Unmenschliche Bedingungen in Erstaufnahmezentren Griechenlands und Italiens
In zwei Urteilen befasste sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit den Aufnahmebedingungen in sogenannten Hotspots, also den Erstaufnahme- und Registrierungszentren in Griechenland und Italien, die im Zuge der von der EU-Kommission im Jahr 2015 verabschiedeten «Europäischen Migrationsagenda» entstanden.
Zum ersten Mal hat der EGMR die Lebensbedingungen in einem griechischen Hotspot als unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Artikel 3 EMRK eingestuft.
Die Rechtssache A.D. gegen Griechenland betraf die Situation einer ghanaischen Staatsangehörigen, die sich nach ihrer Flucht im Sommer 2019 auf der Insel Samos im Reception and Identification Centre (RIC) wiederfand. Das Camp war mit über 4000 statt den vorgesehenen 648 Personen völlig überfüllt. Der damals im sechsten Monat Schwangeren und ihrem Ehemann wurde der sogenannte «Jungle» zugewiesen, ein schlammiger Hügel ausserhalb des Lagers ohne Strom und sanitäre Einrichtungen. Etwa einen Monat nach ihrer Ankunft auf Samos konnte sie ins Gelände des RIC übersiedeln. Die sanitären Anlagen waren dort in bedenklichem Zustand. Bis zur Geburt konnte die Beschwerdeführerin lediglich zweimal eine Hebamme aufsuchen. Sonst wurde sie medizinisch nicht betreut.
Die Beschwerdeführerin war hochschwanger, als sie sich an den EGMR wandte. Nach dem Erlass vorsorglicher Massnahmen wurde sie im November 2019 in ein Spital gebracht, wo sie ihre Tochter gebar. Dann konnte sie die Insel verlassen.
Der EGMR weist in seinem Urteil darauf hin, dass sich die griechische Regierung nicht auf die fehlende Ausschöpfung eines in der Theorie bestehenden Rechtsmittelwegs berufen könne, weil die mangelhafte Unterbringungssituation den griechischen Behörden seit August 2019 bekannt gewesen sei und sie sich erst im November 2019 um eine Veränderung der Situation gekümmert hätten. Der griechische Rechtsmittelweg wäre somit nicht geeignet gewesen, der Beschwerdeführerin zu helfen. In materieller Hinsicht hielt der EGMR fest, der Druck der Staaten an den Aussengrenzen Europas sei angesichts des Zustroms von Asylsuchenden nicht zu unterschätzen. Dies könne jedoch einen Staat nicht von seinen Verpflichtungen gemäss Artikel 3 EMRK abhalten. Die Beschwerdeführerin sei in der beanstandeten Situation einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt gewesen, welche die Schwelle der für die Annahme einer Verletzung von Artikel 3 EMRK erforderlichen Schwere klar überschritten habe.
In seinem Urteil J.A. und andere gegen Italien stellte der EGMR ebenfalls eine Verletzung des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (Artikel 3 EMRK) fest sowie zusätzlich eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5, §§ 1, 2 und 4 EMRK) sowie des Verbots der Kollektivausweisung (Artikel 4, Protokoll Nr. 4).
Der Fall betraf den Aufenthalt der Beschwerdeführer im «Hotspot» auf der italienischen Insel Lampedusa sowie ihre spätere Abschiebung nach Tunesien. Auf Lampedusa waren die vier tunesischen Staatsangehörigen nach ihrer Rettung durch ein italienisches Schiff im Mittelmeer gebracht worden. Während ihres Aufenthalts durften sie weder den Hotspot verlassen noch mit den Behörden kommunizieren. Nach zehn Tagen wurden sie zusammen mit 40 Personen zum Flughafen der Insel gebracht. Ihnen wurde ein Dokument zur Unterschrift vorgelegt, von dem sie später erfuhren, dass es sich um ein Einreiseverbot handelte. Anschliessend wurden sie via Palermo nach Tunesien zurückgebracht.
Im Hinblick auf Artikel 3 EMRK hielt der EGMR zunächst wie im Urteil A.D. c. Griechenland fest, dass Schwierigkeiten durch den Zustrom von Asylsuchenden nicht von den Pflichten unter Artikel 3 EMRK entbinden. Der Gerichtshof hielt fest, die Festhaltung der Beschwerdeführer im von Gittern, Zäunen und Toren umgebenen Hotspot sei als Inhaftierung zu werten, die weder behördlich angeordnet worden sei, noch auf einer klaren und zugänglichen Rechtsgrundlage basiere. Sie sei nicht für einen befristeten Zeitraum zur Klärung der individuellen Umstände oder Verbringung in ein anderes Zentrum erfolgt, was eine Festhaltung von maximal 48 Stunden rechtfertigen würde. Die Beschwerdeführer seien nicht über die rechtlichen Gründe für den Freiheitsentzug informiert worden und nicht in der Lage gewesen, die Inhaftnahme vor einem Gericht anzufechten.
Schliesslich stellte der EGMR fest, dass die Situation der Beschwerdeführer nicht individuell beurteilt worden war, bevor sie Einreiseverbote unterzeichnen mussten. Die Verfügungen seien vorformuliert gewesen und hätten keine individuellen Informationen enthalten. Aufgrund fehlender Übersetzung und unmittelbarer Abschiebung hätten sie kein Rechtsmittel gegen den Entscheid ergreifen können. Es handelte sich daher um eine kollektive Ausweisung.
EGMR-Urteil 55363/19 vom 4.4.2023, A.D. c. Griechenland;
EGMR-Urteil 21329/18 vom 30.3.2023, J.A. u.a. c. Italien