPO. Dieses Gesuch wies das Bundesstrafgericht mit Beschluss vom 6. Mai 2022 ab. Gegen diesen Beschluss ist kein ordentliches Rechtsmittel gegeben, weshalb es für das vorliegende Verfahren sein Bewenden hat.
6.1 Nach Art. 115 Abs. 1 lit. b AIG macht sich strafbar, wer sich rechtswidrig, namentlich nach Ablauf des bewilligungsfreien oder des bewilligten Aufenthalts, in der Schweiz aufhält. Art. 115 Abs. 1 lit. b AIG gelangt nicht zur Anwendung, wenn es der betroffenen ausländischen Person – etwa aufgrund einer Weigerung des Heimatlands, Staatsangehörige zurückzunehmen oder Ausweispapiere auszustellen – objektiv unmöglich ist, legal aus der Schweiz auszureisen bzw. rechtmässig in das Heimatland zurückzukehren. Das strafrechtliche Schuldprinzip setzt die Freiheit voraus, anders handeln zu können (BGE 143 IV 249, E.1.6.1, und BGer-Urteil 68 385/2019 vom 27.9.2019, E. 3.2, je mit Hinweisen).
Eine beschuldigte Person hat grundsätzlich das Recht auf Einsicht in sämtliche Akten, welche als Grundlage zu ihrer strafrechtlichen Verurteilung dienen. Die Akteneinsicht dient der wirksamen Verteidigung und bildet die Grundlage des Äusserungs- und Antragsrechts der Prozessbeteiligten. Für eine effektive Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte ist die Möglichkeit der Akteneinsicht somit zwingend notwendig (Vest /Horber, Basler Komm., 2. Aufl. 2014, Art. 107 StPO N 11).
6.2 Nachdem das Bundesstrafgericht das Gesuch um Akteneinsicht dieses Gerichts mit Beschluss vom 6. Mai 2022 abwies, stellt sich für das Strafgericht die Frage, wie mit dem Umstand umzugehen ist, dass weder das Berufungsgericht noch der Beschuldigte und sein Verteidiger vollumfängliche Einsicht in die Akten des dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde liegenden Asylverfahrens des Beschuldigten hatte. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, mit welchem das Asylgesuch des Beschuldigten abgewiesen sowie die Wegweisung als zulässig, zumutbar und möglich beurteilt worden war, ist für das Strafgericht grundsätzlich verbindlich. Es darf jedoch nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei der ihm zufallenden strafrechtlichen Beurteilung, ob der Beschuldigte gegen die Strafbestimmungen des AIG verstossen hat oder nicht, nicht zulasten des Beschuldigten auf einen Wegweisungsentscheid abstellen, wenn dieser offensichtlich unzulässig wäre.
Elementarste verfahrensrechtliche Garantien, die im Strafprozess bei jeder Verurteilung einer beschuldigten Person gewährleistet sein müssen, müssen auch hier Beachtung finden. Das ist vorliegend aufgrund der dem Gericht nicht gewährten Akteneinsicht nicht gegeben. Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich in seinem Entscheid vom 1. Oktober 2012 im Wesentlichen auf das Ergebnis der Lingua-Analyse, in die im vorliegenden Verfahren keine Akteneinsicht gewährt wurde.
Es ist durchaus zulässig, die lnteressen der Geheimhaltung höher zu bewerten und der beschuldigten Person den Zugang zu den entsprechenden Dokumenten zu verweigern. Zu prüfen ist jedoch, welche Konsequenz eine solche, vom Bundesstrafgericht als zulässig erachtete Verweigerung der Akteneinsicht hat und ob die vom Strafgericht zumindest rudimentär vorzunehmende Prüfung ohne Einsicht in die für den Asylentscheid massgeblichen Beweismittel noch vorgenommen werden kann. Eine solche Überprüfung ist nach Ansicht des Gerichts bei dieser Sachlage nicht möglich. Es droht eine strafrechtliche Verurteilung für ein Delikt, das immerhin mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr geahndet werden kann, in Unkenntnis des dem Verwaltungsverfahren zugrunde liegenden Gutachtens, bei dem nicht überprüft werden kann, ob es lege artis erstellt wurde.
Mit der vom Sem nur eingeschränkt gewährten Akteneinsicht wird dem Beschuldigten die Möglichkeit genommen, gestützt auf die ihn betreffenden Akten die offensichtliche Unzulässigkeit des Bundesverwaltungsgerichtsurteils vom 1. Oktober 2012 zu klären und zu belegen. Ebenso konnte auch das Gericht selber eine solche mangels vollständiger Akteneinsicht nicht prüfen. Damit sind elementare Verfahrensgarantien des strafrechtlichen Verfahrens vorliegend nicht gewährleistet. Der Beschuldigte ist folglich vom Vorwurf des rechtswidrigen Aufenthalts in der Schweiz vom 25. Oktober 2017 bis 12. Juni 2019 freizusprechen.
Kantonsgericht Luzern,
Entscheid 4M 22 88 vom 26.9.2022
Überwachung des fremden Whatsapp-Verkehrs ist strafbar
Wer sich über einen QR-Code Zugang zu Chats einer anderen Person beschafft, macht sich des Eindringens in ein Datenverarbeitungssystem schuldig, selbst wenn das Handy nicht mit einem Passwort geschützt war.
Sachverhalt
Ein 42-jähriger Mann aus dem Kanton Zug richtete sich mit dem Handy der Freundin auf seinem Computer einen Zugang zu ihren Whatsapp-Konversationen ein. Die beiden trennten sich. Der Mann las wiederholt die Chats seiner Ex-Freundin. Diese bemerkte die Überwachung und zeigte den Ex-Partner bei der Polizei an. Das Kantonsgericht Zug und das Obergericht verurteilten ihn wegen Eindringens in einen fremden Computer.
Aus den Erwägungen
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Beschuldigten in der Anklageschrift, folgenden Sachverhalt vor: «Zu einem unbestimmten Zeitpunkt zu einem nicht genau bestimmbaren Ort im Kanton Zug, öffnete E. mit einem Apple-Computer, auf dem ein ‹Mac OS 10.14.2› Betriebssystem installiert war, den Chrome Browser und rief die Website Web.whatsapp.com auf. Zudem entsperrte er das Mobiltelefon von C. und öffnete darauf die App Whatsapp. Mittels Einscannen des QR-Codes von der Whatsapp-Web-Website stellte der Beschuldigte eine dauerhafte Verbindung mit dem Whatsapp-Account von C. her. In der Zeit vom 26. Februar 2019, 15.01 Uhr bis am 29. März 2019, 14.26 Uhr, griff E. 44-mal über Whatsapp Web auf den Whatsapp-Account von C. zu und konnte ihre Chatnachrichten sowie Anhänge lesen und speichern. Dies tat der Beschuldigte, ohne dass ihm C. dazu die Erlaubnis erteilte oder ihm das Passwort mitteilte.»
4.2.1 Aufgrund des forensischen Berichts der Zuger Polizei und der Screenshots ist nachgewiesen, dass mit einem Apple-Gerät mit der Betriebssystemversion Mac OS 10.14.2 über den Internetbrowser «Chrome» zu den vorstehend erstellten Zeitpunkten auf den Whatsapp-Web-Account der Privatklägerin zugegriffen wurde. Die Verbindung wurde in Zug gestartet. Weiter ergibt sich aus dem forensischen Bericht der Polizei, dass der Laptop der Privatklägerin nicht diese Betriebssystemversion aufwies. Damit ist erwiesen, dass der Zugriff nicht mit diesem Gerät erfolgte.
4.3.3 Somit wurde der Zugang zu ihrem Whatsapp-Konto – wie es bereits die Vorinstanz als erstellt erachtete – durch den Beschuldigten zu einem unbekannten Zeitpunkt in Zug unbefugt unter Verwendung des Mobiltelefons der Privatklägerin geschaffen.
4.4 Zusammengefasst verbleiben in Übereinstimmung mit der Vorinstanz keine unüberwindlichen Restzweifel an der Täterschaft des Beschuldigten. Es gilt damit als erstellt, dass der Beschuldigte zu einem unbekannten Zeitpunkt vor dem 26. Februar 2019 (wahrscheinlich im Herbst 2018) eine Verbindung ohne Zustimmung der Privatklägerin von seinem Laptop zum Whatsapp-Konto der Privatklägerin erstellte, indem er das nicht gesperrte Mobiltelefon der Privatklägerin verwendete und damit den QR-Code, der auf seinem Laptop angezeigt wurde, scannte und vom 26. Februar 2019 bis am 29. März 2019 40-mal Whatsapp Web öffnete und ihren Nachrichtenaustausch las.
6.1 Der Zugang zu Whatsapp Web erfolgt durch eine Mobiltelefonauthentifizierung. Es ist ein Zugriff auf das Mobiltelefon des Whatsapp-Benutzers notwendig, um (weitere) Computer zu berechtigen, auf die Whatsapp-Nachrichten-Datensammlung zuzugreifen.
Mit der Mobiltelefonauthentifizierung hat der Beschuldigte eine technische Sicherheitsschranke überwunden. Das Verschaffen des Zugangs mittels nicht autorisierter Behändigung des Mobiltelefons der Privatklägerin auf dem ansonsten ordentlichen Weg der Mobiltelefonauthentifizierung ist damit ein Eindringen und erfüllt die Tatbestandsmässigkeit von Art. 143bis StGB (Weissenberger, a.a.O., Art. 143 StGB N 19 und Art. 143bis StGB N 19). Der Zugriff des Beschuldigten erfolgte damit auf ein fremdes, besonders vor Fremdzugriffen gesichertes Datenverarbeitungssystem, dessen Zugang nur erlangt werden konnte, indem der Zugang mittels Mobiltelefonauthentifizierung freigeschaltet wurde. Die Tatsache, dass er das Mobiltelefon der Privatklägerin nicht mittels PIN entsperren musste, ändert nichts. Die Art und Weise, wie der Täter sich das Passwort verschafft hat, ist ohne Bedeutung (BGE 145 IV 185, E. 2.2.2). Das nicht gesperrte Mobiltelefon ist vergleichbar mit der zufällig aufgefundenen Karteikarte, auf welcher das Passwort steht, dessen Nutzung gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ein Eindringen darstellt. Das Mobiltelefon stellt gewissermassen das Passwort für den Zugang dar. Dieses Eindringen erfolgte am Laptop über das Internet und somit auf dem Wege von Datenübertragungseinrichtungen.
Sodann erfolgte das Eindringen des Beschuldigten in das Whatsapp-Benutzerkonto der Privatklägerin auf unrechtmässige Art und Weise. Die Privatklägerin hatte dem Beschuldigten weder ausdrücklich noch stillschweigend oder konkludent Zugang zu ihrem Whatsapp-Konto gewährt und die Freischaltung erfolgte vollständig unautorisiert und nicht einfach nur durch eine einfache Überschreitung der ansonsten generell gewährten Zugangsbefugnis.
Der Beschuldigte handelte damit in objektiver Hinsicht tatbestandsmässig, indem er die Zugangsschranken zum Konto der Privatklägerin bei der Whatsapp Inc. umging und so seinen Laptop mit dem Whatsapp-Account der Privatklägerin verband.
6.3 Entgegen der Auffassung der Vorinstanz handelt es sich dabei aber nicht um tatbestandsmässige Handlungen, weshalb sich die Frage der Tateinheit gar nicht stellt. Die tatbestandsmässige Handlung lag im Einrichten der Verbindung des Laptops des Beschuldigten mit dem Whatsapp-Account der Privatklägerin. Bei den 40 Zugriffen hat der Beschuldigte lediglich die bestehende Verbindung genutzt. Er ist nicht erneut in das Datenverarbeitungssystem eingedrungen. Denn er musste nicht erneut eine Zugangsschranke überwinden. Das Eindringen und das anschliessende «Verweilen» stellen eine einmalige Handlung dar (Weissenberger, a.a.O., Art. 143bis StGB N 23). Es liegt damit nur eine einfache Begehung vor.
6.4 Der Beschuldigte ist demnach des unbefugten Eindringens in ein Datenverarbeitungssystem gemäss Art. 143bis Abs. 1 StGB schuldig zu sprechen.
Obergericht Kanton Zug, Urteil S 2022 25 vom 18.1.2023
Anwaltsrecht
Unterlagen zu Vergleichsgespräch sind vertraulich
Ein Anwalt darf Unterlagen über Vergleichsgespräche mit der Gegenpartei nicht an ein Gericht weitergeben. Für solche Dokumente gilt Vertraulichkeit. Das Obergericht Bern bestrafte einen Anwalt, der dies missachtete, mit einem Verweis.
Sachverhalt
Ein Berner Anwalt schickte dem Gericht in einem Zivilprozess Angebote der Gegenpartei aus aussergerichtlichen Vergleichsgesprächen, die diese als «unpräjudiziell» und «im Gerichtsfall nicht verwertbar» bezeichnet hatte. Zudem berichtete er dem Gericht über den Hergang der aussergerichtlichen Vergleichsgespräche. Die Gegenpartei beantragte beim zuständigen Regionalgericht die Entfernung der entsprechenden Informationen aus den Akten. Der betroffene Anwalt stimmte dem zu und entschuldigte sich für seinen Fehler. Es handle sich um ein Versehen. Das Regionalgericht zeigte den Fall dem Obergericht des Kantons Bern als Aufsichtsbehörde über die Rechtsanwälte an.
Aus den Erwägungen
19. Gemäss der Generalklausel von Art. 12 lit. a BGFA haben Anwältinnen und Anwälte ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft auszuüben.
20. Zur sorgfältigen und gewissenhaften Ausübung des Anwaltsberufes im Sinne von Art. 12 lit. a BGFA gehört auch, dass der Anwalt den Inhalt von Vergleichsverhandlungen, die ausdrücklich als vertraulich bezeichnet wurden, dem Gericht oder anderen Behörden nicht bekannt gibt (Urteil des Bundesgerichts 2A.658/2004 vom 3. Mai 2005; Fellmann, a.a.O., Art. 12 N 24). Das Bundesgericht hat überdies festgehalten, dass bei zwischen Rechtsanwälten mündlich oder schriftlich geführten Vergleichsgesprächen die Tatsache, dass überhaupt Vergleichsgespräche geführt werden sowie deren Inhalt automatisch und auch ohne entsprechenden, ausdrücklichen Vorbehalt als vertraulich gelten (BGE 144 II 473, E. 4.6.1).
21. In der Stellungnahme vom 7. November 2022 bringt der Disziplinarbeklagte zunächst vor, das Schreiben vom 8. April 2022 von B. enthalte keinen Verweis darauf, dass dieses in einem gerichtlichen Verfahren nicht verwendet werden dürfe. Er sei daher davon ausgegangen, dass die Vertraulichkeit gegenüber dem Gericht als zweitrangig einzustufen sei.
22. In besagtem Schreiben wird ein weiteres Vergleichsangebot – wenn auch dasselbe wie am Vortag – unterbreitet. Aus der Formulierung des Schreibens geht zudem hervor, dass man sich noch in der Stufe der Vergleichsverhandlungen befand. In der Folge ergibt sich die Vertraulichkeit des Dokuments bereits aus dessen Inhalt, ohne dass die explizite Unterbindung der Verwendung im Gerichtsfall notwendig war.
31. Zusammenfassend ergibt sich, dass seitens des Disziplinarbeklagten ein Verstoss gegen Art. 12 lit. a BGFA gegeben ist, indem er vertrauliche und nicht für den Gerichtsgebrauch vorgesehene Vergleichsangebote im Rahmen einer Klageantwort [recte: Stellungnahme] dem Gericht eingereicht hat.
32. Gemäss Art. 17 Abs. 1 BGFA kann die Aufsichtsbehörde bei Verletzungen des Gesetzes die abschliessend aufgezählten Disziplinarmassnahmen anordnen, welche von einer Verwarnung bis zu einem dauernden Berufsverbot reichen; geordnet nach der Schwere und beginnend mit der mildesten sind dies Verwarnung, Verweis, Busse bis zu 20 000 Franken, befristetes Berufsausübungsverbot für längstens zwei Jahre und dauerndes Berufsausübungsverbot.
34. Eine Verwarnung findet bei leichtesten und einmaligen Pflichtverletzungen Anwendung. Ein Verweis wird bei leichteren Verletzungen oder in Fällen ausgesprochen, die sich an der Grenze zu mittelschweren Fällen befinden sowie bei einer wiederholten leichten Verletzung oder mehrfach leichten Verstössen. Eine Busse liegt im «Mittelfeld» der disziplinarischen Sanktionen. Der den Disziplinarbehörden zur Verfügung stehende Bussenrahmen ist sehr weit und die Bussenhöhe ist dabei an den persönlichen, insbesondere finanziellen Verhältnissen des Anwalts zu bemessen (Poledna, a.a.O, Art. 17 N 33 ff.).
35. Der Disziplinarbeklagte wurde 1997 patentiert und ist seit dem 20. Mai 2016 im Anwaltsregister eingetragen. Er wurde bis heute noch nie diszipliniert.
36. Objektiv handelt es sich vorliegend nicht um eine ganz leichte Verfehlung, die einer besonderen Zurückhaltung bei der Beurteilung bedarf. Der Disziplinarbeklagte hätte die Beilagen vor Einreichung sorgfältig prüfen müssen oder seine Mitarbeitenden genügend instruieren müssen, dass Dokumente aus Vergleichsverhandlungen nicht als Beweismittel in einem gerichtlichen Verfahren verwendet werden dürfen. Er hat die Verantwortung für die mangelnde Instruktion seiner Mitarbeitenden zu übernehmen. Bei dieser Ausgangslage ist auch das Verschulden nicht mehr als ganz leicht zu qualifizieren.
37. Der Disziplinarbeklagte zeigte sich jedoch einsichtig und hat dies nach Erkennen seines Fehlverhaltens unverzüglich dem Gericht und der Gegenpartei angezeigt sowie auch in der Stellungnahme vom 7. November 2022 betont.
38. In Anbetracht aller Umstände erscheint vorliegend nach dem Gesagten ein Verweis im Sinne von Art. 17 Abs. 1 lit. b BGFA als angebrachte und verhältnismässige Disziplinarmassnahme.
Obergericht Kanton Bern, Entscheid AA 22 207 vom 1.3.2023
Sozialversicherungsrecht
Neues Gutachten wegen gescheiterter Tonaufnahme
Ein medizinisches Gutachten der Invalidenversicherung ist ohne eine Tonaufnahme des Gesprächs mit dem Psychiater nicht verwertbar, sofern der Betroffene auf die Aufzeichnung nicht verzichtete.
Sachverhalt
Sozialversicherungen müssen seit 2022 von den Gesprächen mit den Gutachtern Tonaufnahmen machen. Bei einem Gutachtergespräch in St. Gallen klappte die Aufnahme beim Psychiater wegen eines technischen Defekts nicht. Der Gutachter wollte das Gespräch wiederholen, ohne die IV-Stelle zu informieren. Doch dann sprach sich der Psychiater aber schon vor dem zweitem Gespräch mit der Betroffenen mit den andern Teilgutachtern ab und erstellte das psychiatrische Teilgutachten. Die betroffene St. Gallerin reklamierte bei der IV-Stelle. Der Gutachter habe sie nicht ernst genommen und eingeschüchtert. Die Frau forderte ein neues Gutachten bei einer unvoreingenommenen Person. Die IV-Stelle ging darauf nicht ein. Dagegen wehrte sich die Frau mit Erfolg vor dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen.
Aus den Erwägungen
1. Zwischen den Parteien umstritten und nachfolgend zu prüfen ist die Rechtmässigkeit der von der Beschwerdegegnerin angeordneten neuerlichen Begutachtung der Beschwerdeführerin durch Prof. D. im Rahmen der bidisziplinären Begutachtung bei Dr. C. (Orthopädie) und Prof. D. (Psychiatrie).
1.3 Für die Beurteilung des nicht wiedergutzumachenden Nachteils im Kontext des sozialversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahrens mit seinen spezifischen Gegebenheiten ist zu beachten, dass das medizinische Administrativgutachten in der Regel die wichtigste medizinische Entscheidungsgrundlage im Beschwerdeverfahren bildet. Die Mitwirkungsrechte der versicherten Personen müssen daher bereits vor der Begutachtung durchgesetzt werden können, bevor präjudizierende Effekte eintreten.
Mit Blick auf das begrenzte Überprüfungsvermögen der rechtsanwendenden Behörden genügt es daher nicht, die Mitwirkungsrechte erst nachträglich, bei der Beweiswürdigung im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren, einzuräumen (vgl. BGE 138 V 271, E. 1.2.2). Des Weiteren darf auch nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Anordnung medizinischer Untersuchungen an einer Person einen Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft) darstellt (BGE 136 V 117, E. 4.2.2.1 mit Hinweisen). Als solcher muss die Anordnung einer Begutachtung die Voraussetzungen von Art. 36 BV erfüllen, was im Bestreitungsfall gerichtlich überprüfbar sein muss.
3.1 Seit dem 1. Januar 2022 werden die Interviews in Form von Tonaufnahmen zwischen der versicherten Person und dem Sachverständigen erstellt und in die Akten des Versicherungsträgers aufgenommen, sofern die versicherte Person es nicht anders bestimmt (Art. 44 Abs. 6 ATSG).
3.2 Die Vorschrift der Tonaufnahme der Interviews wurde im Laufe des Projekts «Weiterentwicklung der IV» in die Gesetzgebung aufgenommen. Die Anpassung von Art. 44 ATSG in diesem Zusammenhang war vom Willen des Gesetzgebers geprägt, die Qualität der Gutachten und die Aufsicht gezielt zu verbessern. Hintergrund war unter anderem die in der Lehre und Politik geäusserte Kritik aufgrund von Qualitäts- und Fairnessbedenken bei der Begutachtung.
3.3 Das Interview nach Art. 44 Abs. 6 ATSG umfasst das gesamte Untersuchungsgespräch. Dieses besteht aus der Anamneseerhebung und der Beschwerdeschilderung durch die versicherte Person (Art. 7k Abs. 1 der Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSV; SR 830.11]). Die versicherte Person kann mittels einer schriftlichen Erklärung gegenüber dem Durchführungsorgan vor der Begutachtung erklären, dass sie auf die Tonaufnahme verzichtet (Art. 7k Abs. 3 lit. a ATSV) oder bis zehn Tage nach dem Interview die Vernichtung der Tonaufnahme beantragen (Art. 7k Abs. 3 lit. b ATSV). Vor dem Interview kann die versicherte Person gegenüber dem Durchführungsorgan den Verzicht nach Art. 7k Abs. 3 lit. a ATSV widerrufen (Art. 7k Abs. 4 ATSV). Bestreitet die versicherte Person die Überprüfbarkeit des Gutachtens, nachdem sie die Tonaufnahme abgehört und technische Mängel festgestellt hat, so versuchen das Durchführungsorgan und die versicherte Person, sich über das weitere Vorgehen zu einigen (Art. 7k Abs. 8 ATSV; vgl. hierzu auch Kreisschreiben über das Verfahren in der Invalidenversicherung [KSVI], gültig ab 1.1.2022, Rz 3123 ff.). Können sich die versicherte Person und die IV-Stelle nicht einigen, erlässt die IV-Stelle eine Zwischenverfügung (KSVI Rz 3127).
4.2 Dadurch, dass keine Tonaufnahme des psychiatrischen Interviews im Recht liegt, entspricht das psychiatrische Teilgutachten von Prof. D. nicht den gesetzlichen Vorgaben, welche seit dem 1. Januar 2022 in Kraft sind. Das Gutachten ist damit formell mangelhaft.
Dieser Mangel könnte dadurch behoben werden, dass die Beschwerdeführerin im Sinne einer einvernehmlichen Lösung mit der Beschwerdegegnerin (Art. 7k Abs. 8 ATSV) im Nachhinein auf die Tonaufnahme verzichtet, wie sie dies schon zum Vornherein bzw. innert Frist von zehn Tagen nach dem Interview hätte tun können (Art. 7k Abs. 3 ATSV). Ein Verzicht auf die Tonaufnahme steht jedoch mit Blick auf den Wortlaut von Gesetz und Verordnung im Belieben der versicherten Person und kann nicht gegen deren Willen einseitig von der IV-Stelle angeordnet werden. Ebenso wenig muss die versicherte Person akzeptieren, dass statt einer Tonaufnahme blosse Handnotizen über das Interview in die Akten aufgenommen werden.
4.3 Zwar könnte, wie die Beschwerdegegnerin dies in ihrer Beschwerdeantwort vorschlägt, die Beschwerdeführerin mit Prof. D. anlässlich eines zweiten Termins dessen Notizen durchgehen und dieses Gespräch beziehungsweise eine Tonaufnahme davon samt Notizen anstelle der Tonaufnahme des ursprünglichen Interviews in die Akten aufgenommen werden. Das wäre für die Beschwerdeführerin, wie die Beschwerdegegnerin herausstreicht, tatsächlich ein geringerer Aufwand als eine vollständige Exploration bei einer neuen psychiatrisch begutachtenden Person.
Vorliegend erscheint ein solches Vorgehen jedoch nicht praktikabel. Die Beschwerdeführerin führt mehrfach aus, sie habe sich von Prof. D. nicht ernst genommen, eingeschüchtert und unter Druck gesetzt gefühlt, dieser habe sich flapsig ausgedrückt und sei «hemdsärmelig» vorgegangen. Unter dieser Prämisse ist absehbar, dass anlässlich eines Termins zur Besprechung der Notizen von Prof. D. keine Einigkeit zwischen ihm und der Beschwerdeführerin über den Inhalt des ersten Gesprächs erzielt werden könnte, ausser wenn die Beschwerdeführerin sich nicht trauen würde, dem psychiatrischen Gutachter zu widersprechen oder darauf hinzuweisen, dass die Notizen aus ihrer Sicht nicht vollständig seien.
Sinn einer Einigung über das weitere Vorgehen (Art. 7k Abs. 8 ATSV) kann indes nicht sein, dass die versicherte Person dahingehend unter Druck gesetzt wird, dass sie im Endeffekt auf die Tonaufnahme des Interviews (unfreiwillig) verzichten und sich mit blossen Handnotizen (welche bei der parlamentarischen Debatte als ungenügend eingeordnet wurden, um das Ziel des Gesetzgebers zu erreichen) begnügen soll. Die Beschwerdeführerin ist bereit, sich erneut einer vollständigen psychiatrischen oder bidisziplinären Begutachtung zu unterziehen. Das Argument der Beschwerdegegnerin, ein Zweittermin bei Prof. D. sei für die Beschwerdeführerin weniger belastend, verfängt unter den erwähnten Voraussetzungen nicht.
5.2 Nach der Rechtsprechung gelten für medizinische Sachverständige grundsätzlich die gleichen Ausstands- und Ablehnungsgründe, wie sie für Richterinnen und Richter vorgesehen sind. Demnach ist Befangenheit anzunehmen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit zu erwecken. Bei der Befangenheit handelt es sich um einen inneren Zustand, der nur schwer bewiesen werden kann. Daher braucht für die Ablehnung nicht nachgewiesen zu werden, dass die sachverständige Person befangen ist. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, welche den Anschein der Befangenheit und die Gefahr von Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Bei der Beurteilung des Anscheins der Befangenheit und der Gewichtung solcher Umstände kann jedoch nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abgestellt werden. Das Misstrauen muss vielmehr in objektiver Weise als begründet erscheinen. Mit Blick auf die zentrale Bedeutung, welche den Arztgutachten im Sozialversicherungsrecht zukommt, ist an die Unparteilichkeit der Gutachtenspersonen ein strenger Massstab anzusetzen (BGE 148 V 225, E. 3.4, und Urteil des Bundesgerichts vom 7. November 2022, 8C_150/2022, E. 8.2, je mit Hinweisen).
5.3 Vorliegend ist von Bedeutung, dass Prof. D. bereits die Konsensbesprechung mit Dr. C. durchgeführt und sein Teilgutachten schon am 18. Februar 2022 verfasst hatte, noch bevor die Beschwerdegegnerin überhaupt erfahren hat, dass die Tonaufnahme vernichtet beziehungsweise gar nicht erstellt wurde, und noch bevor der von ihm geplante Zweittermin mit der Beschwerdeführerin zur Durchsicht seiner Handnotizen am 10. März 2022 hätte stattfinden sollen. Dies kann bei objektiver Betrachtung den Eindruck erwecken, dass Prof. D. seine Meinung vorgefasst hatte, unabhängig davon, was beim Zweittermin mit der Beschwerdeführerin besprochen worden wäre. Jedenfalls hat er sich durch das Verfassen des Teilgutachtens am 18. Februar 2022 schon ein Fachurteil gebildet, welches sich unter anderem auf das durchgeführte Interview stützt.
5.4 Die Beschwerdeführerin macht zu Recht geltend, dass es Prof. D. nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht möglich sein wird, seine Beurteilung gemäss bereits eingereichtem Teilgutachten auszublenden. Weil einer medizinischen Fachperson im Allgemeinen und einer psychiatrisch begutachtenden Person im Besonderen ein erheblicher Ermessens- und Interpretationsspielraum zukommt (vgl. hierzu beispielhaft Urteil des Bundesgerichts vom 17. Dezember 2021, 8C_202/2021, E. 4.2.3), kann somit nicht sichergestellt werden, dass Prof. D., auch wenn er nach bestem Wissen und Gewissen vorgeht, bei einer neuen Begutachtung der Beschwerdeführerin unvoreingenommen wäre.
5.6 Eine zweite Begutachtung durch Prof. D. erscheint deshalb nicht mehr ergebnisoffen und der Gutachter bei objektiver Betrachtung befangen. Mit der neuen psychiatrischen Teilbegutachtung ist deshalb eine andere psychiatrische Fachperson zu beauftragen.
6.1 Die Beschwerdeführerin beanstandet das orthopädische Teilgutachten von Dr. C. nicht. Naturgemäss ist dieses besser nachprüfbar als das psychiatrische Teilgutachten, weil es sich wesentlich auf somatische Befunde stützt. Indes fand die Konsensbesprechung zwischen Dr. C. und Prof. D. bereits statt und das bidisziplinäre Gutachten wurde ausgefertigt. Die Ergebnisse aus einem medizinischen Fachgebiet können jene aus einem anderen beeinflussen. Wechselwirkungen können sich auf die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auswirken. Deshalb ist bei bi- und polydisziplinären Begutachtungen eine Konsensbeurteilung erforderlich.
6.2 Da ein Administrativgutachten bei der Abklärung von Ansprüchen aus der Invalidenversicherung meist die wichtigste medizinische Entscheidungsgrundlage bildet, ist von zentraler Bedeutung, dass es korrekt vergeben und gemäss dem geltenden Recht einwandfrei erstellt wurde sowie den Anforderungen der Rechtsprechung an ein beweiskräftiges Gutachten entspricht. Dazu gehört auch, dass bei objektiver Betrachtung keine Gegebenheiten vorliegen, welche den Anschein der Befangenheit beziehungsweise Voreingenommenheit der Gutachtenspersonen begründen.
6.3 Dr. C. kennt die psychiatrische Einschätzung von Prof. D. und dessen fachärztliche Meinung, wonach die psychiatrischen Befunde den orthopädisch festgestellten Arbeitsunfähigkeitsgrad nicht weiter erhöhen sollen. Würde lediglich das psychiatrische Teilgutachten neu vergeben, so müsste anschliessend eine Konsensberatung mit Dr. C. stattfinden. Dabei könnte nicht ausgeschlossen werden, dass Dr. C. von seiner früheren Konsensbesprechung und den Ergebnissen der ersten psychiatrischen Begutachtung beeinflusst wäre.
7.2. Gemäss den vorstehenden Erwägungen ist die Zwischenverfügung vom 24. Mai 2022 aufzuheben und die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, das Gutachten aus den Akten zu entfernen sowie eine neue bidisziplinäre Begutachtung zu veranlassen. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht geltend macht, ist die bidisziplinäre Begutachtung neu nach dem Zufallsprinzip zu vergeben (Art. 72bis der Verordnung über die Invalidenversicherung [IVV; SR 831.201] in der Fassung ab 1. Januar 2022).
Versicherungsgericht Kanton St. Gallen, Urteil IV 2022/102 vom 31.1.2023