Zivilrecht
Hotel haftet für Gäste nur bis 1000 Franken kausal
Hotels und Restaurants haften den Gästen kausal bis zu 1000 Franken. Darüber hinaus müssen sie nur bei Verschulden für Schäden einstehen. Dieses wird vom Gericht vermutet, kann jedoch vom Wirt widerlegt werden.
Sachverhalt
Eine Frau übernachtete im Berner Oberland in einem Fünfsternehotel. Als sie im Wellnessbereich war, stahl ihr jemand aus dem Zimmer Schmuck im Wert von 19800 Franken. Der Täter wurde wegen Diebstahls verurteilt, hatte jedoch kein Geld, um Schadenersatz zu zahlen. Die Bestohlene forderte deshalb vom Hotel Schadenersatz. Das Regionalgericht Oberland in Thun und das Berner Obergericht sprachen ihr nur 1000 Franken zu. Für den darüber hinausgehenden Schaden konnte das Hotel nachweisen, dass es alle nötige Sorgfalt hatte walten lassen.
Aus den Erwägungen
6.2.1 Bei der in Art. 487 Abs. 1 und Abs. 2 OR statuierten Gastwirtehaftung handelt es sich um eine auf 1000 Franken limitierte Kausalhaftung, wonach der Gastwirt verschuldensunabhängig für jede Beschädigung, Vernichtung oder Entwendung der von seinen Gästen eingebrachten Sachen einzustehen hat. Der Gastwirt kann sich von dieser Haftung nur befreien, wenn ein in Art. 487 Abs. 1 OR aufgeführter Entlastungsgrund vorliegt, der Schaden namentlich durch den Gast selbst oder seine Besucher, Begleiter beziehungsweise Dienstleute, durch höhere Gewalt oder durch die Beschaffenheit der Sache verursacht worden ist. Für Schäden über 1000 Franken haften Gastwirte nur, wenn sie oder ihr Personal ein Verschulden trifft (Art. 487 Abs. 2 OR).
6.2.2 Art. 488 OR sieht eine Sonderregelung für Wertsachen vor. Demnach haftet der Gastwirt nur bei Verschulden, wenn der Gast die eingebrachten Wertsachen dem Gastwirt pflichtwidrig nicht zur Aufbewahrung übergeben hat (Art. 488 Abs. 1 und Abs. 3 OR). Die beschränkte Kausalhaftung gemäss Art. 487 Abs. 2 OR gelangt in diesem Fall nicht zur Anwendung, sondern es gilt eine allgemeine vertragliche Verschuldenshaftung aus dem Beherbergungsvertrag.
Kann dem Gast die Übergabe der Wertsachen hingegen im konkreten Fall nicht zugemutet werden, entfällt die in Art. 488 Abs. 1 OR statuierte Pflicht zur Übergabe und der Gastwirt haftet wie für die anderen (nicht wertvollen) Gegenstände des Gastes (Art. 488 Abs. 3 OR). Diese sind in diesem Fall wie alle anderen eingebrachten Effekten von der Regelhaftung von Art. 487 OR erfasst (vgl. zum Ganzen: Urteil des BGer 4A_341/2016 vom 10. Februar 2017, E. 4.2).
7.2 Im erstinstanzlichen Verfahren erachtete das Regionalgericht die Voraussetzungen der verschuldensunabhängigen Kausalhaftung als gegeben und verurteilte die Berufungsbeklagte gestützt auf Art. 487 Abs. 2 OR zur Zahlung von 1000 Franken zuzüglich Zins zu 5 Prozent seit 20. August 2016.
7.3 Nach dem Gesagten ist nachfolgend somit einzig zu erörtern, ob das Regionalgericht die Haftung der Berufungsbeklagten für den 1000 Franken übersteigenden Schaden zu Recht verneint hat.
8.1 Zunächst ist zu prüfen, ob die Berufungsklägerin verpflichtet gewesen wäre, die Schmuckstücke in Anwendung von Art. 488 OR zur Aufbewahrung zu übergeben.
8.2.3 Das wertvollste Objekt ist nach eigenen Angaben der Berufungsklägerin die Kette mit bunten Farbsteinen im Wert von 4600 Euro. Bei diesem Gegenstand kann grundsätzlich darüber diskutiert werden, ob es sich um einen Wertgegenstand im Sinne von Art. 488 OR handelt. Für die Frage der Zumutbarkeit der Aufbewahrung der Kette ist hingegen zu beachten, dass es sich beim Hotelbetrieb der Berufungsbeklagten um ein Fünfsternesuperiorhotel handelt. Bei einem Hotel dieser Preisklasse sowie mit Blick auf den Lebensstil der Berufungsklägerin (und wohl auch auf denjenigen der anderen Hotelgäste) ist nicht zu beanstanden, dass das Schmuckstück nicht zur Aufbewahrung übergeben wurde, sondern es sich griffbereit im Hotelzimmer befand, zumal die Berufungsklägerin die Kette nach eigenen Angaben am Abend hätte tragen wollen.
8.3 Folglich war die Berufungsklägerin nicht zur Übergabe ihrer Schmuckstücke verpflichtet und durfte insbesondere die Kette bei sich behalten (Art. 488 Abs. 3 OR). Somit beurteilt sich die Haftung vorliegend nach Art. 487 OR und die Berufungsbeklagte haftet für den 1000 Franken übersteigenden Schaden nur bei Verschulden.
9.2.1 Das Regionalgericht stützte sich im angefochtenen Entscheid auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach der Gast den Nachweis des Verschuldens des Gastwirts zu erbringen hat, und wies die Beweislast der Berufungsklägerin zu.
9.2.2 Die Berufungsklägerin macht demgegenüber im Wesentlichen geltend, die Beweisverfügung, wonach sie Tatsachen und Umstände zu beweisen habe, aus denen sich das Verschulden der Berufungsbeklagten ergebe, stelle eine unrichtige Rechtsanwendung dar. Sie stellt auf verschiedene Lehrmeinungen ab, wonach das Verschulden des Gastwirts zu vermuten ist, diesem allerdings der Exkulpationsbeweis offensteht, und spricht sich somit implizit für eine andere Beweislastverteilung aus.
9.4.1 Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung und unter Berücksichtigung der parlamentarischen Beratung, namentlich der ursprünglich vorgesehenen Beweislastverteilung, überzeugen die schlüssigen und herrschenden Lehrmeinungen. Es ist nicht ersichtlich und geht aus den zitierten Urteilen des Bundesgerichts auch nicht konkret hervor, weshalb die Beweislast der Gastwirtehaftung anders geregelt werden sollte, als dies beim Hinterlegungsvertrag und der allgemeinen Vertragshaftung der Fall ist, zumal der Abschluss eines Beherbergungs- beziehungsweise Gastaufnahmevertrags zwischen dem Gast und dem Gastwirt vorausgesetzt und zwischen den Vertragsparteien mithin eine Sonderverbindung begründet wird.
9.5 Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Frage der Beweislastverteilung vermag aus praktischer Sicht nicht zu befriedigen. Die 30-jährige aber nach wie vor geltende Rechtsprechung scheint nicht mehr zeitgemäss und die Folgen dieser Beweislastverteilung führen im Zusammenhang mit der Geldentwertung zu einer anderen Haftungskonzeption als ursprünglich vom Gesetzgeber vorgesehen. Es ist daher sachgerechter, die Beweislast bei der Gastwirtehaftung nach Art. 487 OR analog Art. 97 OR zu verteilen, namentlich das Verschulden des Gastwirts zu vermuten. Dieser hat jedoch die Möglichkeit, den Entlastungsbeweis zu führen. Richtigerweise muss der Gast im Verfahren jedoch zumindest behaupten, worin das schadenskausale Verschulden des Gastwirts oder seines Personals liegt (Gautschi, a.a.O., N. 9b zu Art. 487 OR; in diesem Sinne wohl auch Bühlmann, a.a.O., S. 97).
Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, ist die Beweislastverteilung für die Beurteilung der vorliegenden Streitigkeit jedoch nur von untergeordneter Bedeutung, weil keine Beweislosigkeit vorliegt.
13.2.1 Wird nun auf die Uhrzeiten der Schlossauswertung sowie auf die unbestritten gebliebenen Uhrzeiten der Videoüberwachung abgestellt, wird daraus zweifelsfrei ersichtlich, dass während des Spa-Aufenthalts der Berufungsklägerin und des in diesem Zeitraum mutmasslichen Eindringens in deren Hotelzimmer keine Schlüsselbewegungen registriert worden sind.
14.1 Folglich ist beweismässig erstellt, dass das Eindringen ins Hotelzimmer der Berufungsklägerin ohne Schlüssel erfolgt ist und somit ausgeschlossen werden kann, dass der Täter in Komplizenschaft mit der beschuldigten Mitarbeiterin der Berufungsbeklagten den Zimmerschlüssel der Berufungsklägerin an der Spa-Rezeption behändigt hat. Die Vorbringen der Berufungsklägerin sind somit unbegründet und die sinngemäss behauptete Sorgfaltspflichtverletzung ist zu verneinen.
15. Im Ergebnis hat die Berufungsbeklagte ihre aus dem mit der Berufungsklägerin abgeschlossenen Beherbergungs- beziehungsweise Gastaufnamevertrag fliessenden Pflichten nicht verletzt und alle erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen ergriffen. Das Verschulden der Berufungsbeklagten und daraus folgend deren Haftung für die 1000 Franken übersteigende Forderung ist somit zu verneinen. Das Regionalgericht hat folglich die Haftung der Berufungsbeklagten zu Recht auf die Kausalhaftung im Umfang von 1000 Franken beschränkt. Nach dem Gesagten wird die Berufung abgewiesen.
Obergericht Bern, Urteil ZK 2021 327 vom 15.11.2022
Bahn haftet für Folgen des Sturzes eines Passagiers
Ein Eisenbahnunternehmen schuldet Schadenersatz, wenn stehende Passagiere während der Fahrt stürzen. Die Tatsache, dass sie sich nicht festgehalten oder gesetzt haben, unterbricht den Kausalzusammenhang nicht.
Sachverhalt
Ein Ehepaar war im Kanton Bern mit der Bahn unterwegs. Nach dem Einsteigen suchte es im Waggon die reservierten Sitzplätze auf, als der Zug bei einer Weiche zur Seite ausscherte. Die Frau stürzte und brach sich die Hüfte. Ihre Krankenkasse verlangte von der Bahn die Übernahme der Heilungskosten. Die Bahn verweigerte die Zahlung, denn die Betroffene habe sich nicht hingesetzt oder festgehalten und sei deshalb selbst schuld. Das Handelsgericht Bern hiess die Klage gut und sprach der Krankenkasse 84 000 Franken zu. Ein Selbstverschulden liege nicht vor. Es sei Passagieren nicht untersagt, in fahrenden Zügen umherzugehen.
Aus den Erwägungen
22. Art. 40b Abs. 1 EBG sieht eine Haftung von Inhabern eines Eisenbahnunternehmens vor für Personenschäden und bestimmte Sachschäden, wenn die charakteristischen Risiken, die mit dem Betrieb der Eisenbahn verbunden sind, dazu geführt haben, dass ein derartiger Schaden entstanden ist.
23.4.1 Die Gefährdungshaftung findet ihre Rechtfertigung darin, dass eine bestimmte Vorrichtung, Tätigkeit oder ein Zustand vorgenommen bzw. geschaffen wird, von der bzw. dem eine besondere Gefahr ausgeht.
23.4.2 Der Bundesrat erwähnt in seiner Botschaft zu Art. 40b EBG explizit die Fortbewegung der Eisenbahn als besondere Gefahr (BBl 2007 4491). Aus der Aufzählung der Beispiele für Schädigungen, die er im Zusammenhang mit der Fortbewegung erwähnt, ist ersichtlich, dass es wiederum um die Kombination zwischen der Masse und den Kräften, die sich durch die Fortbewegung über Schienen auswirken, geht.
23.4.3 Gemäss unstrittigem Sachverhalt wurde der Sturz und folglich die Verletzung von Frau F. durch eine ruckartige seitliche Bewegung verursacht, die auf das Überfahren einer Weiche zurückzuführen ist. Bei der ruckartigen seitlichen Bewegung handelt es sich um ein charakteristisches Risiko, das aus der besonderen Gefahr des Eisenbahnbetriebs resultiert. Indem sich die Eisenbahn mit ihrer grossen Masse über eine Weiche als Teil des Schienensystems fortbewegt, kommt es zu einer ruckartigen seitlichen Bewegung. Diese ruckartige seitliche Bewegung ist nicht nur auf die Fortbewegung der Bahn oder die Weiche an sich zurückzuführen, sondern sie entsteht, weil die Eisenbahn mit ihrer grossen Masse und mit den Kräften, die sich bei ihrer Fortbewegung entfalten, über eine Weiche, die als Teil des Schienensystems konzipiert ist, fährt. Für die ruckartige seitliche Bewegung müssen somit alle Elemente, die die besondere Gefahr bei der Fortbewegung ausmachen (also die Masse, die Kräfte und das Schienensystem) zusammenwirken, damit sie durch das Überfahren der Weiche entstehen kann.
Mit anderen Worten entsteht nicht bei jedem Überfahren einer Weiche mit irgendeinem Fahrzeug immer eine ruckartige seitliche Bewegung, sondern nur beim Überfahren einer Weiche mit einer Eisenbahn, weil sich hier die besondere Gefahr der Eisenbahn realisiert. Die ruckartige seitliche Bewegung ist deshalb ein charakteristisches Risiko, das mit dem Betrieb einer Eisenbahn verbunden ist.
23.4.4 Die Beklagte behauptet in ihren Rechtsschriften an mehreren Stellen, das Überfahren einer Weiche gehöre zum gewöhnlichen Betrieb der Eisenbahn, was kein besonderes Gefährdungspotenzial in sich berge. Erst die unvorsichtige Verhaltensweise von Passagieren im Zug würde dazu führen, dass Verletzungen entstehen könnten durch die ruckartige seitliche Bewegung.
Sie macht damit implizit geltend, dass nicht die ruckartige seitliche Bewegung an sich zum Schaden führe, sondern alleine das menschliche Verhalten im Zug, das nicht dem allgemeinen Sorgfaltsstandard entspreche. So gehöre es zur Sorgfaltspflicht eines jeden Passagiers sich sofort (auf irgendeinen Platz) hinzusetzen oder sich ansonsten genügend festzuhalten. Das Überfahren einer Weiche stelle nur dann eine Sturzgefahr dar, wenn man sich weder setze noch festhalte.
Gemäss übereinstimmenden Tatsachenbehauptungen der Parteien hat die ruckartige seitliche Bewegung, verursacht durch das Überfahren einer Weiche, zum Sturz und der daraus resultierenden Körperverletzung von Frau F. geführt. Dabei handelt es sich um ein charakteristisches Risiko des Bahnbetriebs.
23.4.5 Insofern die Beklagte generelle Ausführungen dazu macht, dass das Rütteln eines Zuges keine besondere Gefahr des Eisenbahnbetriebs darstellt, ist sie nicht zu hören. Gemäss übereinstimmenden Parteibehauptungen hat nicht irgendein Rütteln des Zuges zum Schaden geführt, sondern die ruckartige seitliche Bewegung, die durch das Überfahren einer Weiche ausgelöst wurde. Es kann hier somit offen bleiben, wie es sich generell mit «üblichem» Zugrütteln verhält, das durch die Fortbewegung der Eisenbahn verursacht wird.
23.5 Die Haftungsvoraussetzungen von Art. 40b EBG sind somit erfüllt, weshalb die Beklagte für die Körperverletzung von Frau F. anlässlich des Unfalls vom 28. April 2016 grundsätzlich haftet.
24.1 Die Beklagte macht geltend, Frau F. treffe ein grobes Selbstverschulden, weil sie sich nicht hingesetzt oder festgehalten habe. Damit habe sie die elementarsten Vorsichtsmassnahmen verletzt. Die Klägerin bestreitet, dass Frau F. ein Verschulden am Unfall vom 28. April 2016 trifft und dass sie sich nicht festhielt, als der Unfall passierte.
24.2 Das Bundesgericht geht von einem groben Selbstverschulden aus, wenn die geschädigte Person elementare Sorgfaltsregeln ausser Acht lässt, die eine vernünftige Person in der gleichen Lage beachtet hätte. Es wird grundsätzlich ein objektiver Massstab angelegt, wobei subjektive Komponenten wie das Alter, die Ausbildung, die Erfahrung, die körperliche Verfassung und der Gemütszustand berücksichtigt werden (vgl. BGE 132 III 249, E. 3.4, S. 255; BGE 111 II 89, E. 1a, S. 90 f.; siehe auch König, Rz. 203).
In der Tatsache allein, dass Frau F. nicht den Waggon bestieg, in dem sie ihre Sitzplätze reserviert hatte, kann wohl kaum eine Sorgfaltspflichtverletzung gesehen werden. Es ist auch nicht verboten, in Zügen umherzugehen. Die Fortbewegung innerhalb eines Zuges kann durchaus im Interesse der Beklagten sein, zum Beispiel wenn ihre Angestellten die Zugbillette kontrollieren oder ein Passagier im Bordrestaurant etwas kaufen möchte. Im Gegensatz zu zum Beispiel Flugzeugen ist bei der Eisenbahnfahrt auch nicht der Start der Maschine besonders gefährlich. Weichen werden ausserdem während der ganzen Zugstrecke überfahren, zum Beispiel wenn ein Zug einen Bahnhof durchfährt oder an einer grösseren Kreuzung abzweigt. Es ist für einen Passagier schlicht nicht möglich und auch in keiner Weise nötig zu wissen, wann sich wo auf der Zugstrecke welche Weiche befindet.
25. Bezüglich der Schadenshöhe sind sich die Parteien einig. Sie beziffern den Schaden auf 84000 Franken, soweit der Klägerin dafür ein Rückgriffsanspruch zusteht. Die Beklagte macht jedoch geltend, dass das Verhalten von Frau F. zumindest im Rahmen der Schadensreduktion berücksichtigt werden sollte.
25.2 Im vorliegenden unbestrittenen Sachverhalt ist kein unsorgfältiges Verhalten von Frau F. enthalten, das ihr vorgeworfen werden könnte. Ein weitergehendes Verhalten wurde nicht genügend substanziiert behauptet. Frau F. hat somit kein Verhalten an den Tag gelegt, das als Selbstverschulden qualifiziert werden kann. Damit fällt eine Schadensreduktion aufgrund von Selbstverschulden ausser Betracht.
26. Zusammengefasst haftet die Beklagte aus Art. 40b EBG für den Personenschaden, der Frau F. anlässlich des Unfalls vom 28. April 2016 entstanden ist. Die Klägerin kann diesen im Rahmen ihres Rückgriffsanspruchs in der Höhe von 84000 Franken geltend machen.
Handelsgericht Bern, Urteil HG 2021 17 vom 24.5.2022
Versicherungsvertrag
Anschlussflug in Reiseversicherung mitversichert
Eine Reiseversicherung einer Kreditkarte versichert nicht nur Reisen, die mit der Karte bezahlt wurden. Auch die Transfers mit dem öffentlichen Verkehr zum und vom Flughafen sind versichert. Dazu gehört auch ein allfälliger Anschlussflug.
Sachverhalt
Ein Paar aus dem Kanton Zug buchte bei einer Fluglinie einen Flug nach Tansania und zurück mit der Kreditkarte. Damit waren die beiden via Kreditkarte gegen Unfälle auf der Hin- und der Rückreise versichert. Zur Hinreise gehörten laut Versicherungsbedingungen auch die direkten Transfers zum Startflughafen und ab Zielflughafen. Das Paar buchte bei einem anderen Reiseveranstalter zusätzlich zwei Inlandflüge und eine Safari in der Serengeti. Diese Reise bezahlte es nicht mit der Kreditkarte. Der erste Inlandflug fand direkt nach der Landung des Flugs aus Frankfurt in Tansania statt. Das Flugzeug stürzte ab, das Paar starb. Die Tochter forderte von der Kreditkartenfirma die versicherte Todesfallsumme von 700000 Franken. Das Kantonsgericht Zug wies die Klage ab. Das Obergericht Zug sprach der Angehörigen das Geld zu. Die Weiterreise bis zur ersten Übernachtung sei mitversichert und daher auch der Inlandflug.
Aus den Erwägungen
4. Zwischen den Parteien ist in erster Linie umstritten, ob aufgrund des Flugzeugabsturzes auf der Strecke von Kilimandscharo nach Seronera, bei dem C.B. sel. am 5. November 2017 ums Leben kam, ein Versicherungsanspruch nach den Versicherungsbedingungen besteht. Strittig ist dabei vor allem die Bedeutung von Ziff. IV.A.1.1 Abs. 2 BVB. Diese Bestimmung lautet wie folgt: «Versicherungsschutz besteht zum Zweck des Antritts oder der Beendigung der Reise im mit der Karte bezahlten öffentlichen Verkehrsmittel ebenfalls auf dem direkten, ununterbrochenen Weg zum und vom Flughafen, Hafen oder Bahnhof, unabhängig davon, ob die Kosten für dieses öffentliche Verkehrsmittel mit der Karte bezahlt wurden.»
4.1 Die Vorinstanz zog diesbezüglich Folgendes in Erwägung:
4.1.1 Um den Versicherungsschutz gemäss Ziff. IV.A.1.1 Abs. 2 BVB (Versicherungsschutz bei Antritt und Beendigung der Reise) beanspruchen zu können, müsse zunächst eine Reise in einem öffentlichen Verkehrsmittel vorliegen, die mit der Kreditkarte bezahlt worden sei. Erst wenn diese Voraussetzung erfüllt sei, sei in einem weiteren Schritt darüber zu befinden, ob ein dieser Reise vorangehender beziehungsweise nachfolgender Transport als Antritt beziehungsweise Beendigung der erwähnten Reise gedient habe.
Gemäss der Definition in Ziff. I.C. der Versicherungsbedingungen (allgemeiner Teil) gelte als Reise ein länger als einen Tag dauernder Aufenthalt an einem mindestens 30 Kilometer vom gewöhnlichen Wohnort entfernten Ort, unter Ausschluss von Arbeitswegen. Der mit der Kreditkarte bezahlte Flug von Florenz via Frankfurt nach Kilimandscharo habe keinen länger als einen Tag dauernden Aufenthalt an einem mindestens 30 Kilometer vom gewöhnlichen Wohnort entfernten Ort beinhaltet und habe weniger als 24 Stunden gedauert. Folglich stelle der Flug von Florenz via Frankfurt nach Kilimandscharo (noch) keine Reise im Sinne der Versicherungsbedingungen dar. Damit könne der anschliessende Flug von Kilimandscharo nach Seronera nicht als Beendigung einer Reise gemäss Ziff. IV.A.1.1 Abs. 2 BVB gelten.
4.2 In der Berufung bringt die Klägerin demgegenüber vor, das Kantonsgericht habe die Versicherungsbedingungen falsch ausgelegt, indem es von einem unzutreffenden Begriff der «Reise» ausgegangen sei und den Flug von Kilimandscharo nach Seronera zu Unrecht nicht als eine Beförderung betrachtet habe, welche C.B. sel. im Anschluss – als Beendigung der Reise – zum Flug von Florenz via Frankfurt nach Kilimandscharo auf direktem Weg vom Flughafen zum Hotel gebracht hätte. Bei richtiger Auslegung nach dem Vertrauensprinzip sei der Flug von Kilimandscharo nach Seronera von der Versicherung gedeckt.
4.7.1 Die Beklagte hat nicht bestritten, dass der Flug von Kilimandscharo nach Seronera mit der M. am 15. November 2017 direkt im Anschluss an die Ankunft von C.B. sel. am Flughafen Kilimandscharo auf ununterbrochenem Weg vom Flughafen erfolgte, es sich bei diesem Flug um ein öffentliches Verkehrsmittel gemäss Ziff. I.C. des allgemeinen Teils der Versicherungsbedingungen handelte und dieser Flug – als Teil der bei der K. GmbH gebuchten Pauschalreise – nicht mit der Kreditkarte bezahlt worden war. Die Beklagte bestreitet lediglich, dass C.B. sel. diesen Flug nicht zur Beendigung der Reise benützt habe, wäre diese mit der Kreditkarte bezahlte Reise doch erst in Frankfurt beendet gewesen.
4.7.2 Der Auffassung der Beklagten, die die Reise als einen länger dauernden Zeitraum verstehen will, die erst in Frankfurt [recte: Florenz] beendet gewesen wäre und durch die dazwischengeschobene bei der K. GmbH gebuchte Reise unterbrochen worden sei, kann nicht gefolgt werden. Vielmehr stellt – wie bereits ausgeführt – schon der Flug von Florenz via Frankfurt am Main nach Kilimandscharo als solcher eine Reise gemäss Ziff. IV.A.1.1 Abs. 2 BVB dar.
Der Weiterflug mit der M. vom Flughafen Kilimandscharo nach Seronera sollte C.B. sel. dazu dienen, in das Serengeti Safari Camp zu gelangen, in welchem er übernachtet und sich kurzzeitig aufgehalten hätte, bevor er die geplante Safari angetreten hätte. Indem selbst die Bestimmung von Ziff. IV.A.1.1 Abs. 2 BVB davon ausgeht, dass die Reise nicht am Flughafen, Hafen oder Bahnhof endet, durfte und musste C.B. sel. davon ausgehen, dass der Flug mit der M. nach Seronera (wo er erstmals in Tansania übernachtet hätte) der Beendigung seiner Reise, das heisst des Flugs von Florenz nach Kilimandscharo in Tansania, diente. Nicht anders würde es sich bei einem mit der Kreditkarte bezahlten Flug von Zürich nach Boston in einem öffentlichen Verkehrsmittel verhalten (den die Beklagte in der Klageantwort als Beispiel anführt): Dieser Flug würde ebenfalls eine Reise nach Ziff. IV.A.1.1 Abs. 2 BVB darstellen, welche nicht bereits am Flughafen Boston, sondern erst an jenem Ort enden würde, wo die erste Übernachtung stattfinden würde.
4.7.3 Unbeachtlich ist, dass C.B. sel. nach Ankunft im Serengeti Safari Camp eine Safari antreten wollte, zumal die Versicherungsbedingungen keinen Ausschluss des Versicherungsschutzes bei einer «Weiterreise» vorsehen. Zudem ist auch nicht entscheidend, dass der Flug mit der M. nach Seronera Teil der bei der K. GmbH gebuchten Leistungen war, da es nach Ziff. IV.A.1.1 Abs. 2. BVB keine Rolle spielt, wer für die Kosten für das öffentliche Verkehrsmittel aufkommt, welches der Beendigung der Reise dient.
4.8 Als Zwischenfazit ist demnach festzuhalten, dass der von C.B. sel. mit der Kreditkarte bezahlte Flug von Florenz via Frankfurt am Main nach Kilimandscharo in einem öffentlichen Verkehrsmittel als eine Reise zu betrachten ist. Der anschliessende Flug von Kilimandscharo nach Seronera mit der M., bei dem C.B. sel. ums Leben kam, wurde ebenfalls in einem öffentlichen Verkehrsmittel durchgeführt und diente der Beendigung der Reise von C.B. sel., womit er vom Versicherungsschutz nach Ziff. IV.A.1.1 Abs. 2 BVB erfasst wird. Unbestrittenermassen beträgt die Versicherungsleistung bei der Verkehrsmittel-Unfallversicherung im Todesfall 700'000 Franken.
4.9 Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf die von der Klägerin in der Berufung gemachten Ausführungen zur Unklarheitenregel und zu Art. 33 VVG einzugehen.
6. Zusammenfassend erweist sich die Berufung als begründet, weshalb sie gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben ist. Neu ist die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin einen Betrag von 700'000 Franken zu bezahlen. Nachdem die Beklagte den von der Klägerin geltend gemachten Verzugszins nicht bestritten hat, ist sie zudem zu verpflichten, der Klägerin auf dem Betrag von 700'000 Franken seit 15. November 2017 einen Zins von 5 Prozent zu bezahlen.
Obergericht Zug, Urteil Z1 2021 16 vom 20.5.2022
Zivilprozessrecht
Frist für Antrag auf Parteientschädigung beschränkt
Ein Antrag auf eine Prozessentschädigung erfolgt rechtzeitig, wenn sie bis zum Ende der Hauptverhandlung beantragt wird.
Sachverhalt
Ein Schuldner erhob in der Betreibung Rechtsvorschlag. Im Rechtsöffnungsverfahren zog der Gläubiger seine Begehren noch vor der Hauptverhandlung zurück. Der Schuldner forderte eine Parteientschädigung. Das Regionalgericht Bern-Mittelland beurteilte das Gesuch als verspätet. Anders das Obergericht. Man könne den Antrag auf Parteientschädigung bis zum Ende der Hauptverhandlung stellen.
Aus den Erwägungen
17. Die Vorinstanz erachtete vorliegend den Antrag auf Parteientschädigung als verspätet und begründete dies im Entscheid CIV 21 4707 ausführlich wie folgt:
17.1 In der Literatur würden zwei Ansichten vertreten, bis wann ein Antrag auf Parteientschädigung gestellt werden könne. Nach erster Auffassung sei der Antrag betreffend Zusprechung einer Parteientschädigung Teil des Rechtsbegehrens und könne daher nicht bis zum Schluss der Parteiverhandlung gestellt werden (mit Verweis auf Jenny, in: Schulthess-Kommentar ZPO, a.a.O., N. 6 zu Art. 105 ZPO). Nach zweiter Auffassung könne der Antrag auf Zusprechung einer Parteientschädigung bis zum Schluss der Parteiverhandlung gestellt werden. Begründet werde dies damit, dass es sich beim Anspruch auf Parteientschädigung um eine rein prozessrechtliche und akzessorische Nebenforderung handle. Die in Art. 227 Abs. 1 und Art. 230 Abs. 1 ZPO statuierten Voraussetzungen für eine Klageänderung bezögen sich nur auf den eigentlichen Streitgegenstand und gälten für den Antrag auf Ausrichtung einer Parteientschädigung nicht (mit Verweis auf Sterchi, in: Berner Kommentar, Zivilprozessordnung, Band I, Art. 1–149 ZPO, 2012 [zit. BK ZPO I], N. 8 zu Art. 105 ZPO sowie etwas widersprüchlich Urwyler/Grütter, welche einerseits den Antrag bis zum Schluss der Parteiverhandlung zulassen, andererseits verlangen würden, dass eine Kostennote spätestens an der Hauptverhandlung eingereicht werden müsse [in: Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], Schweizerische Zivilprozessordnung, Kommentar, Art. 1–196 ZPO, 2. Auflage 2016, N. 4 und 8 zu Art. 105 ZPO]).
Soweit ersichtlich habe sich das Bundesgericht noch nie mit der Frage zu befassen gehabt, bis wann es zulässig sei, einen Antrag auf Parteientschädigung zu stellen. Als kantonale Rechtsmittelinstanz habe sich das Appellationsgericht Basel-Stadt bereits mit dieser Frage auseinandergesetzt. Es sei der vorerwähnten zweiten Auffassung gefolgt und habe sich in seiner Begründung mitunter auf die bundesgerichtlichen Erwägungen in BGE 140 III 444 berufen. Gemäss dem Appellationsgericht spreche die Praxis des Bundesgerichts dafür, dass für den Antrag auf Ausrichtung einer Parteientschädigung nicht die gleichen Regeln gälten wie für Anträge in der Hauptsache. So habe das Bundesgericht erwogen, die für die Anträge in der Hauptsache geltend gemachten Anforderungen seien nicht ohne Weiteres auf den Antrag auf Ausrichtung einer Parteientschädigung als Nebenanspruch übertragbar. Dies zeige sich unter anderem darin, dass der Antrag auf Ausrichtung einer Parteientschädigung anders als auf Geldzahlung gerichtete Anträge in der Hauptsache nicht beziffert werden müsse und allgemein übliche Formulierungen wie «unter Kosten- und Entschädigungsfolge» genügen würden (Urteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt vom 21.11.2018 ZB.2018.24, E. 7.3 m.H.).
19.1 Oberinstanzlich zu klären ist, ob der Antrag des Beschwerdeführers auf Ausrichtung einer Parteientschädigung durch die unterliegende Gegenpartei rechtzeitig erfolgte. Nicht zu befinden ist über die Abschreibung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege zufolge Gegenstandslosigkeit, da dieser Entscheid nicht angefochten wurde.
19.3 Der Anspruch auf eine Parteientschädigung muss zwar nicht beziffert werden, wird aber nur auf Antrag zugesprochen (BGE 140 III 444, E. 3.2.2).
21.2 Bis zu welchem Zeitpunkt der Antrag auf eine Parteientschädigung gestellt werden muss, hat das Bundesgericht bisher nicht explizit entschieden. Gemäss dessen Rechtsprechung (BGE 140 III 444) handelt es sich beim Antrag auf eine Parteientschädigung nur um einen Nebenanspruch, nicht um einen Antrag in der Hauptsache. Das Schweizerische Bundesgericht unterstellt deshalb den Antrag auf Parteientschädigung nicht dem Erfordernis der Bezifferung, welches auf Leistungsklagen Anwendung findet (Art. 84 ZPO). Dies deutet darauf hin, dass der Antrag auf Parteientschädigung generell nicht den Regeln folgt, welche für die Anträge in der Hauptsache gelten.
21.6 Tatsächlich handelt es sich beim Antrag auf Ersatz der durch das Verfahren entstandenen Parteikosten um eine andere Kategorie Forderungen als die Anträge in der Hauptsache. Es liegt ihm kein materiell-rechtlicher Anspruch zugrunde, welcher auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden soll. Vielmehr soll durch die Parteientschädigung der Aufwand ersetzt werden, der durch die Prozessführung selbst erst entsteht. Als Nebenanspruch haben die Kosten denn auch keine Auswirkung auf den Streitwert (Art. 91 Abs. 1 ZPO).
21.7 Auch die von der Vorinstanz erblickte Parallele mit (anfänglich) unbezifferbaren Forderungen ist nicht einschlägig, da die beanspruchte Parteientschädigung eben nicht beziffert werden muss. Der Umstand, dass die Forderung (erst) am Ende des Verfahrens beziffert werden kann, lässt sie auch keineswegs zu einer Hauptforderung werden, welche den Regeln zur Klageänderung unterworfen wäre. Auch dass der Antrag einfach zu stellen ist, vermag die Anwendbarkeit von Art. 227 ZPO nicht zu begründen.
21.8 Dementsprechend lässt sich aus dem Prozessrecht nicht ableiten, dass der Antrag auf eine Parteientschädigung den Regeln zur Klageänderung unterliegt. Deshalb kann auch offenbleiben, ob hier die Voraussetzungen für eine «Klageänderung» vorlägen, bzw. ab welchem Zeitpunkt in diesem Summarverfahren der Antrag als verspätet gelten müsste.
22. Zusammengefasst kann der herrschenden Lehre gefolgt werden, welche den Antrag auf Parteientschädigung bis zum Ende der Parteiverhandlung zulässt.
24. Aus diesen Gründen sind die Beschwerden gutzuheissen. Die Vorinstanz hat dem Beschwerdeführer zu Unrecht keine Parteientschädigung zugesprochen.
Obergericht des Kantons Bern, Urteil ZK 2022 19–21 vom 4.5.2022
Strafrecht
Zürcher Obergericht bestätigt Strafe ohne Gesetz
Das Zürcher Obergericht bestätigt eine Strafe für ein Vergehen, die sich einzig auf eine Not- verordnung stützt.
Sachverhalt
Ein Wirt aus dem Kanton Zürich verstiess im Juni 2020 gegen die damals gültige Covid-Verordnung des Bundesrates. Er missachtete die Sperrstunde und sorgte nicht dafür, dass die Gäste einen Abstand von mindestens 1,5 Meter einhielten. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe von zehn Tagessätzen. Der Wirt wehrte sich, eine Verurteilung wegen eines Vergehens sei nur mit einem formellen Gesetz zulässig. Das Obergericht Zürich bestätigte den erstinstanzlichen Entscheid.
Aus den Erwägungen
III. 1.1 Der Beschuldigte stellt sich wie bereits im vorinstanzlichen Verfahren zusammengefasst auf den Standpunkt, die Vergehenstatbestände in der Covid-19-Verordnung 2 seien nicht rechtsgültig, was in Teilen der Literatur und einzelnen Gerichtsentscheiden auch anerkannt worden sei.
1.2 Die Vorinstanz hat sich mit den vom Beschuldigten vorgetragenen Argumenten bereits sehr einlässlich und sorgfältig auseinandergesetzt. Insbesondere hat die Vorinstanz festgehalten, dass die Covid-19-Verordnung 2 in der Fassung vom 8. Juni 2020 auf den vorliegenden Fall zur Anwendung komme. Weiter hat die Vorinstanz eine akzessorische Normenkontrolle der fraglichen Bestimmung von Art. 10f Abs. 1 der Covid-19-Verordnung 2 vorgenommen und kam zusammengefasst zum Schluss, dass der Bundesrat sowohl gestützt auf die Bestimmung in der Bundesverfassung gemäss Art. 185 Abs. 3 BV als auch gestützt auf die Bestimmung des Epidemiengesetzes gemäss Art. 7 EpG berechtigt war, die fraglichen Strafbestimmungen zu erlassen.
2.2 Wie ausgeführt, hat sich die Vorinstanz mit diesen Argumenten der Verteidigung bereits sehr ausführlich und sorgfältig auseinandergesetzt. Die Ausführungen der Vorinstanz erweisen sich in allen Teilen als zutreffend, weshalb in Anwendung von Art. 82 Abs. 4 StPO in globo auf diese verwiesen wird. An den überzeugenden Erwägungen und Schlussfolgerungen der Vorinstanz ändert auch das – von der Vorinstanz noch nicht ausführlich abgehandelte – Argument der Verteidigung nichts, wonach der Umstand, dass im am 26. September 2020 in Kraft getretenen Covid-19-Gesetz (SR 818.102) für selbige Verfehlungen nur noch Bussen angedroht würden, bezeichnend für die Unverhältnismässigkeit der Verordnung sei.
Es steht dem Gesetzgeber nämlich vielmehr offen, anstelle von zulässig erlassenen Vergehenstatbeständen gegebenenfalls neu nur noch Übertretungen vorzusehen. Daraus kann nicht auf die Unzulässigkeit der zuvor erlassenen Verordnungsbestimmung geschlossen werden.
Weiter vermag der Beschuldigte auch aus dem von ihm angeführten Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 15. März 2022 (Communauté Genevoise D’Action Syndicale CGAS c. Schweiz, Nr. 21881/20) nichts für seinen Standpunkt abzuleiten, zumal es in diesem Entscheid in erster Linie um die Zulässigkeit von Versammlungsverboten ging, welche das Grundrecht der Versammlungsfreiheit tangieren. Solche Grundrechte vermag der Beschuldigte, welchem bloss untersagt war, zwischen 00.00 Uhr und 06.00 Uhr sein Restaurant offen zu halten, nicht anzurufen. Dass die Strafbestimmungen in der Covid-19-Verordnung 2 gänzlich unverhältnismässig seien, ist aus dem Entscheid jedenfalls nicht zu lesen (vgl. insbesondere EGMR-Entscheid, Communauté Genevoise D’Action Syndicale CGAS c. Schweiz, Nr. 21881/20 vom 15. März 2022, Ziff. 89 in fine).
3. Zusammenfassend erweist sich die von der Vorinstanz vorgenommene rechtliche Würdigung als zutreffend. Der Beschuldigte ist entsprechend der Widerhandlung gegen Art. 10f Abs. 1 lit. c in Verbindung mit Art. 6a Abs. 4 lit. a sowie Art. 6a Abs. 5 der Covid-19-Verordnung 2 (Stand am 8. Juni 2020) schuldig zu sprechen.
Obergericht Zürich, Urteil SB220066 vom 4.10.2022
Kommentar
Bemerkenswert ist die ebenso kurze wie entscheidende Erwägung III.2.2 des Urteils. Darin hält das Obergericht Zürich grundsätzlich zu Recht fest, das EGMR-Urteil 21881/20 betreffend die Covid-19-Verordnung 2 des ersten Lockdowns im Frühling 2020 habe formell einzig eine Verletzung von Art. 11 EMRK (Versammlungsfreiheit) festgestellt. Daraus könne der betroffene Gastrounternehmer, der sein Lokal zu nächtlicher Sperrstunde vorschriftswidrig geöffnet hatte, nichts zu seinen Gunsten ableiten.
Zu behaften ist das Obergericht im Umkehrschluss immerhin darauf, dass jenes EGMR-Urteil hinsichtlich der Versammlungsfreiheit für die Schweiz verbindlich ist. In diesem Kontext ist mit Blick auf die diversen, vom Statthalteramt Zürich trotz gegensätzlichem EGMR-Urteil weiterhin erhobenen Anklagen gegen Teilnehmer von Kundgebungen im Frühjahr 2020 darauf hinzuweisen, dass in all jenen Fällen nicht nur eine Verurteilung in Bezug auf eine Verletzung der Covid-19-Verordnung 2 ausscheiden muss. Vielmehr darf diesfalls auch kein Schuldspruch wegen Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration erfolgen, denn angesichts der rigorosen 5–15-Personen-Obergrenze ist geradezu offensichtlich, dass es damals objektiv unmöglich gewesen wäre, irgendeine Demo bewilligen zu lassen.
Stossend ist am obergerichtlichen Urteil nicht der Umstand, dass darin eine Verbindlichkeit des EGMR-Urteils für Covid-Verstösse ohne Bezug zur Versammlungsfreiheit verneint wurde. Zu kurz greift die Sichtweise des Obergerichts indes, wo es in E. III.2.1 alle rechtlichen Ausführungen des Verteidigers des Beschuldigten kursorisch zusammenfasst, um hernach in E. III.2.2 einzig festzuhalten, der EGMR-Entscheid sei auf jenen Fall nicht anwendbar, sowie im Übrigen in Anwendung von Artikel 82 Absatz 4 StPO lapidar auf die Erwägungen der Erstinstanz zu verweisen. Denn immerhin beruhte ein zentrales Argument der Verteidigung auf der Prämisse, dass Vergehenstatbestände mit Geldstrafen- und Strafregisterfolge auf Verordnungsstufe per se nicht zulässig sind, weil sie das strafrechtliche Legalitätsprinzip (Artikel 1 StGB) verletzen. Eine Haltung, die vermutlich gar der Mehrheitsmeinung der schweizerischen Strafrechtslehre entspricht, welche den gegenteiligen BGE 123 IV 29 von 1997 (Waffenverbot für jugoslawische Staatsangehörige im Kontext des Balkankriegs) überwiegend kritisierte.
Über 25 Jahre nach jenem Leitentscheid ist denn keineswegs ausgeschlossen, dass das Bundesgericht im Lichte der massiven Kritik aus der Lehre seine Haltung zu Vergehenstatbeständen auf Verordnungsstufe zu ändern bereit wäre, wenn es sich wieder mit einem ähnlichen Fall befassen müsste. Vor diesem Hintergrund irritiert, mit welcher Selbstverständlichkeit das Obergericht sich damit begnügt, jener Frage inhaltlich erst gar nicht im Detail nachzugehen. Dies umso mehr, als es sich dabei um eine covidunabhängige Grundsatzfrage handelt, die von hoher Praxisrelevanz ist. Artur Terekhov, Jurist, Oberengstringen ZH
Verwaltungsrecht
Die Höhe des Wasserverbrauchs ist keine Privatsache
Ein grosser Ressourcenverbrauch ist kein schützenswertes Geschäfts- oder Fabrikgeheimnis.
Sachverhalt
Ein Journalist forderte bei einer Gemeinde im Kanton St. Gallen gestützt auf das Öffentlichkeitsprinzip Zugang zur Information über alle Bezüger, die im Jahr mehr als 20'000 Kubikmeter Wasser pro Jahr verbrauchen. Die Gemeinde lehnte das Gesuch ab. Das zuständige kantonale Departement gab dem Journalisten jedoch recht. Eine betroffene Firma wehrte sich dagegen mit einer Beschwerde vor dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen.
Aus den Erwägungen
E. 6 Die Vorinstanz hat überzeugend begründet, dass dem uneingeschränkten Zugang zu den Vereinbarungen keine öffentlichen Interessen entgegenstehen. Darauf ist zu verweisen und es erübrigen sich weitere Ausführungen hierzu, zumal die Beschwerdebeteiligte im Beschwerdeverfahren nicht mehr entgegenstehende öffentliche Interessen gegen den uneingeschränkten Zugang ins Feld führt und solche auch nicht ersichtlich sind.
E. 7 Dem von der Beschwerdeführerin geäusserten Standpunkt, die Vorinstanz habe den Sinn und Zweck des OeffG verkannt, ist ebenfalls nicht beizupflichten. Vorweg zielt das vorliegend zu beurteilende Gesuch auf den (Gross-)Verbrauch des immer knapper werdenden öffentlichen Guts «Wasser» ab und stellt entgegen der Ausführung der Beschwerdeführerin nicht einen Ausfluss von «Voyeurismus» dar. Ohnehin setzt der Zugang zu amtlichen Dokumenten kein besonderes Interesse seitens der gesuchstellenden Person voraus (Art. 5 Abs. 1 lit. b OeffG).
In Anbetracht des öffentlichen Interesses am hohen Wasserverbrauch der Beschwerdeführerin, des Fehlens entgegenstehender öffentlicher und schützenswerter privater Interessen sowie des grossen Gewichts, welches das OeffG dem Transparenzgebot beimisst (Urteil des Bundesgerichts 1C_665/2017 vom 16. Januar 2019, E. 5.7), würde vielmehr die Verweigerung der uneingeschränkten Offenlegung dessen Sinn und Zweck zuwiderlaufen.
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Entscheid B 2022/81 vom 16.1.2023