In Martha Niquilles Büro in Lausanne steht ein E-Piano. Wenn die neue Präsidentin des Bundesgerichts Zeit hat, spielt sie zum Ausgleich darauf – allerdings nur mit Kopfhörern. Als Fotomotiv für plädoyer soll das Instrument auf keinen Fall herhalten. Es könnte sonst der Eindruck entstehen, dass am höchsten Gericht der Schweiz lieber musiziert als geurteilt wird.
Niquille will sich auch nicht als Bildungsbürgerin inszenieren. Und zur Schau gestellte Jovialität war nie ihre Sache. «Das konnte sie sich in ihrer Laufbahn weniger leisten als andere», sagt Rolf Brunner. Er präsidiert heute das St. Galler Handelsgericht und arbeitete mit Niquille mehrere Jahre am dortigen Kantonsgericht zusammen.
Der Weg zur Juristin war für Martha Niquille nicht vorgezeichnet. Sie wuchs im ländlichen Kanton St. Gallen auf, der Vater war Käser, die Mutter Hausfrau. Der Zugang zum Gymnasium war für sie als Mädchen erst über Umwege möglich. Im Kanton Thurgau, wo sie die Sekundarschule besuchte, war Unterricht in Geometrie nur für Knaben vorgesehen. Geometrie war aber Pflichtfach für die Gymi-Aufnahme. Nach der Haushaltungs- und der Töchterschule konnte sie schliesslich doch noch ins Gymnasium eintreten. Sie war die erste in ihrer Familie, welche die Matura machte.
Später entschied sie sich für das Studium der Staatswissenschaften an der Uni St. Gallen. «Nicht alle in der Verwandtschaft waren glücklich über meine eingeschlagene Laufbahn», erinnert sich Niquille.
Später, am St. Galler Kantonsgericht, kam ihr wieder eine Vorreiterrolle zu: Niquille war die erste Richterin, die in einem Pensum von 80 Prozent arbeitete. Nur so konnte die Mutter zweier Söhne Beruf und Familie unter einen Hut bringen. Damit dies möglich war, musste damals sogar das Gesetz angepasst werden.
Rolf Brunner glaubt, dass sie auch wegen der Doppelbelastung sowie dem vorherrschenden Rollenverständnis weniger oft an Apéros «hocken geblieben» sei als ihre männlichen Kollegen. Das dürfte dazu beigetragen haben, dass sie mit ihren politischen Ambitionen keinen Erfolg hatte.
Als sie sich 2007 im Kanton St. Gallen für die CVP als Regierungsratskandidatin aufstellen lassen wollte, scheiterte sie bereits in der parteiinternen Ausmarchung. «Im Nachhinein war das für sie wohl ein Segen. In der Rechtsprechung kommen ihre fachlichen Kompetenzen wesentlich besser zum Tragen als in der Politik», so Brunner.
“Eine standhafte Richterpersönlichkeit”
Ausser Brunner finden sich kaum Kollegen, die sich offiziell zur Bundesgerichtspräsidentin äussern wollen. «Off the record» wird sie mit Attributen gekennzeichnet, die Männer gerne auf erfolgreiche Frauen anwenden: «Tough und bissig» sei sie, meint einer. «Ehrgeizig», sagen andere.
Einer, der sich gerne zu Martha Niquille äussert, ist ihr Vorgänger Ulrich Meyer, Bundesgerichtspräsident von 2017 bis 2020. Er lobt sie in den höchsten Tönen: Niquille habe «Format». Sie sei «eine Richterpersönlichkeit: standhaft, mutig, unabhängig».
Meyer und Niquille bildeten zuletzt eine Art Schicksalsgemeinschaft. Sie gehörten beide der Verwaltungskommission des obersten Gerichts an. Dieses Gremium hattte letztes Jahr mehrere Vorwürfe rund um das Bundesstrafgericht in Bellinzona untersuchen. Es ging unter anderem um Mobbing und Sexismus. Dabei geriet Niquille plötzlich selbst unter Beschuss: Im Rahmen einer Anhörung äusserte sich Meyer über eine Bundesstrafrichterin («Magersüchtige mit giftigem Blick»). Auf der Tonbandaufnahme soll ein Lachen Niquilles zu hören sein, was ihr als «Billigung» ausgelegt wurde. Der Vorfall wurde in den Medien kurz vor ihrer Wahl zum Thema. Zum Nachteil geriet er ihr nicht: Niquille wurde von der Bundesversammlung im Dezember mit 173 Stimmen gewählt, 53 Stimmzettel wurden leer eingelegt.
Niquille hat die Episode nie kommentiert und will dies auch gegenüber plädoyer nicht tun. Sie sagt nur: «Meine Kolleginnen und Kollegen haben mich nominiert. Ich sehe das als Ausdruck des Vertrauens und spüre die Unterstützung auch seit meinem Start ins Präsidium.»
Niquille wird das Bundesgericht zwei Jahre lang präsidieren. Danach wird die heute 66-Jährige pensioniert. Auf sie warten diverse Herausforderungen: Die Arbeitslast am höchsten Gericht ist in den letzten Jahren gestiegen. 2007 rechnete man nach der in Kraft getretenen Gesetzesrevision mit maximal 7400 Fällen pro Jahr. Letztes Jahr waren es um die 8000. Vor allem die strafrechtliche Abteilung ist stark belastet. Niquille will das Problem zunächst intern angehen – mit einer besseren Verteilung zwischen den Abteilungen. Sie lässt offen, ob eine zusätzliche Richterstelle nötig ist. Das letzte Wort hätte dazu die Bundesversammlung.
Aufholbedarf in Sachen Frauenförderung
In Anwaltskreisen wird vermutet, das Bundesgericht wolle die Anzahl Fälle auch durch hohe formelle Anforderungen etwa an die Willkürrüge in den Griff bekommen. Niquille verneint: «Willkür bedeutet ‹krass falsch›. Es war die Absicht des Gesetzgebers, dass das Bundesgericht Rechts- und keine Sachverhaltsfragen prüft.» Dass solche Beschwerden oft nicht erfolgreich seien, hänge nicht damit zusammen, dass die Rügen formell nicht genügen würden, sondern dass schlicht inhaltlich keine Willkür vorliege. «Dass wir uns auf diesem Weg Arbeit ersparen wollen, trifft nicht zu.»
Aufholbedarf besteht am Bundesgericht in Sachen Frauenförderung: Von 38 hauptamtlichen Richtern sind bloss 15 Frauen. Daran ändern können wird Niquille wenig: «Ich habe keinen Einfluss auf die Wahl der Richter. Das ist Sache der Bundesversammlung», stellt sie klar.
Die Richterinnen sind auch sehr ungleich verteilt. Zurzeit bestimmen vier Frauen und ein Mann die Rechtsprechung im Vertragsrecht. In der ersten öffentlich- rechtlichen Abteilung ist es genau umgekehrt. Hat die Zusammensetzung Einfluss auf die Urteile? Niquille verneint. Zwar gebe es Fälle, bei denen die Sicht einer Frau anders ausfallen könne. Entscheidend sei aber die Fähigkeit, in einem Richtergremium kollegial zusammenzuarbeiten. «Das ist eine Frage des Charakters, nicht des Geschlechts», sagt Niquille. Das gelte auch für allfällig unterschiedliche Mentalitäten von Richtern aus den einzelnen Landesteilen und Sprachregionen.
Gerade deshalb sei der Austausch unter den Richtern wichtig. Dieser komme zurzeit etwas zu kurz. Denn auch am Bundesgericht werde im Homeoffice gearbeitet. Niquille dürfte nicht nur wegen der gemeinsamen Kaffeepause einer Lockerung der bundesrätlichen Massnahmen entgegenfiebern. Sondern auch, weil sie dann wieder Klavierstunden nehmen kann.