Mit Beschluss vom 17. Juni 2022 hat die Bundesversammlung zahlreiche Änderungen der Strafprozessordnung vorgenommen.1 Die Referendumsfrist lief am 6. Oktober 2022 unbenutzt ab. Die neuen Regeln werden voraussichtlich am 1. Januar 2024 in Kraft treten.2 Dieser Text gibt einen raschen Überblick über die für die Praxis relevanten Gesetzesänderungen, insbesondere auch für Kolleginnen und Kollegen, die nicht überwiegend im Fachbereich Strafrecht und Strafprozessrecht tätig sind.3
1. Protokollierung auch später möglich
Das 21. Jahrhundert hat einen Fünftel seiner Zeit bereits deutlich überschritten. Smartphones und Tablets mit leistungsstarken Programmen prägen unser Leben. Die Möglichkeit, Befragungssituationen und das darin Gesagte audiovisuell aufzuzeichnen und damit die aus Zeiten der Schreibfeder und Schreibmaschine stammende Protokollierung (Artikel 78) zu ergänzen, ist längst überfällig und wird in der Praxis viel zu wenig genutzt.4
Die gesetzliche Grundlage für eine audiovisuelle Aufzeichnung von Aufnahmen besteht bereits (Artikel 76 Absatz 4 StPO). Die Aufzeichnung schafft die Möglichkeit, dass ein Gericht die Genese einer protokollierten Aussage und ihren Kontext unmittelbar beobachten kann. Mit der Revision wird Artikel 78 Absatz 5bis aufgehoben.5 Der neue Artikel 78a sieht im Falle der Aufzeichnung von Einvernahmen mit technischen Hilfsmitteln (Artikel 76 Absatz 2) die folgenden Abweichungen von den allgemeinen Protokollierungsvorschriften gemäss Artikel 78 vor:
- Nachträgliche Protokollierung: Gemäss litera a kann anstelle einer laufenden Protokollierung während der Einvernahme das Protokoll auch erst danach gestützt auf die Aufzeichnung erstellt werden, grundsätzlich jedoch innerhalb von sieben Tagen nach der Einvernahme. Die Bestimmung entbindet von der Pflicht zur laufenden Protokollierung, nicht aber von der Erstellung eines schriftlichen Protokolls an sich. Gemäss Botschaft muss auch das nachträglich erstellte Protokoll kein Wortprotokoll sein (Artikel 78 Absatz 3).6
- Verzicht auf Unterschrift: Gemäss litera b kann die einvernehmende Behörde darauf verzichten, der Person das Protokoll vorzulesen oder zum Lesen vorzulegen und von dieser unterzeichnen und visieren zu lassen.
- Aufzeichnung ist Teil der Akten: Gemäss litera c wird die Aufzeichnung der Einvernahme sofort zu den Akten genommen.
Der neue Artikel 78a dürfte bei konsequenter Anwendung eine deutliche Entlastung der Befragungssituationen von sachfremden und unnötigen Faktoren mit sich bringen. Die befragende Person könnte sich zukünftig auf ihre Hauptaufgabe, die Befragung und das Anwenden der geeigneten Befragungstechniken konzentrieren, anstatt auf die «Bedienung» der Tastatur und der Technik oder auf das Gegenlesen und die Rückübersetzung der Protokolle zu warten, was jeweils einen grossen Teil der Zeit in Anspruch nimmt und damit letztlich Kosten verursacht. Die Schreibarbeit kann nun im Nachgang, ohne Zeitdruck und in Abwesenheit der Verfahrensbeteiligten und damit kostengünstiger anhand der Aufnahmen nachgeholt werden. Es dürfte allerdings fraglich sein, ob die neue Vorschrift die Strafverfolgungsbehörden praktisch zur Aufzeichnung von Einvernahmen motivieren wird. Die Aufzeichnung von Einvernahmen ist ein griffiges Mittel für die gerichtliche Kontrolle des Vorverfahrens und dürfte zu einer Stärkung der schützenden Formen des Strafverfahrens führen.
2. Zugang des Opfers zu Strafentscheiden
Der neue Artikel 117 Absatz 1 litera g weitet das bisherige Recht des Opfers auf Information aus (Artikel 117 Absatz 1 litera e in Verbindung mit Artikel 305 und Artikel 330 Absatz 3). Er sieht gestützt auf den Schlussbericht zur Evaluation des OHG vom 21. Dezember 20157 neu ausdrücklich ein Recht der Opfer vor, den Entscheid oder den Strafbefehl in der Rechtssache unentgeltlich zu erhalten.
Damit wird den berechtigten Anliegen Rechnung getragen, dass Personen mit Opfereigenschaften auch dann über den Ausgang eines Verfahrens informiert werden möchten, wenn sie sich nicht als Privatklägerschaft im Sinne von Artikel 118 ff. und damit nicht als Partei (Artikel 104 Absatz 1 litera b) am Strafverfahren beteiligen wollen.
3. Präklusion im Adhäsionsverfahren
Wer im Strafverfahren adhäsionsweise zivilrechtliche Ansprüche aus einer Straftat geltend machen will, kann mit der Bezifferung und Begründung nicht mehr bis zu den Parteivorträgen zuwarten. Gemäss dem neuen Artikel 123 Absatz 2 haben Zivilforderungen innert der von der Verfahrensleitung (des Gerichts im Hauptverfahren) angesetzten Frist zu erfolgen. Artikel 331 Absatz 2 zweiter Satz sieht neu vor, dass die Verfahrensleitung Privatklägern eine Frist zur Bezifferung und Begründung der Zivilklage ansetzt. Die Zivilklage muss somit auch neu nicht, kann aber bereits im Vorverfahren beziffert und begründet werden. Aus einer gesetzlichen Frist (Artikel 346 f.) wird neu eine richterliche und damit erstreckbare Frist.
Die Regelung ist zu begrüssen. Es war und ist nicht einzusehen, welchen Vorteil die späte Bezifferung und Begründung der zivilrechtlichen Ansprüche für irgendeinen Akteur des Strafverfahrens hatte. Neu werden die Parteien des Hauptverfahrens bei der Eröffnung der strafrechtlichen Hauptverhandlung wissen, über welche Art von Forderung in welchem Betrag, gestützt auf welche Beweise und mit welcher Begründung zivilrechtlich gestritten wird.8
4. Widersprüche im Gesetz eliminiert
Die neuen Absätze 2 und 3 von Artikel 131 heben bisherige Widersprüche9 auf und präzisieren den Zeitpunkt, ab welchem eine notwendige Verteidigung sicherzustellen ist. Absatz 2 sieht vor, dass, sofern die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung bei Einleitung des Vorverfahrens erfüllt sind, die Verteidigung vor der ersten Einvernahme, welche die Staatsanwaltschaft oder in deren Auftrag die Polizei durchführt, sicherzustellen ist. Absatz 3 bereinigt eine sprachliche Diskrepanz zwischen den deutschen und italienischen Gesetzestexten einerseits und dem französischen Gesetzestext andererseits und passt alle Sprachversionen ausdrücklich an den französischen Wortlaut an. Nach dem deutschen und dem italienischen Gesetzestext war die rechtzeitige Einsetzung einer notwendigen Verteidigung eine blosse Gültigkeitsvorschrift, bei deren Verletzung erhobene Beweise dennoch verwertet werden dürfen, wenn sie zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich sind (Artikel 141 Absatz 2 StPO). Gemäss dem neuen Absatz 3 ist klar, dass Beweise, die vor der Einsetzung einer erkennbar notwendigen Verteidigung erfolgt sind, nur dann verwertet werden, wenn die beschuldigte Person auf eine Wiederholung verzichtet.10
5. Rechtsmittelweg vereinheitlicht
Das Bundesgericht hat in BGE 139 IV 199 Erwägung 5.5 die Rechtsmittellegitimation der Staatsanwaltschaft gegen die Höhe der Entschädigung der amtlichen Verteidigung bejaht. Dies führte zu einer Zweiteilung der Rechtsmittelwege. Der neue Absatz 3 von Artikel 135 StPO vereinheitlicht den Rechtmittelweg nun auf die denkbar unglücklichste Weise. Die amtliche Verteidigung hat neu gegen den Entschädigungsentscheid das Rechtsmittel zu ergreifen, das gegen den Endentscheid zulässig ist. Damit wird sie im Rechtsmittelverfahren regelmässig in einen unlösbaren Interessenkonflikt versetzt. Ein höheres amtliches Honorar widerspricht den Interessen seines Klienten dann direkt, wenn zu erwarten ist, dass es zumindest teilweise von ihm zurückgefordert werden kann. Die Verteidigung wird also ins Rubrum des Entscheids aufzunehmen sein und der Verteidiger wird für sein Geld plädieren müssen. Aus dem rechtlichen Gehör fliesst, dass sich der verteidigte Beschuldigte und auch der Staatsanwalt dazu äussern dürfen.
Die Revision verpasste es, die Frage der Entschädigung der besonderen Rechtsnatur des Auftragsverhältnisses zwischen Staat und Verteidigung entsprechend aus dem Strafverfahren herauszunehmen.11 Bei der amtlichen Verteidigung handelt es sich um eine sich zwar zugunsten der beschuldigten Person auswirkende, letztlich aber im öffentlichen Interesse liegende staatliche Verpflichtung, die sowohl aus seiner Justizgewährleistungspflicht wie auch aus seiner Fürsorgepflicht abgeleitet werden kann. Der amtliche Verteidiger ist als Gläubiger einer Entschädigung aus einem öffentlich-rechtlichen Auftragsverhältnis einziger Adressat des Auftrags und damit auch des Entschädigungsentscheids. Die Festsetzung der Höhe der amtlichen Entschädigung ist in diesem Sinne als Verwaltungstätigkeit sui generis des Richters zu qualifizieren.12
6. Inkassorisiko für Wahlverteidiger
Bei frei gewählter Verteidigung sieht Artikel 429 Absatz 3 neu vor, dass der Anspruch auf Entschädigung bei einem Freispruch oder einer Einstellung unter Vorbehalt der Abrechnung mit ihrer Klientschaft ausschliesslich der Verteidigung zusteht.
7. Stellung der Opfer verbessert
Nach dem aktuellen Wortlaut von Artikel 136 Absatz 1 wird der Privatklägerschaft die unentgeltliche Rechtspflege ausschliesslich zur Durchsetzung ihrer Zivilansprüche gewährt, nicht aber, wenn sie keine solchen geltend macht und sich nur als Strafklägerschaft am Verfahren beteiligen will (Artikel 119 Absatz 2 litera a).
Neu gewährt die Verfahrensleitung gemäss litera b von Absatz 1 dem Opfer auf Gesuch hin ganz oder teilweise die unentgeltliche Rechtspflege für die Durchsetzung seiner Strafklage, wenn es nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Strafklage nicht aussichtslos erscheint. Absatz 2 regelt ausdrücklich, dass die unentgeltliche Rechtspflege die Bestellung eines Rechtsbeistands umfasst, wenn dies zur Wahrung der Rechte der Privatklägerschaft oder des Opfers notwendig ist. Notwendig heisst gemäss der Botschaft, welche auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung verweist,13 dass besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Natur vorliegen, denen der oder die Betroffene auf sich selbst gestellt nicht gewachsen ist, sodass eine sachgerechte, hinreichend wirksame Interessenwahrung nicht möglich ist. Schliesslich regelt der neue Absatz 3 ganz generell, dass die unentgeltliche Rechtspflege im Rechtsmittelverfahren neu zu beantragen ist. Die Voraussetzungen und insbesondere die Frage der Notwendigkeit müssen im Rechtsmittelverfahren also neu geprüft und beurteilt werden.
8. Keine Pflicht zur Rückerstattung mehr
Der neue Absatz 1bis von Artikel 138 befreit das Opfer und seine Angehörigen von der Rückerstattungspflicht der Kosten für die unentgeltliche Rechtspflege. Dies gilt neu, entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichts, auch für das Rechtsmittelverfahren.14
9. Verwertungsverbot präzisiert
Der bisher geltende Absatz 4 von Artikel 141 verbietet lediglich die Verwertung von Beweisen, die wegen eines Beweisverwertungsverbots gemäss Absatz 2 erhoben werden konnten. Die Verwertung von Folgebeweisen wegen eines absoluten Verwertungsverbots untersagte das Gesetz bisher nicht ausdrücklich. Das wird durch den neuen Absatz 4 korrigiert.
10. Neuerungen im Haftrecht
Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind neu gemäss litera c von Artikel 221 Absatz 1 nur zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch Verbrechen oder schwere Vergehen die Sicherheit anderer unmittelbar erheblich gefährdet, nachdem sie schon früher gleichartige Straftaten verübt hat. Das heisst, es werden wie bis anhin mindestens zwei früher verübte gleichartige Straftaten als sogenannte «Vortaten» vorausgesetzt.15 Der Begriff «verübt» meint «rechtskräftig beurteilt».16 Mit «unmittelbar» ist laut Botschaft gemeint, «dass die von der beschuldigten Person ausgehende Bedrohung akut sein muss, die schweren Straftaten in naher Zukunft drohen und deshalb die Haft mit grosser Dringlichkeit angeordnet werden muss».17
Der neue Absatz 1bis sieht einen zusätzlichen Haftgrund wegen qualifizierter Wiederholungsgefahr für Personen vor, die dringend verdächtigt werden, durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt zu haben (litera a), und setzt voraus, dass die ernsthafte und unmittelbare Gefahr besteht, diese Person werde ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben (litera b). Der neue Absatz 1bis verzichtet auf das Vortatenerfordernis. Gemäss der Botschaft ist seine Anwendung auf Verbrechen und schwere Vergehen gegen «hochwertige Rechtsgüter» wie Leib und Leben oder sexuelle Integrität einzuschränken. Das zusätzliche Erfordernis der «schweren Beeinträchtigung» soll «sicherstellen, dass nicht nur der abstrakte Strafrahmen der Straftaten, sondern auch die Umstände des Einzelfalles bei der Haftprüfung berücksichtigt werden (litera a).18
11. Beschwerde nur noch für Verhaftete
Der neue Artikel 222 macht klar, dass einzig die verhaftete Person Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten kann. Eine entsprechende Anpassung erfährt auch Artikel 81 Absatz 1 litera b Ziff. 3 BGG.
Anders als bei der Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft gegen Entschädigungsentscheide über die Höhe der amtlichen Verteidigung (Artikel 135 Absatz 3) wird damit das vom Bundesgericht eingeführte Beschwerderecht ausdrücklich nicht in das Gesetz übernommen und damit im Grunde der bisherige Wortlaut bestätigt. Die «verhaftete Person» ist auch ohne den Zusatz «einzig» die verhaftete Person und nicht auch die «verhaftende Behörde».
Die neue/alte Regelung ist zu begrüssen und stärkt die Funktion der Zwangsmassnahmengerichte, die seit Einführung der Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft praktisch zu Durchlauferhitzern verkamen und damit ihre Daseinsberechtigung, zumindest in Haftsachen, nahezu verloren hatten. Nach der Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 5 Absatz 3 EMRK muss das Gericht denn auch die Kompetenz haben, die Haftentlassung verbindlich anzuordnen (sogenannte «power of release»; vgl. auch Artikel 31 Absatz 3 BV), falls die Haftgründe nicht oder nicht mehr erfüllt sind.
12. Polizei darf Blutprobe anordnen
Der neue Artikel 251a sieht vor, dass die Polizei zur Feststellung der Fahrunfähigkeit die Abnahme einer Blutprobe und deren Analyse in den Fällen anordnen kann, in denen das Bundesrecht eine Blutuntersuchung vorsieht (litera b). Die Polizei kann heute in diesen Fällen die Blutuntersuchung nicht selbständig anordnen, sondern muss jeweils die Staatsanwaltschaft darum ersuchen. Auch für die Anordnung der Abnahme von Urin und dessen Analyse ist neu die Polizei zuständig. Die Staatsanwaltschaft bleibt aber zuständig für Blutuntersuchungen, für deren Anordnung ein Ermessen besteht.19
13. Kostenregelung bei Ehrverletzung
Gemäss dem neuen Artikel 303a kann die Staatsanwaltschaft bei Ehrverletzungsdelikten die antragstellende Person auffordern, innert einer Frist für allfällige Kosten und Entschädigungen eine Sicherheit zu leisten (Absatz 1). Wird diese Sicherheit nicht fristgerecht geleistet, so gilt der Strafantrag als zurückgezogen (Absatz 2). Auf diese Weise wird der Verfolgung von Ehrverletzungsdelikten ein zivilprozessuales Element beigegeben, wie es vormals in den «Privatstrafklageverfahren» einzelner kantonaler Strafprozessordnungen anzutreffen war. Dies aus der richtigen Überlegung, wie es in der Botschaft heisst, «dass bei solchen Delikten der Antrieb für eine Anzeige oft eher im Wunsch nach persönlicher Vergeltung liegt als in der Tatsache einer Rechtsgutverletzung. Stehen solche Motive für eine Anzeige im Vordergrund, so rechtfertigt es sich, von der antragstellenden Person einen Vorschuss zu verlangen, bevor der Strafverfolgungsapparat in Gang gesetzt wird».20
Zu beachten bleibt allerdings, dass der neue Artikel 303a eine Kann-Vorschrift ist. Die Staatsanwaltschaft verfügt sowohl bei der Entscheidung über die Frage, ob eine Sicherheitsleistung einverlangt wird, als auch bei der Frage, wie hoch diese Sicherheitsleistung sein soll, über ein Ermessen.21
14. Mitteilungspflicht an Geschädigte
Gemäss dem heute geltenden Artikel 318 teilt die Staatsanwaltschaft den Parteien mit bekanntem Wohnsitz schriftlich den bevorstehenden Abschluss mit, wenn sie die Untersuchung als vollständig erachtet, und gibt ihnen bekannt, ob sie Anklage erheben oder das Verfahren einstellen will. Diese Mitteilungspflicht gilt nicht im Falle des Erlasses eines Strafbefehls. Gerade im Massengeschäft der Strafbefehlsverfahren wäre sie aber dringend nötig gewesen. Diesen Mangel beseitigt der neue Absatz 1b nur teilweise und nur unzureichend.
Gemäss der neuen Bestimmung hat die Staatsanwaltschaft den geschädigten Personen mit bekanntem Wohnsitz, die noch nicht über ihre Rechte informiert wurden, schriftlich mitzuteilen, dass sie einen Strafbefehl erlassen, Anklage erheben oder das Verfahren durch Einstellung abschliessen will, und ihnen eine Frist anzusetzen, innerhalb welcher sie sich als Privatklägerschaft konstituieren und Beweisanträge stellen können. So weit, so gut. Der praktisch relevante und gewichtige Stolperstein liegt in der Einschränkung «die noch nicht über ihre Rechte informiert wurden». Das geltende Recht sieht zwar in verschiedenen Bestimmungen Informationspflichten der Strafbehörden vor.22 In der Praxis werden den Opfern aber regelmässig bei der Anzeigeerstattung Formulare in die Hand gedrückt, womit diese Personen auch in Zukunft per Formular als über ihre Rechte informiert gelten dürften.
Es ist bedauerlich, dass die Chance verpasst wurde, gerade in dem unter rechtstaatlichen Aspekten in der Lehre immer kritisierten Strafbefehlsverfahren eine generelle Mitteilungspflicht an die Parteien, insbesondere auch an die beschuldigte und – nota bene – zu bestrafende Person, festzumachen. Die Mitteilung ist, wie es in der Botschaft ausdrücklich und richtig formuliert wird «Ausfluss der strafbehördlichen Aufklärungs- und Fürsorgepflicht, die sich wiederum aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren (Artikel 3 Absatz 2 litera c StPO) ableiten lassen».23
Es ist nicht einzusehen, weshalb dieses Fairnessgebot im Strafbefehlsverfahren nur eingeschränkt und nur für die geschädigte Person gelten soll. Es wäre daher wünschenswert und wohl auch für die Strafverfolgungsbehörden organisatorisch einfacher, diese gesetzliche Einschränkung zu ignorieren und ganz einfach in jedem Fall und bei jeder Abschlussart identisch den bevorstehenden Abschluss der Untersuchung mitzuteilen.
15. Zwingende Einvernahme
Zu begrüssen ist daher unter diesem Aspekt der neue Artikel 352a. Er verpflichtet die Staatsanwaltschaft, eine Einvernahme der beschuldigten Person stets dann durchzuführen, wenn zu erwarten ist, dass der Strafbefehl eine zu verbüssende Freiheitsstrafe zur Folge haben wird. Als zu verbüssende Freiheitsstrafe gilt gemäss der Botschaft nicht nur eine unbedingte oder teilbedingte Freiheitsstrafe, sondern auch der Widerruf eines bedingt gewährten Vollzugs einer Freiheitsstrafe.24 Bedauerlich ist jedoch, dass die Pflicht zur Einvernahme auf die Strafart der Freiheitsstrafe beschränkt ist. Auch eine zu verbüssende Geldstrafe (Artikel 352 Absatz 1 litera b) oder Massnahme (litera d) stellt regelmässig einen empfindlichen Eingriff dar.
16. “Vereinfachtes” Adhäsionsverfahren
Gemäss dem neuen Artikel 353 Absatz 2 kann die Staatsanwaltschaft im Strafbefehlsverfahren neu über Zivilforderungen bis zum Betrag von 30 000 Franken entscheiden, unter der alternativen Voraussetzung, dass diese Forderungen entweder von der beschuldigten Person anerkannt worden sind (litera a) oder deren Beurteilung ohne weitere Beweiserhebungen möglich ist (litera b). Der massgebliche «Streitwert» orientiert sich am «vereinfachten Verfahren» gemäss Artikel 243 ff. ZPO.25
Für die Praxis relevant dürfte sein, wann die Beurteilung einer von der beschuldigten Person nicht anerkannten Zivilforderung unter 30 000 Franken «ohne weitere Beweiserhebung möglich ist». Die Botschaft verweist in diesem Punkt auf Hebeisen,26 der festhält, dass dies dann der Fall sein soll, wenn die tatsächlichen Verhältnisse ausreichend geklärt seien und eine Beurteilung der Zivilforderung daher ohne besondere Umstände möglich scheine. Eine Forderung solle nicht leichtfertig auf den Zivilweg verwiesen werden.
Als unzulässig erachtet Hebeisen das Unterlassen einer minimalen Abklärung, um sich den Mehraufwand zu ersparen. Die gerichtliche Praxis wird diese Formel zu konkretisieren haben. Die Formulierung des neuen Artikels 353 Absatz 2 StPO gleicht jener von Artikel 257 Absatz 1 ZPO («der Sachverhalt sofort beweisbar» [litera a] und «die Rechtslage klar [litera b]» ist), weshalb man sich bei der Konkretisierung der Formulierung «ohne weitere Beweiserhebung möglich ist» mutatis mutandis auch an der Rechtsprechung zum Rechtsschutz in klaren Fällen orientieren kann.27
17. Keine Änderung der Teilnahmerechte
Auf der Internetseite des Bundesamts für Justiz heisst es unter dem Titel «Worum geht es?» unter anderem auch heute noch: «Die Revision schränkt (…) die Teilnahmerechte massvoll ein, um zu verhindern, dass sich beschuldigte Personen untereinander absprechen. Zudem stärkt sie die Position der Opfer von Straftaten.»28 Wie gezeigt, wurde der Wortlaut von Artikel 147 StPO indessen nicht revidiert – und damit der Wortlaut der geltenden Regelung ausdrücklich unverändert beibehalten. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung, welche gemäss Botschaft in das Gesetz hätte übernommen werden sollen,29 wurde gerade nicht übernommen. Der Gesetzgeber hat damit ausdrücklich seinen Willen zum Ausdruck gebracht, an der ursprünglichen Regelung der Teilnahmerechte ohne Einschränkungen und nur mit den im Gesetz vorgesehenen Einschränkungen30 festhalten zu wollen.
1 BBl 2022, S. 1560; Schweizerische Strafprozessordnung vom 5.10.2007; zum Geschäft: Fedlex.data.admin.ch/eli/fga/2022/1560.
2 Vgl. Bundesamt für Justiz: www.bj.admin.ch/bj/de/home/sicherheit/gesetzgebung/aenderung stpo.html. Der definitive Beschluss des Bundesrats stand bei Drucklegung dieses Texts noch aus.
3 Deshalb und aus Platzgründen bleiben u.a. die Neuerungen zu Spezialfragen des Entsiegelungsrechts ausser Betracht.
4 Vgl. in jüngster Zeit: Luca Odermatt / Gian Ege, «Entscheidend ist nicht die Aussage, sondern die Art und Weise der Protokollierung», in: Sui generis 226/2023, S. 33 ff. m.H. auf weitere Literatur; sodann: Kenad Melunovic, «Das Erfordernis von audiovisuellen Aufzeichnungen im Strafverfahren als Ausfluss des Gebots des bestmöglichen Beweismittels», in: AJP 5/2016, S. 596 ff.
5 Vgl. Botschaft zur Änderung der Strafprozessordnung (Umsetzung der Motion 14.3383, Kommission für Rechtsfragen des Ständerats, Anpassung der Strafprozessordnung; BBl 2019, S. 6726.
6 Vgl. BBl 2019, S. 6727.
7 BBl 2019, S. 6728.
8 Vgl. zu den weiterführenden Überlegungen BBl 2019, S. 6729 f.
9 Vgl. BBl 2019, S. 6730: Der Wortlaut von Absatz 2 ist widersprüchlich: Er verlangt die Sicherstellung einer notwendigen Verteidigung «nach der ersten Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft, jedenfalls aber vor Eröffnung der Untersuchung». Eine Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft erfolgt aber immer erst nach Eröffnung der Untersuchung.
10 Ausdrücklich: BBl 2019, S. 6731 f.
11 Vgl. Kenad Melunovic und Stefan Flachsmann, «Die Rechtsmittelbefugnis der Staatsanwaltschaft gegen gerichtliche Entscheide über die Festsetzung der Höhe des Honorars für die amtliche Verteidigung. Gedanken zu den Urteilen des Bundesgerichts 6B_611/2012 und 6B_693/2012 vom 19.4.2013», in: Forumpoenale, 4/2013, S. 235 ff.
12 Vgl. bereits: Robert Hauser / Erhard Schweri / Viktor Lieber, GOG: Kommentar zum zürcherischen Gesetz über die Gerichts- und Behördenorganisation im Zivil- und Strafprozess, Zürich/Basel/Genf 2012, S. 510 ff.
13 BBl 2019, S. 6735; BGer 1B_355/2012 vom 12.10.2012, E. 5.5.
14 BBl 2019, S. 6376 mit Verweis auf BGE 143 IV 154.
15 BBl 2019, S. 6743 mit Verweis auf BBl 2006, S. 1085, S. 1229.
16 BBl 2019, S. 6743.
17 Vgl. BBl 2019, S. 6743.
18 Vgl. BBl 2019, S. 6743 f.
19 Vgl. BBl 2019, S. 6752.
20 BBl 2019, S. 6757.
21 Ebenda.
22 Vgl. etwa Art. 118 Abs. 4; Art. 143 Abs. 1 lit. c und Art. 305 Abs. 1 StPO.
23 Vgl. BBl 2019, S. 758.
24 Vgl. BBl 2019, S. 6761.
25 Vgl. BBl 2019, S. 6762.
26 Dieter Hebeisen, in: Marcel Alexander Niggli / Marianne Heer / Hans Wiprächtiger, Schweizerische Strafprozessordnung / Jugendstrafprozessordnung, Art. 32 JStPO, N 12 ff.
27 Vgl. etwa: BGE 138 III 620, E. 5.1.1; BGE 138 III 123, E. 2.1.1.
28 Vgl. www.bj.admin.ch/bj/de/home/sicherheit/gesetzgebung/aenderungstpo.html (zuletzt besucht am 15.3.2023).
29 Vgl. noch BBl 2019, S. 6738.
30 Vgl. Art. 108 StPO.