Litauen verletzte wegen Warnhinweis in Kinderbuch die Meinungsfreiheit
In der Rechtssache Macate gegen Litauen stellt die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung der Meinungsfreiheit (Artikel 10 EMRK) fest. Der Fall betraf ein Märchenbuch für Kinder, das unter anderem Geschichten über Beziehungen und Eheschliessungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts enthält. Kurz nach Veröffentlichung des Buchs wurde auf eine Beschwerde hin der Vertrieb ausgesetzt und ein Jahr später wieder aufgenommen, wobei das Buch von der Aufsichtsbehörde für journalistische Ethik mit einem Warnhinweis versehen wurde, dass es für Kinder unter 14 Jahren schädlich sein könnte. Die gegen diesen Warnhinweis ergriffenen Rechtsmittel wurden allesamt abgewiesen mit der Begründung, dass bestimmte Passagen sexuell zu explizit seien und dass die Art und Weise, in der die Märchen ein neues Familienmodell darstellten, die Frage aufwerfe, ob die Autorin des Buches selbst versucht habe, diejenigen zu diskriminieren, die andere Werte als sie selbst vertreten.
Die Autorin des Buches gelangte an den EGMR. Dieser stellt in seinem Urteil fest, dass die Massnahmen gegen das Buch darauf abzielten, den Zugang von Kindern zu Informationen zu beschränken, die gleichgeschlechtliche Beziehungen als gleichwertig mit andersgeschlechtlichen Beziehungen darstellen. Das Gericht konnte nicht erkennen, inwiefern nach Ansicht der litauischen Behörden bestimmte Passagen – darunter jene, in der eine Prinzessin und die Tochter eines Schuhmachers nach ihrer Hochzeit einander umarmend schlafen – sexuell explizit sein sollen. Die Grosse Kammer kam zum Schluss, dass die Beschränkung des Zugangs von Kindern zu solchen Informationen keine legitimen Ziele verfolgte. Dies war der erste Fall, in dem der Gerichtshof Beschränkungen für speziell für Kinder geschriebene Literatur über gleichgeschlechtliche Beziehungen zu beurteilen hatte.
EGMR-Urteil 61435/19 vom 23.1.2023, Grosse Kammer, Macate c. Litauen
Luxemburg verletzte Meinungsäusserungsfreiheit eines Whistleblowers
Im Fall Halet gegen Luxemburg bejaht die Grosse Kammer eine Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit (Artikel 10 EMRK). Der Beschwerdeführer hatte während seiner Beschäftigung bei Pricewaterhouse Coopers (PwC) vertrauliche, durch das Berufsgeheimnis geschützte Unterlagen an die Medien weitergegeben. Die veröffentlichten Dokumente enthüllten eine Praxis vorteilhafter Steuervereinbarungen zwischen PwC und den luxemburgischen Steuerbehörden. Auf Antrag von PwC und nach Abschluss des gegen ihn geführten Strafverfahrens wurde der Beschwerdeführer vom luxemburgischen Berufungsgericht zu einer Geldstrafe von 1000 Euro und zur Zahlung eines symbolischen Betrags von 1 Euro als Ersatz des PwC entstandenen immateriellen Schadens verurteilt. Der EGMR wandte die von ihm in seinem Urteil Guja gegen Moldawien (Urteil 14277/04) festgelegten Kriterien zum Schutz von Whistleblowern an, um zu beurteilen, ob und gegebenenfalls inwieweit sich eine Person, die im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses erlangte vertrauliche Informationen offenlegt, auf den Schutz von Artikel 10 EMRK berufen kann. Die Kriterien: Erstens die Verfügbarkeit alternativer Kanäle für die Offenlegung der Informationen, zweitens die Authentizität der offengelegten Informationen, drittens der gute Glaube des Arbeitnehmers, viertens das öffentliche Interesse an den offengelegten Informationen, fünftens die nachteiligen Auswirkungen der Offenlegung und sechstens die Schwere der Sanktion gegen den Whistleblower. Bezogen auf den vorliegenden Sachverhalt stellte der EGMR unter Prüfung der genannten Kriterien fest, dass das öffentliche Interesse an der Verbreitung die sich daraus ergebenden nachteiligen Folgen überwiegt. Der EGMR berücksichtigte insbesondere die Bedeutung der öffentlichen Debatte über die Steuerpraktiken multinationaler Unternehmen auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Der EGMR kam daher zum Schluss, dass der Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit des Beschwerdeführers in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen ist.
EGMR-Urteil 21884/18 vom 14.2.2023, Halet c. Luxemburg
Verweigerter Eintrag eines «dritten» Geschlechts verstösst nicht gegen EMRK
In seinem Urteil in der Rechtssache Y. gegen Frankreich urteilt der EGMR, dass keine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK) vorlag. Im Fall ging es um einen Beschwerdeführer, der sich als «intersexuell» bezeichnet und bei den französischen Behörden vergeblich die Änderung des Eintrags im Geburtsregister von «männlich» zu «neutral» oder «intersexuell» beantragte. Als Beweismittel legte er ärztliche Bescheinigungen vor, aus denen hervorgeht, dass sein biologischer intersexueller Status nach der Geburt festgestellt worden war. Zudem erklärte er, zeitlebens eine intersexuelle Geschlechtsidentität beibehalten zu haben.
Der Gerichtshof erkannte zunächst, dass vorliegend ein wesentlicher Aspekt der individuellen intimen Identität, nämlich die Geschlechtsidentität des Beschwerdeführers, betroffen sei und dass die Diskrepanz zwischen seiner biologischen Identität und seiner rechtlichen Identität geeignet sei, ihm Leiden und Ängste zu verursachen. Gleichzeitig stellte der Gerichtshof aber fest, dass die von den französischen Behörden vorgebrachten Argumente, namentlich die Achtung des Grundsatzes der Unveräusserlichkeit des Personenstands sowie die Notwendigkeit der Wahrung der Kohärenz und Zuverlässigkeit der Personenstandsregister und der sozialen und rechtlichen Regelungen stichhaltig seien. Frankreich hatte argumentiert, dass die Gutheissung des Antrags des Beschwerdeführers darauf hinauslaufen würde, die Existenz einer weiteren Geschlechtskategorie anzuerkennen, was mehrere koordinierende Gesetzesänderungen erfordern würde. Damit hätten die französischen Gerichte eine gesetzgeberische Funktion ausüben müssen, was mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung unvereinbar sei. Der EGMR sieht sich aus demselben Grund ebenfalls zur Zurückhaltung verpflichtet. Bei Fragen, über welche die Meinungen in der Gesellschaft weit auseinandergehen, müsse die Rolle des innenpolitischen Entscheidungsträgers besonderes Gewicht erhalten. Zudem fehle es an einem europäischen Konsens in dieser Frage, weshalb es Frankreich zu überlassen sei, zu bestimmen, wie schnell und wie weit man Forderungen nach einem intersexuellen Personenstand nachkommen wolle. Damit kam der EGMR zum Schluss, dass Frankreich nicht gegen seine Verpflichtung verstossen hat, die Achtung des Privatlebens des Beschwerdeführers zu gewährleisten.
EGMR-Urteil 76888/17 vom 31.1.2023, Y. c. Frankreich