Der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) bezeichnet das neue Polizei- und Justizzentrum (PJZ) Zürich als «Meilenstein für die Zusammenarbeit». Der 760 Millionen Franken teure Bau solle landesweit ein Vorbild für die Kooperation in der Strafverfolgung werden, sagt Fehr in einem Themenheft, das der Kanton in Zusammenarbeit mit der Architekturzeitschrift «Hochparterre» herausgab.
Tatsächlich sind die Wege im PJZ kurz: Neben der Kantonspolizei sind im Gebäude auch mehrere Staatsanwaltschaften, das Forensische Institut sowie das Gefängnis Zürich West untergebracht. Und: Mit dem Zwangsmassnahmengericht der Stadt Zürich ist an der Güterstrasse seit Juni 2022 auch die Judikative vertreten.
Die räumliche Nähe von dritter Staatsgewalt und Strafverfolgungsbehörden sehen Verteidiger und Strafrechtsexperten kritisch. «Vom äusseren Anschein her ist das alles andere als optimal», sagt der Zürcher Strafrechtsprofessor Marc Thommen. «Aus Sicht der Beschuldigten kann der Eindruck einer Abfertigungsmaschinerie entstehen.»
Eine Analyse der Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich (DJZ) zeigte jüngst, dass die Zürcher Zwangsmassnahmengerichte im Jahr 2021 in über 94 Prozent der Fälle Anträge der Staatsanwaltschaften auf Untersuchungshaft guthiessen. In anderen Kantonen sind die Zahlen ähnlich (plädoyer 5/2022). «In der Gesamtbetrachtung wirft dies die Frage auf, wie unabhängig die Zwangsmassnahmenrichter von den Staatsanwaltschaften sind», sagt Thommen. Die räumliche Nähe im PJZ sei nicht geeignet, derartige Bedenken zu zerstreuen – im Gegenteil.
Strafverteidiger haben keinen Zutritt zur Cafeteria
Die örtliche Nähe von Staatsanwaltschaften und Gerichten im Kanton Zürich ist kein Novum. In der Stadt Zürich waren einige Staatsanwaltschaften schon länger im Bezirksgebäude und damit im selben Bau wie das Zürcher Bezirksgericht beheimatet. Das Zwangsmassnahmengericht des Bezirksgerichts allerdings war vor dem Umzug ins PJZ räumlich getrennt an der Wengistrasse untergebracht.
Im Kanton Bern sind die Zwangsmassnahmengerichte vielerorts im gleichen Gebäude wie die Staatsanwaltschaften untergebracht, unter anderem in den Städten Bern, Biel und Thun.
«Der Umstand, dass zwischen Gerichten und Strafverfolgungsbehörden auch anderswo eine räumliche Nähe besteht, rechtfertigt nicht, dass man diesbezüglich bei Neubauten nicht sensibel ist», sagt Strafrechtsprofessor Thommen dazu. Gerade in einem neuen Gebäude wie dem PJZ, das den Verantwortlichen zufolge Vorbildcharakter haben soll, hätte man laut Thommen auf die Unabhängigkeit der Gewalten besonderes Augenmerk legen müssen.
Hinzu kommt: Das PJZ ist im Innern offen konzipiert. Ein Grossteil der Arbeitsplätze ist durch Glasscheiben einsehbar, die Cafeteria kann von den Mitarbeitern der verschiedenen Behörden gleichermassen genutzt werden – nicht aber von den externen Besuchern, zu welchen auch die Strafverteidiger zählen.
Die Zürcher Strafverteidigerin Tanja Knodel empfindet diesen Umstand als stossend. Sie erinnert sich an eine Verhandlung vor dem Zwangsmassnahmengericht im PJZ: «Richter und Staatsanwalt gingen gemeinsam in die Pause, das Personalrestaurant steht beiden offen. Mir war der Zutritt verwehrt, ich wartete mit meinem Klienten in der Abstandszelle.» Als Verteidigerin pflege sie die Verhandlungspausen zwar in der Regel ohnehin nicht mit den anderen Verfahrensparteien zu begehen. Die offenkundige Ungleichbehandlung der Parteien im PJZ habe sie jedoch irritiert.
Thomas Heeb, wie Knodel Strafverteidiger in Zürich, hat sich an einer Verhandlung vor dem Zwangsmassnahmengericht im PJZ die Frage gestellt, ob sich die Richter im Gebäude überhaupt «zu Hause» fühlen. «Die Büros sind nicht angeschrieben, niemand war auf den Gängen zu sehen. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Gerichtsmitglieder hier fremd fühlen.» Dies sei unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Unabhängigkeit durchaus relevant: «Einerseits besteht eine Nähe zwischen den Behörden, andererseits sind die Zwangsmassnahmenrichter im PJZ nur Untermieter und eine Art Gast der Strafverfolger», so Heeb. Sie seien damit räumlich nicht unabhängig und gleichzeitig auch weniger selbstsicher als im «eigenen Haus» – aus Verteidigersicht eine problematische Kombination.
Andere Kantone baulich sensibler als Zürich
Das Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Zürich gehört zur 10. Abteilung des Zürcher Bezirksgerichts. Die Richter bearbeiten in erster Linie die Geschäfte der Abteilung, zu welchen unter anderem Forderungen und Familienrechtsfälle gehören. Alle drei bis vier Wochen werden sie jeweils für eine ganze Woche am Zwangsmassnahmengericht eingesetzt, wobei sie dafür grundsätzlich im PJZ stationiert sind. Persönliche ständige Arbeitsplätze haben sie dort laut der Medienstelle des Bezirksgerichts Zürich nicht. Die richterliche Unabhängigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft sei aber «dank strikter räumlicher Trennung» – die Strafverfolgungsbehörden hätten keinen Zutritt zum Zwangsmassnahmengericht – «jederzeit und im gleichen Ausmass wie vor dem Umzug» gewahrt. Auch bestehe eine gänzlich voneinander unabhängige IT-Infrastruktur.
Jacqueline Fehr (SP), Vorsteherin der Justizdirektion des Kantons Zürich, weiss auch, dass die Unterbringung des Zwangsmassnahmengerichts im PJZ von einigen betroffenen Richtern unter dem Gesichtspunkt der Gewaltentrennung durchaus kritisch gesehen wurde. Die Unabhängigkeit des ZMG sieht die Regierungsrätin durch den Umzug jedoch nicht gefährdet, im Gegenteil: «Das PJZ ist im Innenbereich architektonisch offen und transparent ausgestaltet, die gegenseitige soziale Kontrolle ist gross. Alle sehen, wer sich mit wem trifft. Sollten Mitarbeitende der jeweiligen Behörden hier unstatthaft miteinander verkehren, fällt dies also viel stärker auf als früher. Das ist ein Fortschritt», sagt Fehr.
Gemäss Strafrechtsprofessor Thommen läuft diese Argumentation «ein Stück weit an der Realität vorbei». Denn es seien die Anwälte der Beschuldigten, die eine allfällige unstatthafte Nähe von Angehörigen der Strafverfolgungsbehörden und des Zwangsmassnahmengerichts kontrollieren sollten. «Und sie können ja eben nicht nachvollziehen, was im PJZ vor sich geht, wer sich mit wem in der Cafeteria trifft und so weiter.»
Es gibt auch Kantone, in welchen die Sensibilität für das Thema örtliche Unabhängigkeit durchaus vorhanden ist: Im Kanton Basel-Stadt zum Beispiel befinden sich Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte getrennt an verschiedenen Orten. Markus Mohler, ehemaliger Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt und ehemaliger Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten, sagt, dass er dies stets begrüsst habe: «Die Erfahrung zeigt klar: Allzu grosse räumliche Nähe ist der Gewaltentrennung nicht förderlich.»
In Appenzell Ausserrhoden “heute undenkbar”
Es ist eine Erkenntnis, zu der man auch in ländlicheren Kantonen gekommen ist: Walter Kobler, der Präsident des Obergerichts in Appenzell-Ausserrhoden, prägte im Laufe seiner Karriere die Gerichtsorganisation im Kanton massgeblich mit. Als er Mitte der Neunzigerjahre beim Kantonsgericht seine Arbeit aufnahm, gab es in räumlicher Hinsicht keine Gewaltentrennung. Staatsanwaltschaft, Kantonspolizei und Gerichte beider Instanzen befanden sich in einem Haus (plädoyer 4/2022).
Im Laufe der Jahre hat man die Behörden sukzessive entflechtet. Staatsanwaltschaft und Kantonspolizei arbeiten mittlerweile in Herisau, die Gerichte blieben voneinander getrennt in unterschiedlichen Gebäuden in Trogen. «Früher hatten Gerichte und Strafverfolgungsbehörden denselben Pausenraum – heute wäre das undenkbar. Wie sieht denn das für die Bürger von aussen aus?», so Kobler.
Das von Mario Fehr erwähnte Vorbild für die Zusammenarbeit in der Strafverfolgung ist hinsichtlich Gewaltentrennung vielleicht weniger im pompösen Zürcher PJZ als im beschaulichen Trogen zu finden.