plädoyer: Wann haben Sie zuletzt eine Rechtsschrift an ein Gericht elektronisch verschickt?
Roman Schnyder: Noch nie. Ich stellte fest, dass es eine zeitraubende und komplexe Sache ist.
Gregor Münch: Ich mache das fast jeden Tag und bin sehr zufrieden. Ich bin im Strafrecht tätig. Meist sind wenige Beilagen nötig und elektronische Eingaben unproblematisch. Im Zivilrecht hingegen ist das sehr mühsam und nicht praktikabel. Die Datenmenge ist beschränkt. Es gibt Kanzleien, die wegen der Beilagen bis zu zehn elektronische Eingaben versenden müssen.
plädoyer: Beim Bundesgericht gingen letztes Jahr von 8024 Beschwerden nur 101 Rechtsschriften elektronisch ein – also ganze 1,2 Prozent. Besteht bei den Rechtsuchenden kein Bedarf nach digitalen Eingaben?
Schnyder: Es ist ein starker Indikator dafür, dass kein Bedarf besteht und das zur Verfügung stehende System untauglich ist. Gerichte haben vielleicht Freude daran, wenn Anwälte künftig alles digital einreichen. Aber Anwälte haben kein Interesse daran.
Münch: Immerhin ist die Tendenz beim Bundesgericht steigend. Bei den kantonalen Gerichten und Staatsanwaltschaften wird die Anzahl elektronischer Eingaben leider nicht erhoben. Eine kürzliche Anfrage beim Bezirksgericht Zürich ergab, dass drei bis vier elektronische Eingaben pro Tag eingehen. Die Zürcher Staatsanwaltschaften teilen mit, die elektronischen Eingaben hätten zugenommen. Ich habe zudem Kenntnis davon, dass mehrere grosse Kanzleien den elektronischen Rechtsverkehr infolge der Pandemie «ausgerollt» haben.
Schnyder: Von so positiven Rückmeldungen habe ich keine Kenntnis. Das widerspricht auch den Zahlen am Bundesgericht.
plädoyer: Bisher funktioniert die Korrespondenz zwischen Gerichten und der Anwaltschaft gut. Und jede Partei kann wählen, ob sie Eingaben digital oder schriftlich machen will. Weshalb sollen 99 Prozent der Anwälte gezwungen werden, künftig nur noch elektronisch zu kommunizieren?
Münch: Dieses Zwischending mit elektronischen und schriftlichen Eingaben ist für alle Beteiligten unbefriedigend. Nach meinen Erfahrungen haben Gerichte und Behörden keine Freude an elektronischen Eingaben. Bei den Gerichten wird dann doch immer alles ausgedruckt. Das ergibt auf Dauer keinen Sinn. Zudem schreitet die Digitalisierung nun mal voran. Die jungen Leute arbeiten digital. Und wenn man die Akten elektronisch führt, dann müssen auch die Eingaben digital werden.
Schnyder: Nein, das ist nicht zwingend. Die Basler Gerichte scannen alle schriftlichen Eingaben ein, sie führen hybride Dossiers. Das funktioniert gut. Die Papierversion zählt hier noch immer als Original. Und wenn es stimmt, dass die jungen Leute ohnehin digital arbeiten, dann braucht es ja auch kein Obligatorium.
Münch: Für mich ist es eine Horrorvorstellung, wenn eine elektronische Plattform entsteht und es zugleich weiter hybride Akten gibt. Einerseits wird alles ausgedruckt, andererseits macht man alles digital. Dabei hat der elektronische Rechtsverkehr doch viele Vorteile. Man kann flexibel arbeiten und hat die Kontrolle über die Fristen. Anwälte müssen nicht mehr Assistenten vertrauen oder sich das Foto des Postbüchleins senden lassen, um zu prüfen, ob der Versand geklappt hat. Die Archivierung wird erleichtert und generell der Zugang zu allen Verfahrensakten.
Schnyder: Auch nach dem neuen Gesetzentwurf über die elektronische Justiz wird nicht alles digital sein. Das Obligatorium gilt einzig und allein für die berufsmässigen Rechtsvertreter. Bis heute kann sich jede Person selbst bis vor Bundesgericht vertreten. Das wird so bleiben und für die Privaten zählt das Obligatorium nicht. Zudem gibt es Beweismittel, die man elektronisch gar nicht erfassen kann. Das duale System kommt also auch mit dem neuen Gesetzesentwurf nicht weg. Dass hier zum Zwang gegriffen wird, um die gesamte Anwaltschaft zum elektronischen Rechtsverkehr zu verpflichten, ist unbegreiflich und falsch.
plädoyer: Der Schweizerische Anwaltsverband geht noch weiter als der Gesetzesentwurf des Bundesrats und verlangt, dass das Obligatorium auch für Betreibungs- und Konkursverfahren gelten soll.
Münch: Das ist richtig so. Rechtsöffnungen und Konkursverfahren stellen einen grossen Teil des Massengeschäfts der erstinstanzlichen kantonalen Gerichte dar. Es braucht ein Obligatorium, um das Projekt zum Fliegen zu bringen. Anders geht es nicht.
Schnyder: Die Anwaltschaft ist keine schwerfällige Zunft, die zu ihrem Glück gezwungen werden muss. Sie sagen ja selbst, die Jungen würden nur noch digital arbeiten. Ich selbst bin 60 und nutze jede App, die sicher und komfortabel ist. Und funktioniert. Ich bin alles andere als ein Technikverweigerer. Einen Zwang braucht es nicht – ausser, um ein schlechtes System durchzupeitschen. Zudem wird mit einem Obligatorium die Verfassung auf mehrfache Weise verletzt. Der Staat braucht für jede Form von Zwang oder Eingriffe in Freiheitsrechte ein überwiegendes öffentliches Interesse. Worin liegt das öffentliche Interesse an einem Obligatorium? Das heutige System funktioniert gut. Das Obligatorium verletzt auch die Wirtschaftsfreiheit. Das vorgeschlagene Gesetz behandelt selbständige Anwälte anders als solche, die bei Firmen und Verbänden arbeiten, also nicht im Anwaltsregister eingetragen sind. Das Obligatorium beträfe sie nicht und behandelt sie somit besser als unabhängige Anwälte. Dazu kommt die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung: Laut Verfassung ist die Gerichtsorganisation Sache der Kantone. Aber gemäss Gesetzesentwurf müssen nicht alle 26 Kantone die Vereinbarung zum Betrieb der Plattform unterschreiben, damit sie dann über die zentrale Bundesverwaltung in Funktion tritt und obligatorisch genutzt werden muss.
Münch: Man könnte ja eine grosszügige Übergangsfrist einführen. Das würde Anwälten am Ende ihrer Karriere den Wechsel zur E-Justiz ersparen. Ohne das Obligatorium würde der Wechsel zur digitalen Justiz aber nicht rasch, sondern erst in Jahrzehnten stattfinden.
plädoyer: Laut Vorentwurf sollen alle Justizakten über eine zentrale Plattform übermittelt werden. Softwarelieferanten, Plattformbetreiber oder Hacker können alle Daten an einem Ort einsehen. Wie lässt sich dieses Risiko rechtfertigen?
Münch: Es ist noch nicht klar, was der Gesetzgeber will. Es ist denkbar, dass alle Akten zentral gespeichert werden. Oder aber, dass die Plattform nur als reiner Übermittler auftritt. Ist die zentrale Plattform ein Datenspeicher, wäre es für Hacker oder fremde Staatsakteure, aber auch für die eigenen Sicherheitsdienste tatsächlich hochlukrativ, die Daten einsehen zu können. Gerade auch, weil es keine permanente Verschlüsselung gibt. Eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist nämlich nicht vorgesehen. Die Daten sollen nur für die Übermittlung verschlüsselt werden. Sind die Dateien auf der Plattform, können Betreiber oder Dritte alles einsehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Das ist ein Problem und nicht «hochsicher», wie der Bundesrat behauptet.
Schnyder: Ich teile diese Bedenken. Eine zentrale Datenspeicherung birgt zu grosse Risiken. Das Gesetz schweigt dazu. Sollte ein zentraler Datenspeicher beabsichtigt sein, wären sehr starke Schutzmechanismen zu schaffen. Auch wenn die Daten nur übermittelt werden, braucht es zumindest eine permanente Verschlüsselung vom Absender bis zum Empfänger. Die laufende Ausschreibung von Justitia.Swiss sieht offenbar nicht einmal das vor.
Münch: Der Datenschutz wird in der Vorlage stiefmütterlich behandelt, er ist fast nicht existent. Dabei handelt es sich um wichtige Daten. Es wäre sogar ersichtlich, was ein Anwalt ungefähr umsetzt – samt Honorarnoten. Das wäre für die Steuerbehörden sicherlich von grossem Interesse. Bei einem solchen Datenreichtum muss genau festgelegt werden, welche Behörde auf welche Daten zugreifen darf beziehungsweise das technisch kann.
Schnyder: Darin sind wir uns zu hundert Prozent einig. Derart Wichtiges muss auf Gesetzesstufe geregelt werden.
plädoyer: Lässt sich nicht vorschreiben, dass nur gewisse Leute bestimmte Daten einsehen können?
Schnyder: Nein. Dann müsste man den Menschen komplett ausschalten. Ein Fahnder will einen Fall unbedingt aufdecken. Wenn er weiss oder vermutet, dass in einem anderen Dossier etwas Relevantes zu seinem Fall stehen könnte, dann schaut er früher oder später hinein. Es gibt jedoch nicht nur justizinterne Risiken. Vergessen wir nicht die grossen und mächtigen – staatlichen oder nichtstaatlichen – Unternehmen und Organisationen. Sie haben Mittel und Spezialisten, um an wertvolle Daten zu kommen.
plädoyer: Gregor Münch, warum sagt der Schweizerische Anwaltsverband zu all diesen Fragen in seiner 18-seitigen Stellungnahme zum Vorentwurf kein Wort?
Münch: Wir wissen noch nicht, wie die Lösung letzten Endes aussehen wird. Im Vorentwurf steht nichts dazu. Heikel ist: Die Gesetzesarbeiten sind noch im Gang und trotzdem arbeitet die Projektgruppe «Justitia 4.0» voll an der Plattform. Sie hat die Vergabe der Justizplattform im Sommer ausgeschrieben. Es ist rechtsstaatlich bedenklich, wenn sie mit der Ausschreibung Tatsachen schafft. Ändert der Gesetzgeber später die Funktion der Plattform, wird eine kostspielige Überarbeitung fällig. Und wenn der Gesetzgeber nicht mitzieht, weil die Opposition zu gross wird, haben wir das nächste IT-Millionengrab beim Bund.
Schnyder: Da bin ich einverstanden, nur die Wortwahl «heikel» ist mir zu schwach. Das Vorgehen ist ein No-Go. Wir steuern wieder auf ein Debakel zu. Ich verstehe nicht, warum der Schweizerische Anwaltsverband auf die Bedenken der kantonalen Verbände nicht eingeht. In allen Publikationen zu «Justitia 4.0» heisst es, alles passiere mit Unterstützung der Anwaltschaft. Das stimmt gar nicht.
Münch: Was mir im Entwurf fehlt, ist zum Beispiel die komplette Veröffentlichung von erstinstanzlichen Urteilen. Die werden meist gar nicht veröffentlicht. Das wäre eigentlich ein primäres Thema. Digitalisierung kann nicht bedeuten, dass bloss signierte PDFs ausgetauscht werden.
plädoyer: Das Bundesamt für Justiz rechnet mit 50 Millionen Franken für den Aufbau der digitalen Plattform und jährlichen Betriebskosten von 10 Millionen Franken. Alle Gerichte müssten ihre Infrastruktur ebenfalls aufbauen. In den Anwaltskanzleien fallen hohe Kosten an. Wer soll das bezahlen?
Schnyder: Diese Kostenrahmen werden nicht ausreichen. Die Berechnung der Kosten wurde auch nie transparent gemacht. Die Anwaltsdienstleistung wird mit Sicherheit teurer. Und die staatlichen Kosten müssen die Parteien oder die Steuerzahler übernehmen. Im erläuternden Bericht steht, für Anwälte ändere sich gar nichts, da sie bereits alles am Computer erledigen. Sie würden die Akten heute einfach ausdrucken und per Post versenden, mit der Änderung könnten sie dann alles einfach elektronisch zusenden. Diese Sicht ist falsch. Die zusätzlichen Kosten sind gar nicht wirklich analysiert, auch der Nutzen nicht – weder auf Anwaltsseite noch auf Gerichtsseite.
Münch: Ich sehe keine hohen Kosten auf die Anwaltschaft zukommen. Wir arbeiten schon heute weitgehend elektronisch. Datenspeicher kosten heute praktisch nichts mehr. Die grosse Mehrheit der Kanzleien verfügt über ein elektronisches Backup und hat eine sichere IT-Umgebung. Man könnte mit der Digitalisierung bei den Postausgaben und der Archivierung sogar sparen. Wenn die Zahlen des Bundes stimmen und es am Ende nicht um ein Vielfaches geht, dann sind diese Beträge für eine digitale Transformation der ganzen Schweizer Justiz verhältnismässig.
Schnyder: Beim Porto sehe ich nun wirklich kein Einsparpotenzial. Ein Blick in die Geschäftsbücherverordnung, die festlegt, wie man archivieren muss, zeigt hingegen: Hält man diese Voraussetzungen ein, generiert das Kosten. Die digitale Archivierung muss dauerhaft, unverfälscht und lesbar erfolgen und periodisch kontrolliert werden. Wenn ich mit 70 Jahren aufhöre zu arbeiten, trage ich bis 80 einen Fixkostenfaktor für die Person, die mir die Archivierung besorgt.
plädoyer: Wer am letzten Tag einer Frist eine Eingabe machen will, kann die Eingabe laut Entwurf am nächsten Tag nachreichen, falls die Plattform nicht funktioniert. Eine praktikable Lösung?
Münch: Ja, denn es reicht, die Nichterreichbarkeit der Plattform glaubhaft zu machen. Wichtig ist die Präzisierung im erläuternden Bericht, wonach die Nichterreichbarkeit nicht auf eine Störung an der Plattform selbst beschränkt ist, sondern an einem beliebigen Ort im Netzwerk auftreten kann.
Schnyder: Mit vernünftigem Aufwand kann ich das gar nicht glaubhaft machen. Das Problem kann bei der Plattform, an meinem Computer oder bei meinem Internetanbieter oder bei irgendeinem Drittanbieter oder bei irgendwelchen anderen Einflussfaktoren liegen. Man müsste das so ändern, dass jedes Risiko und jede Beweislast bei der Plattform lägen. Sie müsste die Erreichbarkeit beweisen.
Münch: Die Nichterreichbarkeit liesse sich durch einen Screenshot beweisen. Oder man macht ein Video und zeigt auf diesem Weg, dass die Plattform nicht zugänglich ist. Und: In solchen Fällen wäre eine postalische Eingabe zulässig. Die Behörde verlangt dann nur, dass Sie die Eingabe digital nachreichen.
Schnyder: Das ist wieder ein zusätzlicher Arbeitsgang, den man dem Anwalt zumutet. Diese Gesetzgebung liegt offenbar vor allem im Interesse des Staates und der Gerichte. Dann sollten die Lasten auch dort liegen.
plädoyer: Das Volk hat die elektronische ID abgelehnt. Ohne sie funktioniert der digitale Rechtsverkehr nicht. Gäbe es einen sinnvollen Ersatz?
Münch: Wir haben ja bereits das Bundesgesetz über die elektronische Signatur. Man könnte dieses Zertifikat verwenden.
Schnyder: Der richtige Weg wäre, wenn der Bund die elektronische ID selbst herausgibt. Ohne staatliche E-ID funktioniert die E-Justiz von Beginn weg nicht.
Roman Schnyder, 60, ist Advokat und Notar in Basel.
Gregor Münch, 45, ist Rechtsanwalt in Zürich und Mitglied der Fachgruppe Digitalisierung des Schweizerischen Anwaltsverbands.
Vorentwurf Digitale Justiz
Der Vorentwurf des Bundesgesetzes über die Plattform für die elektronische Justiz sieht vor, dass Zivil-, Straf- und Bundesverwaltungsbehörden die Akten künftig elektronisch führen. Anwälte und Behörden müssen Dokumente über eine elektronische Plattform austauschen. Bund und Kantone sollen diese über eine gemeinsame Körperschaft betreiben. Private dürfen weiterhin brieflich mit den Behörden kommunizieren. Viele Anwälte und Verbände reichten im Vernehmlassungsverfahren Stellungnahmen ein. Mit einem Entwurf zuhanden des Parlaments ist laut dem Justizdepartement nicht vor Ende 2022 zu rechnen.