1. Ausgangslage
Die Diskussionen um die Beziehung der Schweiz zur Europäischen Union (EU) sind gerade wieder aktuell. Ein Streitpunkt in dieser Diskussion ist die Gerichtsbarkeit über ein mögliches Abkommen mit der EU. Was wäre, wenn ein solches Abkommen dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) unterstellt würde? Da diese Frage nicht abschliessend beantwortet werden kann, sollen im Folgenden stattdessen die EuGH-Rechtsprechung im Bereich des EU-Binnenmarkts und ausgewählte Urteile im Bereich des Entsenderechts beschrieben und analysiert werden.
2. Binnenmarkt-Grundfreiheiten
Der Binnenmarkt der EU beruht auf vier Grundfreiheiten. Die vier Grundfreiheiten sind die Personenfreizügigkeit sowie die Dienstleistungs-, die Kapital- und die Warenverkehrsfreiheit. Sie begründen individuelle Rechte auf den Zugang zu den nationalen Märkten innerhalb der EU. Waren, Firmen, Kapital und Arbeitnehmende sollen sich im Binnenmarkt der EU frei bewegen können.1
Nationale Zugangshindernisse sollen abgebaut werden und dadurch die europäische Integration vorangetrieben werden («negative» Integration). Der EuGH spielt bei der europäischen Integration eine zentrale Rolle. In seiner Rechtsprechung entwickelte er die Grundfreiheiten laufend weiter.2
Im Urteil zu Dassonville entschied der EuGH 1974 erstmals, dass sich aus der Warenverkehrsfreiheit nicht nur ein Diskriminierungsverbot, sondern auch ein Beschränkungsverbot ableiten lässt.3 Das heisst, dass auch Massnahmen, welche nicht zwischen inländischen und ausländischen Waren unterscheiden, gegen die Warenverkehrsfreiheit verstossen, solange sie unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell den Binnenhandel behindern.4
Konkret führten damals zwei belgische Händler Scotch-Whisky aus Frankreich nach Belgien ein und verletzten so belgische Rechtsvorschriften, weil eine Ursprungsbezeichnung der britischen Zollbehörden fehlte. Gemäss belgischer Rechtsprechung war diese Einfuhr unzulässig. Der EuGH entschied, dass die belgische Rechtsvorschrift eine Massnahme sei, welche die europäische Warenverkehrsfreiheit beschränkt und mit ihr unvereinbar sei. Bei der belgischen Rechtsvorschrift handelte es sich gemäss dem EuGH um eine Massnahme, die in ihrer Wirkung einer mengenmässigen Einfuhrbeschränkung gleichkommt. Eine solche verstösst gegen Artikel 34 AEUV und ist nicht zulässig.5 Mit diesem Urteil erweiterte der EuGH die Warenverkehrsfreiheit stark, indem er ihr grundsätzlich jede staatliche Massnahme zur Kontrolle der Einfuhr von Waren potenziell unterwarf.6
Nachdem diese weite Auslegung ursprünglich nur für die Warenverkehrsfreiheit galt, wurde sie laufend auf die anderen Grundfreiheiten ausgeweitet.7 Ursprünglich primär als Diskriminierungsverbote vorgesehen, interpretiert der EuGH die Grundfreiheiten heute eher als Beschränkungsverbote. Sie schützen nicht mehr nur vor Ungleichbehandlung. Vielmehr werden sie als Schutz vor Beschränkungen, die die Grundfreiheiten im transnationalen Kontext unattraktiver machen, interpretiert.8 Zudem legt der EuGH EU-Recht seit seinen Urteilen zu van Gend en Loos 9 sowie Costa c. E.N.E.L.10 so aus, dass es nationales Recht oder nationale Verfassungen übersteuert.11
Im Urteil zu Cassis de Dijon entschied der EuGH zugunsten eines deutschen Importeurs, welcher einen Likör aus Frankreich nach Deutschland importierte.12 Dem Importeur war in Deutschland der Verkauf verboten worden, da der Likör nicht über den vorgeschriebenen Alkoholgehalt verfügte. Der Importeur argumentierte, dass die deutsche Rechtsvorschrift in der Wirkung einer mengenmässigen Einfuhrbeschränkung gleichkommt. Der EuGH folgte dieser Argumentation in seinem Urteil. Gleichzeitig stellte er fest, dass unterschiedliche Regelungen über die Vermarktung grundsätzlich toleriert werden müssen, solange sie notwendig sind. Insbesondere wenn die Regeln dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, dem Verbraucherschutz oder dem fairen Handel dienen, kann die Notwendigkeit bejaht werden. Wird die Notwendigkeit, wie in diesem Urteil, nicht bejaht, verstösst die entsprechende Bestimmung gegen die Warenverkehrsfreiheit. Der EuGH schwächt mit diesem Urteil die bis anhin gültig Dassonville-Formel etwas ab, indem er Massnahmen zulässt, die er für notwendig erklärt, um zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls, wie den Schutz des Lebens oder der Gesundheit, zu erfüllen.13 Indem er die im Urteil zu Cassis de Dijon entwickelte Formel später in seinem Urteil zu Gebhard auf die Dienstleistungsfreiheit anwendete,14 weitete der EuGH die Formel auf alle Grundfreiheiten aus.
Die Voraussetzungen für einen rechtmässigen Eingriff in die Binnenmarkt-Grundfreiheiten sind gemäss dem EuGH folgende: Der Eingriff muss erstens einem als zwingend anerkannten Ziel des Allgemeininteresses dienen, zweitens muss er ohne «Diskriminierung» angewandt werden, drittens muss er tatsächlich «geeignet» sein, das entsprechende Ziel zu erreichen, und viertens nicht über das «erforderliche Mass» hinausgehen.15 In der Praxis stellen sich diese Hürden als ziemlich hoch heraus. Innerstaatliche Regulierung, wie etwa zum Erreichen sozialer Ziele, kann leicht an dieser Prüfung scheitern.16
Durch dieses Ungleichgewicht wurde der EuGH zu einem proaktiven «Motor» des europäischen Binnenmarkts. Das Gericht betreibt aktiv «Integration durch Recht» und tritt immer öfter als quasipolitische Akteurin auf.17 Im Gegensatz zu nationalen Gerichten, die in demokratische Prozesse eingebunden sind und sich dadurch in feststehenden Grenzen bewegen müssen, hält es sich der EuGH offen, die Unionsvorschriften direkt auf die Mitgliedstaaten anzuwenden.18 Dieses Vorgehen führte über die Jahre zu einer institutionellen Asymmetrie, durch die soziale Schutzziele hinter der Binnenmarktöffnung zurückstehen. Diese Asymmetrie liegt auch daran, dass die Hürden für gemeinsame Regeln in der EU relativ hoch sind, indem teilweise die Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten vorausgesetzt wird. Gemeinschaftliche Sozialziele oder Arbeitsstandards sind unseres Erachtens nach wie vor unterentwickelt. Hier muss erwähnt werden, dass in den letzten Jahren auf europäischer Ebene einige Gesetzesvorhaben zur Erreichung sozialer Ziele und zur Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes umgesetzt wurden. So wurde etwa die Entsenderichtlinie19 reformiert, die Durchsetzungsrichtlinie 20 trat in Kraft und die Mindestlohnrichtlinie 21 wurde verabschiedet.
3. Entsenderecht im Binnenmarkt
Die Asymmetrie zwischen Binnenmarktöffnung und sozialen Schutzzielen zeigt sich besonders im Bereich der Entsendungen. Weiter trägt die EU mit der Schaffung der Europäischen Arbeitsbehörde (European Labour Authority, ELA) zur Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes bei.22 Bei der Dienstleistungsfreiheit etwa priorisiert er aber den Marktzugang ausländischer Firmen gegenüber nationalen Schutzmassnahmen. Damit schafft er ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen freiem Zugang (der Arbeitgeber) zum Binnenmarkt und nationalem Schutz (der Angestellten). 2007 und 2008 hat der EuGH erstmals die Dienstleistungsfreiheit über den nationalen Arbeitsschutz gestellt und in den alleinigen Regulierungsbereich der Mitgliedstaaten eingegriffen. Damals hat er in den beiden Urteilen Laval 23 und Viking 24 den Marktzugang der ausländischen Dienstleistungserbringer den Gewerkschaftsrechten (Tariffreiheit und Streikrecht) vorgezogen.
Im Folgenden werden ausgewählte Urteile des EuGHs zum Entsenderecht analysiert und es wird aufgezeigt, wie der Gerichtshof in diesem Bereich entscheidet und welche Auswirkungen dies auf das Entsenderecht hat.25
In seinem Urteil zu Cepelnik 26 anerkennt der EuGH die Kautionspflicht formal als Massnahme zum Schutz vor Sozialdumping. Zugleich gewichtet er die Dienstleistungsfreiheit in der Verhältnismässigkeitsprüfung systematisch höher. In casu wurde ein österreichischer Auftraggeber von den österreichischen Behörden verpflichtet, einen Teil des Werklohns des slowenischen Auftragnehmers als Sicherheitsleistung bei den Behörden zu hinterlegen. Der Grund war, dass die Behörden zuvor auf der Baustelle zwei Verwaltungsübertretungen von arbeitsrechtlichen Vorschriften festgestellt hatten. Der EuGH stellt in seinem Urteil fest, dass eine solche Massnahme zwar geeignet ist, um Verstösse gegen das nationale Arbeitsrecht zu bekämpfen. Allerdings verneint er die Erforderlichkeit der Sicherungsleistung zum Zweck des Arbeitnehmerschutzes und des Schutzes vor Sozialbetrug. Mit der Aufweichung von Kautionspflichten durch dieses Urteil schwächt der EuGH den Schutz vor Sozialdumping. Gemäss dem Urteil reicht «der begründete Verdacht» einer Verletzung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften nicht aus, um eine Kautionspflicht zu begründen. Es wird eine Feststellung der Behörden von Übertretungen verlangt, welche «auf einen Betrug, insbesondere einen Sozialbetrug, einen Missbrauch oder eine den Schutz der Arbeitnehmer beeinträchtigende Praktik hinweisen würde».27 Problematisch daran ist, dass Kautionspflichten gerade dann sinnvoll sind, wenn es darum geht, die zukünftige Verletzung von Arbeitsschutzvorschriften zu verhindern oder im Fall von noch nicht abschliessend beurteilten mutmasslichen Verletzungen.
Ähnlich wie in seinem Urteil zu Cepelnik anerkennt der EuGH in seinem Urteil zu Maksimovic eine Massnahme (Geldstrafe) formal als Instrument zur Bekämpfung von Sozialdumping. 28 Auch in diesem Urteil gewichtet der Gerichtshof jedoch die Dienstleistungsfreiheit in seiner Verhältnismässigkeitsprüfung stärker als den Arbeitnehmerschutz. In diesem Fall konnte ein kroatisches Unternehmen den österreichischen Behörden nicht die vollständigen Lohnunterlagen ihrer entsandten Angestellten vorweisen. Zudem wurde die Verletzung von weiteren Verpflichtungen durch das Unternehmen festgestellt. Dies wurde von den österreichischen Behörden mit Geldstrafen von mehreren Millionen Euro geahndet. Der EuGH entschied, dass der Angestelltenschutz auch mit geringeren Geldstrafen hätte geahndet werden können und diese somit zu hoch sind. Der Gerichtshof bemängelte zudem das Kumulationsprinzip und die fehlende Obergrenze der Geldstrafen. Mit diesem Urteil schränkt der EuGH die Kompetenz der einzelnen Staaten zur Festlegung der Höhe einer Geldstrafe entscheidend ein.29 Durch die potenziell fehlende abschreckende Wirkung wird verhindert, dass die einzelnen Staaten effektive Sanktionen ergreifen können.
Durch die beiden Urteile (Cepelnik und Maksimovic) und die einseitige Verhältnismässigkeitsprüfung wird unseres Erachtens der Angestelltenschutz der einzelnen Mitgliedstaaten empfindlich geschwächt.
Für Aufsehen hat das Urteil des EuGH zu Dobersberger30 gesorgt.31 Darin stellte der Gerichtshof fest, dass entgegen dem Wortlaut der Entsenderichtlinie eine «hinreichende Verbindung» der Tätigkeiten der entsandten Angestellten zum Zielstaat bestehen muss, damit die Richtlinie angewendet werden kann. Konkret ging es im Urteil um die Löhne von Bordpersonal in Zügen der Österreichischen Bundesbahnen auf der Strecke von Budapest über Wien nach München. Die Löhne der von einem ungarischen Unternehmen Angestellten lagen weit unter den Löhnen der österreichischen Tarifverträge. Gemäss der Entsenderichtlinie gelten gleiche Bedingungen (in diesem Fall Mindestlöhne) für die gleiche Arbeit am gleichen Ort. Unter die Richtlinie fällt «jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet».32 Der EuGH verneinte jedoch die Anwendbarkeit der Entsenderichtlinie, indem er feststellte, dass es zur Anwendung an einer «hinreichenden Verbindung» der Tätigkeit zum Entsendestaat fehlt. Der Gerichtshof argumentierte, dass das Personal seinen Dienst jeweils in Ungarn begann und beendete. Es ist jedoch schwer nachzuvollziehen, wie die «hinreichende Verbindung» bei Personal verneint wird, das den grössten Teil seiner Arbeit (Zugrestaurant, Bordservice) auf österreichischem Gebiet verrichtet. Das vom EuGH neu geschaffene Kriterium der «hinreichenden Verbindung» wird zu Recht als «sehr weit hergeholt» kritisiert.33 Es besteht die begründete Befürchtung, dass mit diesem neuen unbestimmten Rechtsbegriff vermehrt Tätigkeiten aus dem Schutzbereich der Entsenderichtlinie ausgeklammert werden. Es ist bedenklich, dass der EuGH die wenigen Instrumente auf EU-Ebene aushöhlt, die dem Arbeitnehmerschutz dienen.
In seinem Urteil zu Van den Bosch entschied der EuGH, dass die Entsenderichtlinie grundsätzlich auf Angestellte im grenzüberschreitenden Gütertransport anwendbar ist.34 Allerdings bestätigte der Gerichtshof auch in diesem Bereich das Erfordernis der «hinreichenden Verbindung» zum Zielland der entsandten Angestellten. Das Transportunternehmen sollte dazu verpflichtet werden, einen in den Niederlanden ausgehandelten Tarifvertrag für den Güterverkehr auch auf Angestellte aus Ungarn und Deutschland anzuwenden. Der EuGH bestätigte sein im Urteil zu Dobersberger geschaffenes Kriterium der «hinreichenden Verbindlichkeit». Bei Beginn oder Ende der Fahrt in den Niederlanden ist dieses Kriterium gemäss dem EuGH noch nicht erfüllt. Somit fallen im Strassenverkehrssektor praktisch nur sogenannte «Kabotage-Konstellationen» in den Schutzbereich des Entsendegesetzes. Im Fall Van den Bosch entschied der EuGH, dass der Tarifvertrag auf die entsandten Angestellten anwendbar sei.
Im Urteil zu Rapidsped35 bestätigte der EuGH, dass die Entsenderichtlinie grundsätzlich auf grenzüberschreitenden Gütertransport anwendbar ist. Weiter entschied er, dass Zulagen Bestandteil des Mindestlohns sein können, solange sie nicht für eine Leistung oder für Spesen (Reise-, Verpflegungs- oder Unterbringungskosten) bezahlt werden. Konkret erledigten drei Lastwagenfahrer, die bei einem ungarischen Unternehmen angestellt waren, ihre Arbeit in Frankreich. Für jede Fahrt bekamen sie gültige Entsendepapiere. Die Angestellten machten geltend, in ihrem Arbeitsvertrag liege der Lohn deutlich unter dem französischen Mindestlohn und dem in der Entsendebescheinigung ausgewiesenen Lohn. Die Arbeitgeberin entgegnete, der französische Mindestlohn werde mit Zulagen erreicht. Der EuGH entschied, diese Zulagen dürften als Teil des Mindestlohns gerechnet werden.
4. Entsenderecht in der Schweiz
Die Rechte und Pflichten der entsandten Angestellten und der Unternehmen aus der EU sind bisher im Bundesgesetz über die flankierenden Massnahmen bei entsandten Angestellten und über die Kontrolle der in Normalarbeitsverträgen vorgesehenen Mindestlöhne (Entsendegesetz) geregelt. Im Gesetz finden sich Massnahmen zum Schutz der Schweizer Arbeitsbedingungen und Löhne. Dazu zählen unter anderem eine Anmeldefrist von acht Tagen, bevor ein Angestellter in die Schweiz entsandt wird, eine Kautionspflicht, Dienstleistungssperren, eine Subunternehmerhaftung, Massnahmen zur Bekämpfung von Scheinselbständigkeit sowie weitgehende Vollzugskompetenzen der Sozialpartner.36
Im Gegensatz zum EuGH übt sich das Schweizerische Bundesgericht in richterlicher Zurückhaltung. Das Gericht betreibt traditionell keine extensive Auslegung und Erweiterung von Recht und überlässt diese Aufgabe eher dem Gesetzgeber, der demokratische Legitimation geniesst.37 Das Bundesgericht wendet Völkerrecht zwar an, nationale Gesetze gehen aber grundsätzlich vor. Eine Ausnahme von dieser Praxis findet sich bei den Menschenrechten, etwa bei der Europäischen Menschenrechtskonvention. Allerdings ratifizierte die Schweiz die Wirtschaftsfreiheit aus dem Zusatzprotokoll der EMRK explizit nicht. Zu den flankierenden Massnahmen hat sich das Gericht bisher, soweit ersichtlich, zurückhaltend geäussert, es hat Beschwerden abgewiesen oder ist nicht auf sie eingetreten.38 Durch die Zurückhaltung des Bundesgerichts wird das Gleichgewicht zwischen Marktzugang und nationalen Schutzmassnahmen aufrechterhalten und den rechtsetzenden Akteuren überlassen.
5. Fazit
Mit dem EuGH existiert innerhalb der EU eine Instanz, welche die Grundfreiheiten tendenziell über nationale Schutzmassnahmen stellt, welche den freien Zugang zum Binnenmarkt tangieren. Der Gerichtshof erweitert so aktiv den Binnenmarkt und baut nationale Arbeitsschutzmassnahmen ab. Gerade bei Entsendungen fällt der EuGH durch seine arbeitsschutzfeindlichen Urteile auf. Verschiedentlich hat er die Dienstleistungsfreiheit höher gewichtet als den Arbeitnehmerschutz und staatliche Schutzmassnahmen ausgehebelt. Die Kautionspflicht und Mindestgeldstrafen anerkannte der Gerichtshof zwar formal als Schutzmassnahmen im Entsendebereich, er weichte jedoch ihre Schutzwirkung in der einseitigen Verhältnismässigkeitsprüfung systematisch auf. Zudem schlossen seine Urteile entsandte Arbeitnehmer vom Schutzbereich der Entsenderichtlinie aus, da nach dem Verständnis des EuGHs keine «hinreichende Verbindung» der Angestellten zum Aufnahmestaat bestand. Damit schränkte der EuGH den Anwendungsbereich der Entsenderichtlinie kategorisch ein. Daraus ist zu schliessen, dass eine Unterstellung der Flankierenden Massnahmen unter eine solche Logik für die Schweiz mit ihrem hohen Lohn- und Sozialniveau mit erheblichen Risiken verbunden wäre.
1 Astrid Epiney / Robert Mosters, Europarecht II, Die Grundfreiheiten des AEUV, 4. Auflage, Bern 2019, S. 1 ff.
2 Martin Höpner, «Die Zukunft der europäischen Grundfreiheiten: Plädoyer für eine Erweiterung der EU Reformdebatte», in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 4/2017 (fortan: Höpner, Grundfreiheiten), S. 674 ff.
3 EuGH, Urteil 8/74 vom 11.7.1974, Dassonville, ECLI:EU:C:1974:82.
4 Sog. Dassonville-Formel; vgl. Epiney / Mosters, a.a.O., S. 20.
5 Vgl. EuGH, Urteil 8/74 vom 11.7.1974, Dassonville, ECLI:EU:C:1974:82, S. 852.
6 Vgl. Martin Höpner, «Usurpation statt Delegation: Wie der EuGH die Binnenmarktintegration radikalisiert und warum er politscher Kontrolle bedarf», in : Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Discussion Paper 12/2008 (fortan: Höpner, Usurpation), S. 15.
7 Vgl. u.a. EuGH, Urteil C-415/93 vom 15.12.1993, Bosman, ECLI:EU:C:1995:463; EuGH, Urteil 96/85 vom 30.4.1986, Kommission/Frankreich, ECLI:EU:C:1986:189; EuGH, Urteil C-33/74 vom 3.12.1974, van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131.
8 Höpner, Grundfreiheiten, a.a.O., S. 675 f.
9 EuGH, Urteil C-26/62 vom 5.2.1963, Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1.
10 EuGH, Urteil C-6/64 vom 15.7.1964, Costa c. E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66.
11 Vgl. Tobias Jaag / Julia Hänni, Europarecht. Die europäischen Institutionen aus schweizerischer Sicht, 5. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2022, S. 147 f.; weiter werden diese Prozesse in diesem Buch sehr gut dargestellt: Luuk van Middelaar, The Passage to Europe, Yale University Press, New Haven 2014.
12 EuGH, Urteil 120/78 vom 20.2.1979, Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42.
13 Sog. «Cassis-de-Dijon-Formel», vgl. Epiney / Mosters, a.a.O., S. 21.
14 EuGH, Urteil C-55/94 vom 30.11.1995, Gebhard, EU:C:1995:411.
15 Höpner, Grundfreiheiten, a.a.O., S. 675.
16 Vgl. Höpner, Grundfreiheiten, a.a.O., S. 676.
17 Vgl. Höpner, Usurpation, a.a.O., S. 6.
18 Dieter Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2. Aufl., Berlin 2021, S. 335.
19 Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.6.2018 zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen.
20 Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.5.2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems (IMI-Verordnung).
21 Vorschlag (COM/2020/682 final) für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union.
22 Vgl. Manfred Glombik, «Die Europäische Arbeitsbehörde», in: SZS 2020, S. 97 ff.
23 EuGH, Urteil C-341/05 vom 18.12.2007, Laval, ECLI:EU:C:2007:809.
24 EuGH, Urteil C-438/05 vom 11.12.2007, Viking, ECLI:EU:C:2007:772.
25 Siehe Kurt Pärli, «EU-Entsenderecht zwischen Markt und Sozialschutz – Neuere Rechtsprechung des EuGH zu Sanktionen und zum grenzüberschreitenden Verkehr», in: EuZ – Zeitschrift für Europarecht, 4/2022, S. 13 ff.
26 EuGH, Urteil C-33/17 vom 13.11.2018, Cepelnik, ECLI:EU:C:2018:896.
27 Ebd., Rn. 46.
28 EuGH, Urteil C-64/18 vom 12.9.2019, Maksimovic, ECLI:EU:C:2019:723.
29 Der EuGH bestätigte in einem neueren Urteil, dass er das Fehlen von Obergrenzen bei Bussen als unzulässig erachtet, siehe EuGH, Urteil C-645/18 vom 19.12.2019, Hartberg-Fürstenfeld ECLI:EU:C:2019:1118; obwohl der EuGH selbst nicht darauf eingegangen ist, geht Pärli davon aus, dass die Verhältnismässigkeit aus der Entsenderichtlinie direkt auf Bussen anwendbar wäre, siehe Pärli, a.a.O., S. 19 f.
30 EuGH, Urteil C-16/18 vom 2.2.2021, Dobersberger, ECLI:EU:2019:1110.
31 Vgl. etwa sev-online.ch/de/aktuell/kontakt.sev/2020/urteil-legitimiert-lohndumping-im-zug-2020021805-4 (zuletzt abgerufen am 13.03.23).
32 Art. 2 Abs. 1 Entsenderichtlinie.
33 Vgl. Kurt Pärli, «Besprechung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19.12.2019, Rs. C-16/18, Dobersberger, ECLI:EU:C:2019:1110», in: ARV 1/2020, S. 37.
34 EuGH, Urteil C-815/18 vom 2.2.2021, Van den Bosch, ECLI:EU:C:2020:976.
35 EuGH, Urteil C-428/19 vom 8.7.2021, Rapidsped, EU:C:2021:548.
36 Siehe zum Entsendegesetz: Kurt Pärli, Kommentar Entsendegesetz (EntsG), 2. Aufl., Bern 2022.
37 Walter Haller / Alfred Kölz / Thomas Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Eine juristische Einführung in die Allgemeine Staatslehre, 6. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2020, S. 347.
38 Vgl. u.a. BGer 2C_51/2019 vom 12.3.2021; BGer 2C_150/2016 vom 22.5.2017; BGer 2C_81/2010 vom 7.12.2010; vgl. auch das Obergericht Schaffhausen vom 30.11.2018 in Amtsbericht 2018.