1. Wer hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege?
Laut Artikel 29 Absatz 3 der Bundesverfassung1 sind alle natürlichen Personen unabhängig von ihrer Nationalität anspruchsberechtigt; ebenso Kollektiv- und Kommanditgesellschaften, sofern nebst der Gesellschaft auch alle Gesellschafter beziehungsweise alle unbeschränkt haftenden Gesellschafter mittellos sind. Hingegen profitieren verselbständigte Sondervermögen wie die Konkursmasse nicht von der unentgeltlichen Rechtspflege. Juristische Personen des Privatrechts sollen nach der Auffassung des Bundesgerichts ausnahmsweise einen Anspruch haben, wenn ihr einziges Aktivum im Streit liegt und nebst der juristischen Person auch sämtliche wirtschaftlich Beteiligten mittellos sind.
2. Gilt der Anspruch auch für nichtstreitige Verfahren?
Einer mittellosen Partei wird die unentgeltliche Rechtspflege nur für förmliche Rechtsanwendungsverfahren gewährt, die zur Durchsetzung ihrer individuellen Rechte unmittelbar nötig sind oder in die sie unfreiwillig hineingezogen wird. Ohne Belang ist, ob es sich um ein streitiges oder nichtstreitiges Verfahren oder einen Zivil-, Straf- oder Verwaltungsprozess handelt. Aufsichtsanzeigeverfahren, in denen es um das öffentliche Interesse an der korrekten Rechtsanwendung geht, fallen ebenso ausser Betracht wie Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, bei denen noch keine direkte Betroffenheit vorliegt. Auch für die freiwillige Austragung von Streitigkeiten vor einem privaten Schiedsgericht kann keine staatliche Kostenhilfe beansprucht werden.
3. Wann liegt Mittellosigkeit vor?
Als mittellos gilt, wer nicht in der Lage ist, für die Prozesskosten aufzukommen, ohne dass er Mittel beanspruchen müsste, die er für seinen Lebensunterhalt und jenen seiner Familie braucht. Dafür müssen die notwendigen finanziellen Verpflichtungen (Notbedarf) und die vorhandenen finanziellen Mittel (Einkommen und Vermögen) einander gegenübergestellt werden. Kann mit den vorhandenen Mitteln der Notbedarf nicht oder nur knapp gedeckt werden, ist der Betroffene ohne Weiteres als mittellos anzusehen. Resultiert ein Überschuss, liegt Mittellosigkeit vor, wenn dieser nicht ausreicht, um die zu erwartenden Prozesskosten innert maximal zwei Jahren zurückzubezahlen.
Beim Notbedarf ist vom Grundbetrag auszugehen, wie er zur Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums verwendet wird. Dabei wird der Grundbetrag praxisgemäss pauschal um einen gewissen Prozentsatz erhöht und mit den effektiven Kosten für Wohnung, Krankenkasse nach KVG, Arbeitsweg, Steuern etc. ergänzt. Nach der neuesten Praxis des Bundesgerichts ist die Abzahlung von Steuerschulden als Ausgabenposten zu berücksichtigen, sofern die Raten tatsächlich und regelmässig bezahlt werden.
Die gegenüberzustellenden finanziellen Mittel umfassen sämtliches Einkommen einschliesslich allfälliger Ersatzeinkommen wie etwa Sozialversicherungsrenten. Ob Einkünfte betreibungsrechtlich ganz oder teilweise pfändbar sind oder nicht, ändert an deren Berücksichtigung zur Abklärung der Mittellosigkeit nichts.
4. Wird sämtliches Vermögen angerechnet?
Vom Vermögen wird ein unantastbarer Freibetrag im Sinne eines «Notgroschens» abgezogen. Das Bundesgericht hat bislang keine fixen Beträge festgesetzt und stets eine Würdigung der konkreten Umstände verlangt. Bei älteren, kranken Menschen mit schlechter Vorsorge ist der Freibetrag höher als bei jüngeren, gesunden Gesuchstellern. Bei den einen sind es im Einzelfall 25000, bei den anderen 10000 Franken.
Die Art der Vermögensanlage ist irrelevant. Deshalb ist auch bei Immobilien zu prüfen, ob sie verwendet werden können, eine hypothekarische Mehrbelastung oder gar die Veräusserung möglich und zumutbar sind. In aller Regel ist es unzumutbar – und im Übrigen auch innert angemessener Frist kaum realisierbar –, eine selbst bewohnte Liegenschaft für die Prozessfinanzierung zu verkaufen.
5. Wie weit reicht die Mitwirkungspflicht?
Auch bei Geltung der Untersuchungsmaxime gilt eine umfassende Mitwirkungspflicht, der ungenügend nachkommt, wer die vom Gericht verlangten Auskünfte nicht erteilt. Meist wird ein amtliches Zeugnis über die Einkommens- und Vermögenssituation verlangt. Erachtet das Gericht dieses als nicht aussagekräftig, muss es selbst den Gesuchsteller zur Einreichung weiterer Unterlagen anhalten. Überspitzt formalistisch ist das Beharren einer Behörde auf einem amtlichen Zeugnis, wenn sich die Mittellosigkeit bereits aus anderen Unterlagen ergibt. Ein Sozialhilfeempfänger gilt grundsätzlich ohne Weiteres als mittellos.
6. Was bedeutet die Subsidiarität?
Unentgeltliche Rechtspflege ist grundsätzlich subsidiär zu anderen Möglichkeiten der Prozessfinanzierung. Insbesondere muss eine verheiratete Person mit beschränkten Mitteln zunächst versuchen, über die eherechtliche Beistands- und Unterstützungspflicht vom Ehegatten einen Prozesskostenvorschuss zu erhalten. Unentgeltliche Rechtspflege wird erst gewährt, wenn keine Mittel aufgetrieben werden können. Sind die Prozesskosten durch eine Rechtsschutzversicherung gedeckt, fällt die subsidiäre staatliche Beihilfe weg.
Keine Subsidiarität besteht gegenüber der Verwandtenunterstützungspflicht gemäss Artikel 328f. Zivilgesetzbuch, welche die Prozesskosten nicht erfasst. Auch nicht subsidiär ist die unentgeltliche Rechtspflege zur Tätigkeit einer Anwältin für eine Organisation, die einen gemeinnützigen Zweck unter Einschluss spezifischer Interessenwahrung im sozialrechtlichen Bereich verfolgt, die Interessenwahrung im Bereich des Sozialrechts anbietet und ohne Honorar oder Prämie arbeitet.
7. Wann ist ein Verfahren aussichtslos?
Erscheint das Begehren einer mittellosen Partei aufgrund einer summarischen Prüfung schon zu Beginn als aussichtslos, wird die unentgeltliche Rechtspflege verweigert. Aussichtslos ist ein Begehren, bei dem die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und das deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden kann. Nicht aussichtslos ist es, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Entscheidend ist, ob sich eine Partei mit ausreichenden Mitteln bei vernünftiger Überlegung zum Prozess entschliessen würde. Es genügt, wenn hinreichende Erfolgsaussichten glaubhaft gemacht sind.
Ein Rechtsmittel, das den gesetzlichen Begründungsanforderungen nicht genügt, ist aussichtslos. Erging ein Entscheid in Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, kann ein Rechtsmittel wegen dessen formeller Natur nicht mit Hinweis auf den materiellen Ausgang des Verfahrens als aussichtslos bezeichnet werden. Als Faustregel gilt: Ein Verfahren ist umso weniger aussichtslos, je stärker der Mittellose von seinem Ausgang betroffen werden kann. Dies führt in Strafverfahren mit potenziell schweren Eingriffen in die persönliche Freiheit dazu, dass selten Aussichtslosigkeit vorliegt.
8. Wann besteht ein Anspruch auf einen amtlichen Anwalt?
Der Zweck der unentgeltlichen Rechtspflege wäre nicht erfüllt, wenn der juristische Laie seine Rechte gänzlich ohne anwaltliche Unterstützung verfolgen müsste. Daher hat ein Mittelloser Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung durch eine Anwältin, wenn seine Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten aufweist. Droht das Verfahren besonders stark in die Rechtsposition des Mittellosen einzugreifen, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands grundsätzlich geboten. In den übrigen Fällen nur dann, wenn zur relativen Schwere besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Mittellose auf sich alleine gestellt nicht gewachsen wäre. Untersuchungs- und Offizialmaxime lassen die Notwendigkeit anwaltlicher Hilfe nicht dahinfallen. Die Schwierigkeiten sind nach einem subjektiven Massstab aufgrund der persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zu beurteilen.
Ist im Sinne der Subsidiarität die effektive Interessenwahrung auf andere Weise garantiert, das heisst ohne Beizug eines Anwalts durch Verbandsvertreter, Fürsorgestellen oder andere Fachleute, entfällt ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung. Dies gilt insbesondere für Verwaltungsverfahren der Sozialversicherung, für die das Bundesgericht unter Anwendung eines strengen Massstabs die Notwendigkeit anwaltlicher Unterstützung nur in Ausnahme-fällen bejaht.
Im Strafverfahren sieht Artikel 130 der neuen eidgenössischen Strafprozessordnung (StPO) die notwendige Verteidigung vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme droht oder wenn die Untersuchungshaft zehn Tage und länger dauert. Zudem geht Artikel 132 Absatz 3 StPO von einem relativ schweren Fall aus, bei dem ein Anspruch auf eine unentgeltliche Verteidigung des Mittellosen besteht, wenn sich konkret eine Freiheitsstrafe von wenigstens vier Monaten oder eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen oder gemeinnützige Arbeit von mehr als 480 Stunden abzeichnet.
9. Kann der Anwalt frei gewählt werden?
Die Person des unentgeltlichen Rechtsbeistandes kann nicht frei gewählt werden. Nach Möglichkeit ist allfälligen Wünschen aber Rechnung zu tragen. Eine Anwältin, die bereits aufgesucht wurde und das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung gestellt hat, kann kaum noch willkürfrei abgelehnt werden. Unentgeltliche Rechtsbeistände können nur zugelassene Anwältinnen und Anwälte sein.
Ein Anwaltswechsel wird nur dann bewilligt, wenn objektive Gründe vorliegen, die eine sachgemässe Vertretung der Interessen des Mittellosen nicht mehr gewährleisten. Dies ist bei schweren Pflichtverletzungen des Anwalts der Fall.
10. Welche Kosten werden übernommen?
Die unentgeltliche Rechtspflege beinhaltet einerseits eine Befreiung von der Leistung allfälliger Gerichtskosten- und Parteikostenvorschüsse bei Einleitung des Verfahrens. Andererseits befreit sie bei Beendigung im Sinne einer Stundung vorläufig von der Bezahlung allfälliger Gerichtskosten und Kosten für die Rechtsverbeiständung. Hingegen wird der Mittellose nicht davon befreit, im Falle des Unterliegens eine Parteientschädigung an den Prozessgegner zu bezahlen, was in der Lehre teilweise kritisiert wird, aber trotzdem Eingang in Artikel 118 Absatz 3 der neuen eidgenössischen Zivilprozessordnung (ZPO) gefunden hat.2
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann während des Verfahrens jederzeit gestellt werden. Allerdings empfiehlt sich eine Gesuchseinreichung im frühestmöglichen Zeitpunkt, zum Beispiel zusammen mit der Klage beziehungsweise Klageantwort, da die unentgeltliche Rechtspflege nicht rückwirkend gewährt wird. Die anwaltlichen Bemühungen im Zusammenhang mit dem Gesuch und mit ihm gleichzeitig eingereichten Rechtsschriften sind erfasst.
Die unentgeltliche Rechtspflege kann widerrufen werden, wenn die Mittellosigkeit nie gegeben war oder nachträglich wegfällt. Hingegen ist ein Widerruf grundsätzlich unzulässig, wenn das Gericht nachträglich zum Schluss kommt, das Begehren sei aussichtslos.
11. Müssen die Kosten zurück-bezahlt werden?
Die Kostenübernahme ist lediglich vorläufiger Natur. Der Staat darf die Kosten nach Abschluss des Verfahrens zurückfordern, sobald dies die wirtschaftliche Lage des ehemals Mittellosen zulässt. Zur Prüfung der Rückzahlungspflicht sind dieselben Grundsätze zu beachten, wie sie zur Bestimmung der Mittellosigkeit Anwendung finden. In der Regel, so auch nach Artikel 123 Absatz 2 ZPO, verwirkt die Rückforderung nach zehn Jahren seit Abschluss des Verfahrens.
12. Was gilt für Anwältinnen und Anwälte?
Anwälte müssen beachten, dass sie im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege vom Staat eingesetzt werden und einzig von diesem, keinesfalls jedoch vom mittellosen Mandanten selbst eine Entschädigung fordern können. Der Entschädigungsanspruch gegen den Staat ist insofern subsidiär, als er erst zum Tragen kommt, wenn eine zu-gesprochene Parteientschädigung vom Gegner nicht einbringlich ist, sei es, dass er insolvent ist, sei es, dass er mit eigenen Forderungen gegen den Mittellosen verrechnet. Eine Parteientschädigung ist wegen des Insolvenzrisikos des Mittellosen direkt dem Anwalt zuzusprechen.
Bei der Bemessung der amtlichen Entschädigung verfügen die Behörden über ein grosses Ermessen. Zwingend zu entschädigen sind die nachgewiesenen Kosten, die zur Wahrung der Rechte objektiv nötig sind, in einem kausalen Verhältnis stehen sowie verhältnismässig sind. Auch die Reisezeit des Anwaltes ist zu entschädigen. Die Entschädigung muss dem Anwalt zwar einen bescheidenen, aber doch nicht bloss symbolischen Verdienst ermöglichen. Die Untergrenze liegt bei einem Stundenansatz von 180 Franken (im Jahr 2006) zuzüglich Auslagen und gesetzliche Mehrwertsteuer. Die Entschädigung darf tiefer sein als die normalerweise zugesprochene Parteientschädigung. Gegen die amtliche Entschädigung kann einzig der Anwalt Rechtsmittel ergreifen.