Es war 1993, das Ende des Kalten Kriegs machte es möglich: In Wien versammelten sich die Staaten der Welt zu einem Uno-Menschenrechtsgipfel. Ohne Gegenstimme verabschiedeten sie die «Wiener Erklärung», in der sie ihre umfassenden menschenrechtlichen Verpflichtungen bekräftigten. Konkret formuliert wurde das Ziel der Schaffung nationaler Institutionen für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte. Die Schweiz war dabei.
In Deutschland wurde bald umgesetzt, was im Anschluss an den Wiener Gipfel in der Uno-Generalversammlung beschlossen worden war. 2001 rief der Bundestag das Deutsche Institut für Menschenrechte ins Leben. Es feierte vor zwei Jahren sein zwanzigjähriges Bestehen. Ebenfalls 2001 forderten die schweizerischen Menschenrechtsorganisationen und erste Stimmen im Parlament eine Menschenrechtsinstitution.
Hier aber schlugen die Behörden – beim internationalen Menschenrechtsschutz üblich – ein Schneckentempo an. Endlich, genau dreissig Jahre nach Wien – und tausend Sitzungen, Studien, Arbeitsgruppen und Pilotprojekte später –, ist jetzt auch Bern so weit: Am 23. Mai 2023 wird im Berner Kursaal die Schweizerische Menschenrechtsinstitution (SMRI) gegründet.
Was kann sie leisten, die Menschenrechtsinstitution? Wie könnten mögliche Tätigkeiten aussehen? Ein paar Schlaglichter in die nähere Zukunft: Die Institution macht für den Kanton Waadt ein detailliertes Monitoring der kantonalen Umsetzung der Uno-Kinderrechtskonvention. Die Direktorin bezieht in Interviews Stellung zur Verwicklung des Finanz- und Rohstoffhandelsplatzes Schweiz in kriegerische Auseinandersetzungen in Zentralafrika und der entsprechenden menschenrechtlichen Verantwortung von Bund und Konzernen.
Im jährlichen Menschenrechtsbericht an den Bundesrat, das Parlament, die Kantone und die Öffentlichkeit formuliert die Institution 50 Empfehlungen mit Schwerpunkten bei der inklusiven Bildung, der Klimaschutzpolitik, der Situation an den europäischen Aussengrenzen, der Förderung einer kindgerechten Justiz, der Rechte älterer Menschen und der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen.
Nachdem sich die Institution über Jahre dafür eingesetzt hatte, dass die Schweiz die Fakultativprotokolle der Uno-Menschenrechtsabkommen zu Individualbeschwerdeverfahren unterzeichnet und dies nun geschehen ist, feiert sie diesen Schritt öffentlich, plant Workshops und verfasst Sensibilisierungsmaterial, um diese Mechanismen bekannt zu machen. Das Projekt «Uno-Behinderterechtskonvention in den Städten und Gemeinden» geht an den Start.
Das Rechtsgutachten «Staatliche Gelder für rassistische und rechtsextreme Bildungsarbeit?» stellt die Unterstützung von Institutionen im Umfeld rechtsnationaler Parteien in Frage. Die Menschenrechtsinstitution publiziert Handlungsanleitungen zur Umsetzung des neuen Konzernverantwortungsgesetzes in einzelnen Branchen. Im Rahmen der weltweiten Dachorganisation der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen setzt sich die schweizerische Institution für bedrohte Schwesterinstitutionen ein, die unter politischem Beschuss stehen. Ergebnisse eines dreijährigen Prozesses «Rassismus in der Strafverfolgung. Von der Notwendigkeit struktureller Veränderungen» werden in Buchform publiziert. An die Politik werden Forderungen gestellt, das Wohl von Kindern mit Eltern in Haft zu verbessern.
Diese bunt zusammengewürfelten Beispiele aus der Arbeit der neuen Schweizerischen Menschenrechtsinstitution sind nicht erfunden. Es ist ein Querschnitt von Projekten des Deutschen Instituts für Menschenrechte aus jüngster Zeit, adaptiert auf schweizerische Verhältnisse. Das Berliner Institut hat im Entstehungsprozess der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution immer wieder als Vorbild gedient, auch dem Bundesrat in seiner Botschaft zum Gesetz.
Das Gesetz zählt sechs Aufgabenbereiche auf: Die Schweizerische Menschenrechtsinstitution ist zuständig für Information und Dokumentation der Menschenrechtslage in der Schweiz. Es geht bei ihr um praxisorientierte Forschung und Beratung – etwa der Verwaltung, auch von Kantonen und Gemeinden, sowie von zivilgesellschaftlichen Organisationen oder der Wirtschaft. Das Gesetz sieht vor, dass die Schweizerische Menschenrechtsinstitution den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen allen Mitwirkenden im Menschenrechtsbereich fördert. Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit sowie Menschenrechtsbildung sind weitere Arbeitsfelder einer nationalen Menschenrechtsinstitution (NMRI). Und schliesslich gehört der internationale Austausch zu den Aufgaben.
Entscheidend für eine NMRI ist ihre Unabhängigkeit, auch gegenüber staatlichen Stellen. Das macht die Schweizerische Menschenrechtsinstitution wertvoll. Innerhalb des gesetzlichen Rahmens kann sie sich völlig frei organisieren und selber bestimmen, wie sie Prioritäten setzt, ihre Mittel verwendet und Stellung bezieht. Die Unabhängigkeit der Institution verlangen die Pariser Prinzipien, das Grundlagendokument der Uno-Generalversammlung, auf das sich auch das schweizerische Gesetz bezieht.
Das späte Erwachen der Schweiz in Sachen Menschenrechtsinstitution bedeutet immerhin, dass das Rad nicht neu erfunden werden muss. Die Verantwortlichen der SMRI können auf gute Erfahrungen ausländischer Institutionen aufbauen und sich von ihren besten Projekten inspirieren lassen. Das Parlament hat Ende 2022 allerdings das Budget der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution für die ersten vier Jahre äusserst knausrig bemessen. Sie soll beweisen, was sie kann, hiess es bei den Skeptikern, dann könne man weiterschauen.
Wie kam es dazu, dass die Schweiz ihrer Menschenrechtsinstitution viel geringere Mittel zur Verfügung stellen wird als alle anderen vergleichbaren Staaten? Das Budget von einer Million Franken jährlich entspricht dem Bundesbeitrag des bisherigen Pilotprojekts des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte. Allerdings hatte diese ein viel kleineres Pflichtenheft. Die Plattform Menschenrechte Schweiz berechnete in einem Modellbudget den jährlichen Betrag von fünf Millionen Franken als minimale Basis für die gemäss Gesetz zu leistende Arbeit (plädoyer 3/2021).
Bei der Menschenrechtsüberprüfung der Schweiz 2023 im Uno-Sicherheitsrat gaben postwendend viele Staaten kritische Empfehlungen ab zur kärglichen Finanzierung der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution – darunter Länder wie Deutschland, Liechtenstein, Grossbritannien oder Irland.
Es ist geplant, dass sich in den nächsten Monaten auch die Kantone auf eine finanzielle Unterstützung der Infrastruktur der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution einigen, wie das im Gesetz vorgesehen ist. Trotzdem wird nun die Schweizerische Menschenrechtsinstitution von Anfang an kostbare Ressourcen aufwenden müssen, um den Bundesrat, das Parlament und die Kantone für eine langfristige solide Finanzierung zu gewinnen.
Eine adäquate Finanzierung ist ein Grundpfeiler der Unabhängigkeit der Institution. Auch davon hängt ab, ob die Schweizerische Menschenrechtsinstitution bald einen A-Status erhalten wird. Die weltweite Dachorganisation der Menschenrechtsinstitutionen (GANHRI) akkreditiert die nationalen Institutionen gemäss den Uno-Prinzipien. Dass das reiche Hochpreisland die Menschenrechtsförderung zu einem Dumpingpreis haben möchte, könnte bei der Überprüfung zu peinlichen Überraschungen führen.
Am 23. Mai kommt es also zur Gründung der SMRI. Mitglieder können natürliche und juristische Personen sein, deren Tätigkeit einen Bezug zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte aufweist, wie es in den Statuten heisst. Der Zweck der Institution wird darin so umschrieben, dass die unabhängige nationale Menschenrechtsinstitution der Schweiz nach Massgabe der Pariser Prinzipien zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte in allen Lebensbereichen und auf allen staatlichen Ebenen beitragen soll.
Die Statuten werden von einer breit zusammengesetzten Arbeitsgruppe, welche während eines Jahres die Konstituierung der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution vorbereitete, der Versammlung zur Verabschiedung vorgelegt. Gleichzeitig wird ein Vorstand für die SMRI gewählt, er soll bezüglich des Menschenrechtsschutzes, verschiedener Hintergründe und Kompetenzen pluralistisch zusammengesetzt sein. Das relativ kleine Vorstandsteam wird in der ersten intensiven Phase den Aufbau der Institution verantworten und dafür eine kompetente Direktion einsetzen. Sie wird die operationelle Arbeit gegen Ende 2023 aufnehmen. Verschiedene Kantone bewarben sich darum, Standort der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution zu werden. Die Arbeitsgruppe entschied sich für die Kandidatur von Freiburg, unmittelbar an der Sprachgrenze, nahe der Hauptstadt Bern. Die SMRI wird dort in einem zentralen Gebäude zuhause sein.
Wie kann der Aufbau einer starken Institution nach der 22-jährigen, bis am Schluss zähen Vorgeschichte trotzdem gelingen? Die Schweizerische Menschenrechtsinstitution braucht Persönlichkeiten an ihrer Spitze, die den Mut haben, Menschenrechtsverletzungen in der Schweiz offen, kritisch und präzise anzusprechen, betroffenen Menschen zuzuhören und sich allen interessierten Kreisen im ganzen Land der Diskussion zu stellen.
Die SMRI benötigt angesichts der beschränkten Mittel den Mut zur Lücke. Sie kann in der ersten Phase nur exemplarisch einzelne thematische Bereiche bearbeiten, Analysen erstellen und Veränderungsvorschläge machen. Sie sollte nahe bei den Menschen arbeiten und offene Kommunikationskanäle einrichten – zu Betroffenen, zum Parlament und zur Verwaltung, zu Kantonen, Städten und Gemeinden, zu Menschenrechtsorganisationen und der Wissenschaft, zur Zivilgesellschaft in der Breite und auch zur Wirtschaft. Dabei sollte sie auf die bestehende menschenrechtliche Expertise all dieser Kreise aufbauen und genau evaluieren, wo Lücken bestehen, die zu füllen ihre Rolle und Chance ist.
Schliesslich müssen sich auch die künftigen Partner der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution bewegen, um der Institution einen guten Start zu ermöglichen. In der Bundesverwaltung müsste umgehend eine zentrale Koordinationsstelle Menschenrechte geschaffen werden, die menschenrechtliche Anliegen, etwa die Koordination der Staatenberichtsverfahren und die Umsetzung der Empfehlungen im föderalistischen System bündelt und koordiniert. Wenn das nicht geschieht, droht sich die Schweizerische Menschenrechtsinstitution sich daran aufzureiben, dass die Menschenrechte beim Schweizer Staat keine, beziehungsweise hundert Adressen haben.
Mit einer departementsübergreifenden Koordinationsstelle des Bundes wird auch vermieden, dass weiterhin das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten den alleinigen Lead in Sachen SMRI hat, was bereits zu einer ungesunden und nicht sachgemässen Schieflage beim Gesetz und der Finanzierung geführt hat.
Die Menschenrechtscommunity im weiten Sinn ist aufgefordert, sich am Aufbau der SMRI zu beteiligen, in Form von Mitgliedschaft, kritischer Zusammenarbeit und dem Zurverfügungstellen von Wissen. Der Erfolg der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution wird sich in ein paar Jahren am hohen Ziel messen lassen, dass sich an der Situation von verletzlichen und diskriminierten Gruppen von Menschen in der Schweiz etwas ändert. Dass es dazu einen langen Atem braucht, zeigt die Entstehungsgeschichte der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution.
Matthias Hui Humanrights.ch, Bern, Mitglied der Arbeitsgruppe zur Konstituierung der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution.