Leihmutterschaft: Schweiz verletzte Rechte des Kindes
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Schweiz wegen der Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK) eines durch Leihmutterschaft geborenen Kindes verurteilt. Das Recht auf Achtung des Familienlebens der klagenden Väter hielt der EGMR indessen für nicht verletzt.
Der Fall betraf ein gleichgeschlechtliches Paar in eingetragener Partnerschaft, das in den USA einen Vertrag über eine Leihmutterschaft abgeschlossen hatte. Das Kind wurde 2011 geboren. Ein US-Gericht stellte das Eltern-Kind-Verhältnis zwischen dem Kind und dem genetischen sowie dem Wunschvater fest. Die schweizerischen Behörden anerkannten jedoch nur das Eltern-Kind-Verhältnis zum genetischen Vater. Das Paar habe durch die Inanspruchnahme einer Leihmutterschaft in den USA das Verbot dieser Fortpflanzungsmethode in der Schweiz umgangen und könne daraus keine Rechte ableiten. Zudem sei das Kindswohl durch die Anerkennung der Beziehung zum genetischen Vater hinreichend geschützt.
Der EGMR stellte zunächst fest, dass die Verweigerung der Anerkennung im Einklang mit gültigem Schweizer Recht stand. Das Ziel der Verweigerung der Anerkennung von durch Leihmutterschaft geschaffenen Eltern-Kind-Beziehungen sei es, zu verhindern, dass Personen die in der Schweiz verbotene Fortpflanzungsmethode im Ausland in Anspruch nehmen. Damit solle die Gesundheit der Kinder und Leihmütter geschützt werden, was grundsätzlich mit Artikel 8 EMRK vereinbar sei. Jedoch unterscheide sich der vorliegende Fall vor allem dadurch von den zuvor vom EGMR entschiedenen Fällen, dass es sich bei den Beschwerdeführern um ein gleichgeschlechtliches Paar in einer eingetragenen Partnerschaft handelte. Zum Zeitpunkt des Antrags der Beschwerdeführer um Anerkennung des Eltern-Kind-Verhältnisses bestand für gleichgeschlechtliche Paare keine andere Möglichkeit, das Eltern-Kind-Verhältnis zwischen dem Wunschelternteil und dem Kind festzuhalten. Die Stiefkindadoption stand nur verheirateten Paaren offen. Erst seit dem 1. Januar 2018 ist es in der Schweiz möglich, das Kind eines eingetragenen Partners zu adoptieren, und seit dem 1. Juli 2022 können gleichgeschlechtliche Paare heiraten. Das Recht des Kindes auf Achtung seines Privatlebens verlangt laut EGMR jedoch, dass das innerstaatliche Recht eine Möglichkeit der Anerkennung einer rechtlichen Eltern-Kind-Beziehung vorsieht. Wenn es um die Anerkennung der Abstammung gehe, sei der staatliche Ermessensspielraum begrenzt und die Interessen des Kindes dürften nicht von der sexuellen Ausrichtung der Eltern abhängen. Die jahrelange Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Identität und Abstammung sei mit dem Kindeswohl unvereinbar und die Schweiz habe ihren Ermessensspielraum vorliegend überschritten.
In Bezug auf das Recht der Eltern des Kindes auf Achtung ihres Familienlebens stellte der EGMR hingegen fest, dass es weder willkürlich noch unangemessen sei, wenn das Bundesgericht feststellte, dass die Inanspruchnahme der Leihmutterschaft in Kalifornien eine erhebliche Umgehung des den Beschwerdeführern bekannten Verbots der Leihmutterschaft darstelle. Ausserdem habe die Nichtanerkennung der Geburtsurkunde die Ausübung des Familienlebens in der Praxis nicht wesentlich beeinträchtigt. Das Recht auf Achtung des Familienlebens der Eltern sei nicht verletzt worden.
EGMR-Urteile 58817/15 und 58252/15 vom 22.11.2022, D.B. und andere c. Schweiz
Aufruf zu Hass nicht durch Meinungsäusserungsfreiheit geschützt
Der EGMR hielt in seinem Urteil Zemmour c. Frankreich fest, dass Frankreich nicht gegen die Meinungsäusserungsfreiheit (Artikel 10 EMRK) des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour verstossen hat. Der Fall betraf die Verurteilung von Zemmour durch die französischen Gerichte wegen Anstiftung zu Diskriminierung und religiösem Hass gegen die französische muslimische Gemeinschaft durch Äusserungen in einer Fernsehsendung im Jahr 2016.
Der Gerichtshof stellte fest, dass die Äusserungen Zemmours in einer Live-Sendung zur besten Sendezeit gefallen waren, und bemerkte, dass der Beschwerdeführer in der Sendung nicht von den «Pflichten und Verantwortlichkeiten» eines Journalisten befreit gewesen war, obwohl er nicht als Journalist sprach, sondern als Autor und Meinungsführer. Der EGMR ist weiter der Ansicht, dass sich seine Äusserungen nicht auf Kritik am Islam beschränkten, sondern gegen die muslimische Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit gerichtet waren. Angesichts des Kontexts der Sendung zu terroristischer Gewalt seien die Äusserungen in herabsetzender Weise und mit diskriminierender Absicht getätigt worden, um die Zuschauer zur Ablehnung und Ausgrenzung der muslimischen Gemeinschaft aufzurufen. So hatte der Beschwerdeführer Muslime, die in Frankreich leben, als «Kolonialisten» und «Invasoren» bezeichnet, die für die Islamisierung Frankreichs kämpfen würden und sich zwischen dem Islam und Frankreich entscheiden müssten.Der EGMR stufte die Äusserungen des Beschwerdeführers als abwertende und diskriminierende Behauptungen ein, die geeignet waren, eine Kluft zwischen den Franzosen und der muslimischen Gemeinschaft insgesamt zu verschärfen. Als solche gehörten sie nicht zur Kategorie von Äusserungen, die nach Artikel 10 EMRK einen erhöhten Schutz geniessen. Die Verurteilung Zemmours zu einer Geldstrafe war laut EGMR notwendig und angemessen, um die Rechte anderer zu schützen.
EGMR-Urteil 63539/19 vom 20.12.2022, Zemmour c. Frankreich
Frühere Pensionierungspflicht für Frauen diskriminierend
In seinem Urteil in der Rechtssache Moraru und Marin gegen Rumänien stellte der EGMR eine Verletzung des allgemeinen Diskriminierungsverbots von Artikel 1 des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK fest. In der Rechtssache ging es um das obligatorische Renteneintrittsalter für Beamtinnen in Rumänien, das bei 60 Jahren und damit tiefer als jenes für Männer (65 Jahre) festgesetzt war. Die zwei Beschwerdeführerinnen machten vor dem EGMR geltend, dass die Pflicht zum Ruhestand eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstelle. So entschied auch der EGMR: Unterschiede im Rentenalter zwischen den Geschlechtern stellen gemäss Gerichtshof eine Ungleichbehandlung dar. Rumänien habe keine Argumente zu den finanziellen oder sonstigen Kosten vorgebracht, die der Gesellschaft dadurch entstehen würden, dass Frauen bis zum 65. Altersjahr arbeiten dürften. Die Situation in Rumänien wurde später durch ein Gesetz und eine Entscheidung des rumänischen Verfassungsgerichts bereinigt.
EGMR-Urteile 53282/18 und 31428/20 vom 20.12.2022, Moraru und Marin c. Rumänien