1. Viele Strafbefehle, wenig Einsprachen
Das Strafbefehlsverfahren ist ein Massengeschäft, mit welchem die weitaus überwiegende Mehrheit der Strafverfahren erledigt wird.2 Einsprachen bilden die Ausnahme und Rückzüge derselben sind häufig. Nur ein verschwindend kleiner Teil der erlassenen Strafbefehle werden von einem Gericht beurteilt.3 Gerade bei unverteidigten Beschuldigten wirft dies Fragen auf. Eine Verurteilung durch die Strafverfolgungsbehörden selbst ist rechtsstaatlich ohnehin problematisch.
Unhaltbar wird es indes, wenn Verurteilte nicht bewusst auf ihre Rechte und insbesondere eine gerichtliche Kontrolle verzichten, sondern ihr Einverständnis mit dem Strafbefehl oder der Rückzug der Einsprache fingiert wird. Solche Fiktionen, die einen Verzicht der Beschuldigten auf die ihnen gemäss Artikel 32 Bundesverfassung (BV) und Artikel 6 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zustehenden Rechte fingieren, sieht das Gesetz – ganz im Sinne der angestrebten Ressourcenschonung 4 – mehrfach vor. Zum einen, indem angenommen wird, die betroffene Person habe den Strafbefehl erhalten, obschon dies tatsächlich nicht der Fall ist (Zustellfiktionen). Zum anderen, indem aufgrund des Verhaltens der beschuldigten Person von einem Rückzug der Einsprache ausgegangen wird (Rückzugsfiktionen).
Diese gesetzlichen Stolperfallen gilt es zu kennen, bevor in einem zweiten Schritt geprüft werden muss, in welchen Fällen ein Akzept des Strafbefehls nicht angenommen werden darf und der Rechtskraftstempel zu Unrecht angebracht wurde.
2. Gesetzliche Fiktionen
2.1 Zustellfiktionen
Das Gesetz kennt insgesamt fünf Arten von Fiktionen, bei denen von einer Zustellung des Strafbefehls ausgegangen wird, obschon nicht erstellt ist, dass die beschuldigte Person tatsächlich Kenntnis vom Strafbefehl erhalten hat.5
Ersatzzustellung: Gemäss Artikel 85 Absatz 3 StPO gilt eine Zustellung als erfolgt, wenn sie von einer angestellten oder im gleichen Haushalt lebenden, mindestens 16 Jahre alten Person entgegengenommen wurde. Obschon der Strafbefehl bei dieser Ersatzzustellung einer Person tatsächlich ausgehändigt wird, handelt es sich um eine Zustellfiktion, da der Erhalt durch die beschuldigte Person selbst gleichsam fingiert wird.
Abholschein: Die in der Praxis am häufigsten zur Anwendung kommende Fiktion ist die Abholscheinfiktion. Gemäss Artikel 85 Absatz 4 gilt die Zustellung bei einer eingeschriebenen Postsendung nach sieben Tagen auch dann als erfolgt, wenn die Postsendung nicht abgeholt wurde, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste.
Annahmeverweigerung: Gemäss der in Artikel 85 Absatz 4 litera b StPO statuierten Annahmeverweigerungsfiktion wird zudem ein Erhalten fingiert, wenn die Annahme einer eingeschriebenen Sendung verweigert wurde.
Publikation: Keine Postsendung wird bei der Publikationsfiktion gemäss Artikel 88 Absatz 1 StPO verschickt. Vielmehr wird die Zustellung durch Veröffentlichung im Amtsblatt fingiert, wenn (a) der Aufenthaltsort der Adressaten unbekannt ist und trotz zumutbarer Forschungen nicht ermittelt werden kann, wenn (b) eine Zustellung unmöglich ist oder mit ausserordentlichen Umtrieben verbunden wäre oder wenn (c) eine Partei oder ihr Rechtsbeistand mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet hat.
Dossierfiktion: Während die Publikationsfiktion zumindest eine – wenn auch sehr theoretische – Kenntnisnahme durch die beschuldigte Person ermöglicht, ist bei der in Artikel 88 Absatz 4 StPO vorgesehenen Dossierfiktion nicht einmal mehr diese abstrakte Möglichkeit gegeben. Gemäss Letzterer darf bei Strafbefehlen auf die Publikation verzichtet werden. Die «Zustellung» erfolgt, indem die Staatsanwaltschaft den Strafbefehl gleichsam einfach in ihr Dossier legt. Eine Variante hiervon ist die Zustellung an die Staatsanwaltschaft, wenn die Staatsanwaltschaft selbst Zustelladresse der beschuldigten Person ist und den Strafbefehl gleichermassen durch Ablegen in ihr Dossier «eröffnen» kann.
2.2 Rückzugsfiktionen
Ergänzt werden die Zustellfiktionen durch die Rückzugsfiktionen. Gemäss diesen wird ein Rückzug der Einsprache fingiert, wenn die beschuldigte Person trotz Vorladung einer Einvernahme (Artikel 355 Absatz 2 StPO), der Hauptverhandlung (Artikel 356 Absatz 4 StPO) oder der Berufungsverhandlung (Artikel 407 in Verbindung mit Artikel 405 Absatz 1 StPO) unentschuldigt fernbleibt. Und das gilt – anders als der Gesetzestext erwarten lässt – auch dann, wenn die Vertretung anwesend ist.6
3. Einfallstore der Verteidigung
Angesichts dieser gesetzlichen Fiktionen erstaunt es nicht, dass Strafverteidiger immer wieder mit Strafbefehlen konfrontiert werden, bei welchen die Beschuldigten keine Einsprache erheben konnten. Sei es, weil die betroffenen Personen erst nach Fristablauf Kenntnis davon erhalten haben, sei es, dass Strafbefehle in den Akten auftauchen oder dass Leute aus dem Gefängnis anrufen, die nicht wissen, weshalb sie in Haft sind. Hier gilt es, nicht vorschnell abzuwinken, sondern den angeblich rechtskräftigen Strafbefehl einer Prüfung zu unterziehen.
3.1 Strafbefehl als Urteilsvorschlag
Angesichts des gut geschmierten Massengeschäfts Strafbefehl geht leicht vergessen, was der Strafbefehl eigentlich ist: Ein Urteilsvorschlag, der nur dann zum Urteil wird, wenn die beschuldigte Person damit einverstanden ist und auf ihre Rechte gemäss Artikel 6 EMRK und Artikel 32 BV verzichtet.7 Zwar kann dieses Einverständnis oder der Verzicht auch implizit durch Nichthandeln erfolgen. Indes setzt ein gültiges Einverständnis und ein gültiger Verzicht voraus, dass dieser unmissverständlich, informiert und freiverantwortlich erfolgt.8 Ein Verzicht ist dann nicht wirksam, wenn «nicht vorausgesetzt werden darf, dass die Partei dabei in voller Sachkenntnis gehandelt hat»,9 wobei es den Strafverfolgungsbehörden obliegt, dies durch hinreichende10 Massnahmen11 abzusichern. Aus seiner Natur als Urteilsvorschlag geht zudem hervor, dass es die Staatsanwaltschaft ist, die beweisen muss, dass ein Einverständnis oder ein rechtsgültiger expliziter oder impliziter Verzicht der beschuldigten Person erfolgt ist.12
In welchen Fällen nicht von einem solchen Einverständnis ausgegangen werden darf, ein solcher impliziter Verzicht also nicht fingiert werden darf, wird nachfolgend dargestellt, wobei verschiedene Konstellationen dieser «Einfallstore» der Verteidigung anhand von drei Hauptkategorien dargelegt werden: Die Einschränkungen der Zustellfiktionen, die Einschränkungen der Verzichtsfiktionen und die Einschränkungen der Rückzugsfiktionen.
3.2 Einschränkung der Zustellfiktionen
3.2.1 Abholschein
Die Abholscheinfiktion darf im Grundsatz nur zur Anwendung gelangen, wenn ein Abholschein hinterlegt werden konnte. Ist dies nicht der Fall, weil die Adresse falsch oder nicht mehr aktuell ist, fällt die Abholscheinfiktion ausser Betracht. Zudem darf von einer fingierten Abholung einer eingeschriebenen Postsendung nur ausgegangen werden, wenn die betroffene Person mit einer Zustellung rechnen musste, weil bereits ein Prozessrechtsverhältnis bestand. Das ist dann der Fall, wenn die betroffene Person weiss, dass gegen sie eine Strafuntersuchung geführt wird.13 Nicht ausreichend dafür ist die blosse Befragung als Auskunftsperson14 oder die Angabe auf einem Formular, Lenker eines geblitzten Fahrzeugs gewesen zu sein.15
Ein einmal begründetes Prozessrechtsverhältnis dauert zudem nicht ewig an. Bleibt die Behörde untätig, muss irgendwann nicht mehr mit einer Zustellung gerechnet werden. Wie lange diese Zeitspanne dauern darf, ergibt sich gemäss Bundesgericht anhand der konkreten Verhältnisse: Während bei vier Monaten ein Andauern des Prozessrechtsverhältnisses noch bejaht wurde, wurde bei elf Monaten das Erfordernis einer ständigen Erreichbarkeit verneint.16
Das Bundesgericht schränkt eine zu exzessive Praxis bei der Abholscheinfiktion also bereits ein. Im Lichte der EGMR-Rechtsprechung, wonach ein Verzicht informiert und freiwillig erfolgen muss, scheint indes fraglich, ob der EGMR die Abholscheinfiktion im gleichen Umfang wie das Bundesgericht schützen würde. Zwar schliesst auch der EGMR diese nicht absolut aus, zumindest bei unbedingten Freiheitsstrafen dürfte die hiesige fiktionsfreundliche und fristwiederherstellungsfeindliche Praxis der Strassburger Rechtsprechung aber nicht standhalten.17 Es wäre wünschenswert, wenn dem EGMR die Gelegenheit geboten würde, dies zu beurteilen.
Bis dies der Fall ist, gibt die StPO-Revision der Verteidigung einige Argumente mehr in die Hand: Neu ist die Befragung von Beschuldigten zwingend vorgesehen, wenn eine unbedingte Freiheitsstrafe droht (Artikel 352a revStPO). Wird eine beschuldigte Person nicht befragt, muss sie – unter revidierter StPO – daher nicht mit der Zustellung eines eine unbedingte Freiheitsstrafe enthaltenden Strafbefehls rechnen. Zudem muss neu vor Erlass eines Strafbefehls eine Parteimitteilung nach Artikel 318 StPO an die Privatklägerschaft erfolgen (Artikel 318 Absatz 1bis revStPO). Über diese Parteimitteilung an die Privatklägerschaft muss die beschuldigte Person ebenfalls informiert werden. Geschieht dies nicht, hat sie auch nicht mit der Zustellung eines Strafbefehls zu rechnen.
3.2.2 Publikations- und Dossierfiktionen
Die in Artikel 88 Absatz 4 StPO vorgesehene Dossierfiktion, welche ohne auch nur eine theoretische Möglichkeit der Kenntnisnahme einen Verzicht auf Einsprache auslöst, ist grundsätzlich als verfassungs- und konventionswidrig zu qualifizieren.18 Das Bundesgericht hat es bisher unterlassen, das in dieser Deutlichkeit festzuhalten. Immerhin hat es die Adressnachforschungen der Staatsanwaltschaft soweit bekannt jeweils durchgehend als ungenügend qualifiziert. Ohne solche Adressnachforschungen ist eine Dossierfiktion (und auch die Publikationsfiktion) unzulässig. So sind Adressnachforschungen bei Ämtern, Nachbarn, Registern etc. vorzunehmen.19 Auf dies kann weder verzichtet werden, wenn die beschuldigte Person eine falsche Adresse angegeben hat und der Strafbefehl danach an die letzte bekannte Adresse verschickt wurde,20 noch wenn die beschuldigte Person über die Einleitung des Verfahrens und ihre Pflicht zur Benennung einer Zustelladresse in der Schweiz informiert wurde.21 Die Staatsanwaltschaft hat also auch dann Adressnachforschungen zu unternehmen und eine tatsächliche Zustellung vorzunehmen, wenn eine beschuldigte Person mit Wohnsitz im Ausland auf einem Formular «Erklärung betreffend Zustellungsdomizil in der Schweiz» das Kreuzchen bei «Staatsanwaltschaft» gesetzt hat.22
3.3 Einschränkungen der Verzichtsfiktion
3.3.1 Fehlende Übersetzung
Damit eine Person informiert und freiverantwortlich über den Urteilsvorschlag entscheiden kann, muss sie diesen verstehen. Bei Strafbefehlen sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts mindestens das Dispositiv und die Rechtsmittelbelehrung zu übersetzen.23 Nicht genügend ist die Beilage eines fremdsprachigen Informationsblattes ohne Übersetzung des Dispositivs.24 Der Rechtsprechung des EGMR folgend25 ist meines Erachtens indes der ganze Strafbefehl, inklusive des vorgeworfenen Sachverhalts, zu übersetzen. Es ist nicht einzusehen, wie eine beschuldigte Person sich informiert für oder gegen einen Urteilsvorschlag entscheiden soll, ohne zu wissen, welcher Sachverhalt ihr konkret vorgeworfen wird.
Die Übersetzung ist eine Bringschuld der Strafverfolgungsbehörden. Sofern Zweifel an den Fremdsprachenkenntnissen bestehen, kommt den Strafverfolgungsbehörden die Sorgfaltspflicht zu, festzustellen, ob die Kenntnisse ausreichen.26 Abzulehnen ist es daher, der beschuldigten Person – wie das Bundesgericht 27 – diesbezügliche Pflichten aufzuerlegen, sich selbst um die Übersetzung kümmern zu müssen.28 Meines Erachtens darf von einer mündlichen Einvernahme in der Verfahrenssprache zudem nicht auf genügende Sprachkenntnisse für ein Verstehen des schriftlichen Strafbefehls geschlossen werden; erst recht nicht, wenn die beschuldigte Person in einer anderen Schrift beheimatet ist. Ohne rechtsgenügliche Übersetzung darf bei einer fremdsprachigen Person vom Nichterheben einer Einsprache nicht auf einen Verzicht auf das gerichtliche Verfahren geschlossen werden. Gleiches muss ohne mündliche Eröffnung bei (funktionalem) Analphabetismus oder Illettrismus gelten.
3.3.2 Fehlende notwendige Verteidigung
Ebenfalls kein gültiger Verzicht liegt vor, wenn eine Person hätte notwendig verteidigt werden müssen, weil sie wegen ihres körperlichen oder geistigen Zustands oder aus anderen Gründen ihre Verfahrensinteressen nicht ausreichend wahren kann.29 Eine solche Person kann ohne Verteidigung nicht rechtsgültig auf ihre Rechte verzichten. Auch hier ist es an den Strafverfolgungsbehörden, dies abzuklären.30
3.3.3 Gegen Treu und Glauben, Verfahrensfairness
Die Annahme, dass der Urteilsvorschlag von der beschuldigten Person akzeptiert wurde, darf zudem nicht gegen Treu und Glauben oder die Verfahrensfairness verstossen. Die Rechtsprechung hat sich hierzu ebenfalls schon verschiedentlich geäussert: So ist es nicht notwendig, dass nochmals eine Einsprache erhoben wird, wenn der Strafbefehl nach bereits erfolgter Einsprache nur leicht modifiziert wird. Die Annahme eines Einverständnisses mit dem Urteilsvorschlag verstösst in diesem Fall gegen Treu und Glauben.31
Unzulässig ist es zudem, wenn einer beschuldigten Person der Verzicht auf eine Einsprache aufgenötigt wurde. Der Verzicht ist gemäss Rechtsprechung nur dann verbindlich, wenn er «unter Bedingungen erfolgt, die keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass der Erklärende unbeeinflusst handelt» und der Verzicht «nicht auf einer dem Fairnessprinzip widersprechenden Weise zustande gekommen ist».32 Das ist beispielsweise dann fraglich, wenn Beschuldigte nach einer vorläufigen Festnahme und einem drohenden Haftantrag einen Strafbefehl mit Einspracheverzicht akzeptieren.33
3.4 Einschränkungen der Rückzugsfiktionen
3.4.1 Konsequenzen des Fernbleibens gekannt
Die Rückzugsfiktion darf nur angenommen werden, wenn sich aus dem gesamten Verhalten des Betroffenen der Schluss aufdrängt, er verzichte mit seinem Desinteresse am weiteren Gang des Verfahrens bewusst auf den ihm zustehenden Rechtsschutz. Vorausgesetzt wird also die effektive Kenntnis der Vorladung, die effektive Kenntnis der Konsequenzen bei Nichterscheinen und ein unentschuldigtes Nichterscheinen.34 Dies ist dann nicht der Fall, wenn die beschuldigte Person nicht hinreichend und in einer ihr verständlichen Art und Weise auf diese Konsequenz hingewiesen wurde. 35 Nicht genügend ist es, der Vorladung einfach einen Auszug diverser Gesetzesbestimmungen beizulegen. Mit einer formularmässigen, für einen Laien unverständlichen Belehrung über alle möglichen Rechte und Pflichten der Parteien im Strafverfahren wird der Aufklärungs- und Fürsorgepflicht nicht nachgekommen.36
Grundsätzlich nicht zur Anwendung gelangen darf die sogenannte Doppelfiktion, bei welcher zuerst der Erhalt der Vorladung durch eine Zustellfiktion und danach wegen Nichterscheinens der beschuldigten Person der Rückzug der Einsprache fingiert wird.37 Einschränkungen erfährt dieser Grundsatz gemäss Bundesgericht indes aufgrund der in Artikel 407 Absatz 1 litera c StPO statuierten Spezialregelung für das Berufungsverfahren.38
3.4.2 Verspätung bei der Gerichtsverhandlung
Gegen Treu und Glauben verstösst die Anwendung der Rückzugsfiktion bei einer nicht erheblichen Verspätung, wobei bei Verspätungen zwischen 15 und 60 Minuten gemäss Bundesgericht angesichts der Gesamtumstände zu entscheiden ist. Im vom Bundesgericht beurteilten Fall wurde die Anwendung der Rückzugsfiktion bei einer 17-minütigen Verspätung zur Hauptverhandlung als überspitzt formalistisch erachtet.39 Auch hier dürfte Strassburg weit grosszügiger sein.40
Ebenfalls nicht zulässig ist die Rückzugsfiktion, wenn kein sachlicher Anlass für die versäumte Einvernahme bestanden hat41 oder wenn die Vorladung wegen Wohnsitzes des Beschuldigten im Ausland und der dortigen staatlichen Souveränität nicht mit der Androhung der Rückzugsfiktion hätte verbunden werden dürfen.42
4. Kraft des Rechts nutzen
4.1 Rechtsbehelf und Rechtsmittel
Der Verteidigung zugetragene, angeblich rechtskräftige Strafbefehle sind mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen einer Prüfung zu unterziehen. Allzu häufig verstösst die Fiktion des Einverständnisses gegen übergeordnetes Recht. Solange ein Strafbefehl nicht rechtsgenüglich eröffnet wird, entfaltet er keine Rechtwirkung und löst keine Fristen aus.43 Das Mittel der Verteidigung, um gegen einen nicht rechtmässig eröffneten Strafbefehl vorzugehen, ist daher die Einsprache,44 wobei die Zehntagefrist erst mit rechtsgenüglicher Eröffnung zu laufen beginnt. Die Einsprache der beschuldigten Person kann gemäss Artikel 354 Absatz 2 StPO grundsätzlich unbegründet erfolgen. Ob sich nach Akteneinsicht Ausführungen zur Fristwahrung aufdrängen, eventualiter ein begründetes Fristwiederherstellungsgesuch45 und Anträge zur Vollzugsaussetzung, Schadenersatz oder Genugtuung gestellt werden müssen, ist im Einzelfall durch die Verteidigung zu prüfen. Über die Rechtzeitigkeit der Einsprache hat im Bestreitungsfall das Gericht zu urteilen (Artikel 356 Absatz 2 StPO), wobei es wie dargelegt der Staatsanwaltschaft obliegt, zu beweisen, dass die betroffene Person freiverantwortlich und informiert den Urteilsvorschlag der Staatsanwaltschaft angenommen hat.
Wird zu Unrecht die Rückzugsfiktion angewendet, ist dagegen begründet Beschwerde gemäss Artikel 393 StPO und Artikel 78 ff. BGG zu führen.
4.2 Amtliche Verteidigung
Bei Bedürftigkeit der Klientschaft ist ein Gesuch um amtliche Verteidigung zu stellen, auch wenn die in Artikel 132 Absatz 3 StPO genannten Schwellen nicht erreicht sind. Gemäss Rechtsprechung ist auch bei unbedingten Freiheitsstrafen unter vier Monaten eine amtliche Verteidigung zu gewähren, wenn neben der relativen Schwere des Falles – das Bundesgericht spricht von einigen Wochen bis wenigen Monaten – besondere Schwierigkeiten hinzukommen.46 Gleiches muss bei unbedingten Geldstrafen gelten, bei welchen infolge absoluter Mittellosigkeit (beispielsweise bei Nothilfebezug) faktisch eine Umwandlung in eine unbedingte Freiheitsstrafe erfolgen wird. Je schwerwiegender der Eingriff in die Interessen der betroffenen Person ist, desto geringer sind die Anforderungen an die erwähnten tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten und umgekehrt.47 Gerade Fragen der rechtmässigen Eröffnung und der Fristwahrung können derartige Schwierigkeiten begründen.48
5. Einsprachen als Sand im Getriebe
In den Archiven der Staatsanwaltschaften dürften zuhauf nicht einsprachefeste Strafbefehle zu finden sein. In der letzten StPO-Revision wurde das Strafbefehlsverfahren nur unzureichend verbessert. Eine Überprüfung der hiesigen Praxis durch den EGMR, gerade bei unbedingten Freiheitsstrafen tut daher not. Bis dahin ist das gut geschmierte Strafbefehlsgetriebe durch Einsprache-Sand ins Stottern zu bringen – auch wenn es hierzu angesichts der schieren Anzahl der Strafbefehle ganzer Wagenladungen bedarf.
1 Der vorliegende Beitrag basiert auf einem am Kongress des Forums Strafverteidigung vom 2.12.2022 in Zürich gehaltenen Referat.
2 Vgl. www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaetstrafrecht/strafjustiz.assetdetail.22665273.html.
3 Marc Thommen / André Kuhn, «Zahlen und Fakten zum Strafbefehlsverfahren», Schlussbericht des Projekts 100011_173368 zuhanden des Schweizerischen Nationalfonds, 18.3.2020, www.ius.uzh.ch/dam/jcr:0bb4aeb1-03b3-46e9-9aa4-18d487a2b893/ScientificReport_Thommen.pdf.
4 BGer 6B_1290/2021 vom 31.3.2022, E. 4.1.
5 Vgl. zu den Zustellarten und Zustellfiktionen auch Marc Thommen / Jascha Mattmann / David Eschle /Franziska Rader / Simone Walser, «Heimliche Verurteilungen. Empirische Erkenntnisse und konventionsrechtliche Bedenken zur fiktiven Zustellung von Strafbefehlen», in: ZStrR 3/2021, S. 253 ff.
6 BGer 6B_592/2012 vom 11.02.2013.
7 EGMR-Urteil 3691/02 Salduz c. Türkei vom 27.11.2008, Ziff. 59; Marc Thommen, Kurzer Prozess – fairer Prozess, Bern 2013, S. 119 mit weiteren Hinweisen.
8 BGer 1B_244/2020 vom 12.5.2021, E. 3.1; BGE 140 IV 82, E. 2.6, S. 86; Thommen, a.a.O., S. 119 ff.
9 BGer 1P.409/2006 vom 14.8.2006, E. 3.
10 Hinreichend im Verhältnis zum Eingriff in die Rechte, EGMR-Urteil 56581/00 Sejdovic c. Italien vom 1.3.2006, Ziff. 86; Thommen, a.a.O., S. 120.
11 EGMR-Urteil 14032/88 Poitrimol c. Frankreich vom 23.11.1993, Ziff. 31; Thommen, a.a.O., S. 120.
12 EGMR-Urteil 9024/80 Colozza c. Italien vom 12.2.1985, § 30; EGMR-Urteil 18114/02 Hermi c. Italien vom 18.10.2006, § 75; so m. E. auch BGer 1B_244/2020 vom 12.5.2021, E. 3.1.
13 BGer 6B_1154/2021 vom 10.10.2022 unter Hinweis auf BGE 146 IV 30, E. 1.1.2; BGer 6B_1135/2021 vom 9.5.2021, E. 3.2; BGer 6B_1391/2021 vom 25.4.2022, E. 1.1.
14 BGer 6B_1154/2021 vom 10.10.2022, E. 1.1. mit Hinweis auf BGer 6B_288/2020 vom 16.10.2020, E. 1.3; BGer 6B_1032/2015 vom 25.5.2016, E. 1.1; BGer 6B_158/2012 vom 27.7.2012, E. 2.1 mit Verweisen auf BGE 116 Ia 90, E. 2c/aaa), S. 93; BGE 101 Ia 7, E. 2.
15 BGer 6B_1154/2021 vom 10.10.2022, E. 1.1.
16 BGer 6B_674/2019 vom 19.9.2019, E. 1.4.3.
17 Thommen / Mattmann / Eschle / Rader / Walser, a.a.O., S. 253 ff., S. 262 ff.
18 So Angela Agostino-Passerini /Niklaus Ruckstuhl, «Strafvollzug ohne rechtskräftiges Urteil – ein Unding im Rechtsstaat», in: Forumpoenale, 4/2021, S. 296 ff. unter Hinweis auf Yvan Jeanneret /André Kuhn, Précis de procédure pénale, Bern 2018, N 17019; Laurent Moreillon, «L’ordonnance pénale: simplification ou artifice?», in: ZStrR 128/2010, 22, 32; Niklaus Oberholzer, Strafprozessrecht, 4. Aufl., Bern 2020, N 1731.
19 BGer 6B_652/2013 vom 26.11.2013, E. 1.4.
20 BGer 6B_652/2013 vom 26.11.2013, E. 1.4.
21 BGer 6B_738/2011 vom 20.3.2012, E. 3.2. f.
22 BGer 1B_244/2020 vom 12.5.2021, E. 3.4.
23 BGE 145 IV 197, E. 1.3.3.
24 BGer 6B_1294/2019 vom 8.5.2020, E.1.3.1.
25 EuGH-Urteil C-278/16 vom 12.10.2017.
26 Vgl. die EGMR-Urteile 18114/02, Hermi c. Italien vom 18.10.2006, § 68; 9783/82 Kamasinski c. Österreich vom 19.12.1989, §§ 78–81.
27 BGE 145 IV 197, E. 1.3.3; BGE 118 Ia 462, E. 2.b; BGer 6B_860/2020 vom 18.11.2020, E. 1.3.1 f.; je mit Hinweisen.
28 So auch Marc Thommen / David Eschle / Selma Kuratle/Simone Walser / Fabienne Zimmermann, «Übersetzung von Strafbefehlen – ‹Wo chiemte mer hi?›», in: Sui generis 2020
29 Art. 130 lit. c StPO; analog BGer 6B_178/2017, 6B_191/2017 vom 25.10.2017; vgl. Bezirks- gericht Zürich GB200059 vom 18.7.2022.
30 BGer 1B_285/2016 vom 1.9.2016, E. 2.1.
31 Urteil 6B_1321/2018 vom 26.9.2019.
32 Urteil 6B_152/2013 vom 27.5.2013, E. 4.4.
33 Vgl. Marc Thommen, a.a.O., S. 117.
34 BGE 140 IV 82.
35 Urteil 6B_152/2013 vom 27.5.2013, E. 4.5.1.
36 Urteil 6B_152/2013 vom 27.5.2013, E. 4.5.1.
37 BGE 140 IV 82, E. 2.7.
38 BGer 6B_998/2021 vom 22.6.2022.
39 BGE 145 I 201, E. 4.2.2.
40 Vgl. Thommen / Mattmann /Eschle /Rader / Walser, a.a.O., S. 253 ff., S. 262 ff.
41 BGer 6B_152/2013 vom 27.5.2013, E. 4.5.2.
42 BGE 140 IV 86, bestätigt in BGer 6B_1456/2021 vom 7.11.2022.
43 BGE 142 IV 201, E. 2.4.
44 So auch Thommen / Eschle / Kuratle / Walser / Zimmermann, a.a.O.; vgl. zur Thematik Urteil 6B_517/2018 vom 24.4.2019.
45 Vgl. zur EMRK-begründeten staatlichen Pflicht, Beschuldigten die Möglichkeit einer Neubeurteilung einzuräumen Thommen / Mattmann / Eschle / Rader / Walser, a.a.O., in: ZStrR 3/2021, S. 253 ff., S. 266.
46 Vgl. BGer 1B_95/2022 vom 18.7.2022; das Bundesgericht nahm einen relativ schweren Fall an bei einer Strafdrohung von drei Monaten Gefängnis unbedingt (BGE 115 Ia 103, E. 4, S. 105 f.), bei einer «empfindlichen Strafe von jedenfalls mehreren Monaten Gefängnis» (BGE 120 Ia 43, E. 3c, S. 47) oder bei der Einsprache gegen einen Strafbefehl von 40 Tagen Gefängnis bedingt (BGer 1P.627/2002 vom 4.3.2003, E. 3.2, in: Pra 1/2004, S. 1).
47 BGE 143 I 164, E. 3.6.
48 In diese Richtung auch BGer 1B_95/2022 vom 18.7.2022, E. 3.3.