Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Seit dem 1. Januar 2021 kann das Rechtsüberholen auf Autobahnen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen ausnahmsweise mit einer Ordnungsbusse von 250 Franken ohne Führerausweisentzug bestraft werden. Mit Blick auf die Risiken, die vom Rechtsüberholen ausgehen, ist jedoch laut Bundesgericht «eine enge Auslegung und zurückhaltende Anwendung der neuen Regelung angezeigt». Im konkreten Fall fand das Manöver am Tag, bei trockener Strasse, guten Sichtverhältnissen und schwachem Verkehrsaufkommen statt; zudem musste der überholte Lenker sein Fahrverhalten nicht ändern. Kein Führerausweisentzug und Busse von 250 Franken.
1C_626/2021 vom 3.11.2022
Ein Mann ersuchte das Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt, ihm seine dortige Personalakte der Jugendanwaltschaft sowie eine Patientenakte mit Behandlungsunterlagen, psychiatrischen Gutachten und Verlaufsberichten der Psychiatrischen Klinik herauszugeben oder diese Akten zu vernichten. Nach den Basler Behörden hat auch das Bundesgericht die Herausgabe oder die Vernichtung der Akten abgelehnt. Die Übergabe der Patientenakten und der Jugendpersonalakte an das Staatsarchiv greife zwar in die Privatsphäre ein, erweise sich jedoch als konventions- und verfassungsmässig. Die im Archivgesetz des Kantons Basel-Stadt vorgesehenen Schutzfristen und die Prüfung der Schutzwürdigkeit im Einzelfall würden den Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen bei persönlichkeitsbezogenen Daten und Persönlichkeitsprofilen erlauben.
2C_1024/2021 vom 2.11.2022
Ein Selbständigerwerbender belastete seinem Postkonto am Freitag, 29. Dezember 2017 (Tag der Abbuchung) rund 25 000 Franken zwecks Leistung eines Beitrages an die 3. Säule. Die Aargauer Steuerbehörden liessen den Abzug bei der Berechnung der Einkommenssteuer nicht zu; sie gingen davon aus, dass aus steuerrechtlicher Sicht die Säule-3a-Beiträge nicht rechtzeitig vor dem Jahreswechsel überwiesen worden waren. Vor Bundesgericht argumentierte der Betroffene, das Geld sei rechtzeitig einbezahlt worden. Der Tag der Abbuchung sei entscheidend, um als noch rechtzeitig im Kalenderjahr 2017 gelten zu können. Dem widerspricht das Bundesgericht: Entscheidend sei, dass der Betrag im betreffenden Kalenderjahr auf dem Vorsorgekonto gutgeschrieben werde. Erst dann könne ein Beitrag «ausschliesslich und unwiderruflich» der beruflichen Vorsorge des Betroffenen dienen und als tatsächlich geleistet gelten (Artikel 82 Absatz 1 des BVG).
2C_259/2022 vom 7.12.2022
Ein entlassener und freigestellter Arbeitnehmer klagte gegen den Arbeitgeber wegen missbräuchlicher Kündigung. Im Rahmen der Schlichtungsverhandlung verpflichtete sich der Arbeitgeber zur Zahlung von 25 000 Franken. In der Folge entstand ein Streit über die Frage, ob die Entschädigung zu versteuern ist oder zu den steuerfreien Einkünften gehört. Bereits die Waadtländer Justiz kam zum Schluss, dass die gemäss Artikel 336a OR ausgerichtete Entschädigung steuerlich in vollem Umfang als Genugtuungszahlung anzusehen ist. Die Entschädigung dient dem Zweck, den Arbeitnehmer für das Unrecht zu entschädigen, das er durch die missbräuchliche Entlassung erfahren hat. Gemäss Artikel 24 litera g des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer gehöre die Zahlung einer Genugtuung zu den steuerfreien Einkünften.
2C_546/2021 vom 31.10.2022
Die Solothurner Stimmberechtigten nahmen im Jahr 2020 eine Teilrevision des Gesetzes über die Kantonspolizei an. Neu eingefügt wurden Regelungen zur verdeckten Fahndung, zur automatisierten Fahrzeugfahndung und zu einem Flugverbot für private Drohnen etwa bei Polizeieinsätzen. Das Bundesgericht hat eine Beschwerde dagegen teilweise gutgeheissen und eine Bestimmung zur automatisierten Fahrzeugfahndung aufgehoben. Diese sah die systematische Erfassung der Kontrollschilder vorbeifahrender Fahrzeuge durch eine mobile oder stationäre Kamera vor. In den Augen der Lausanner Richter stellt dieses System einen schweren Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, weil es einen systematischen Abgleich mit allen polizeilichen Personen- und Sachfahndungsregistern zulässt und damit den Anwendungsbereich der automatisierten Fahrzeugfahndung nicht genügend einschränkt. Auch das generelle Flugverbot für Drohnen hat das Bundesgericht beanstandet. Ein solches Verbot ist nur bei Notfalleinsätzen zulässig.
1C_39/2021 vom 29.11.2022
SRF News veröffentlichte auf Instagram einen Beitrag zu Coronatests. Eine Frau brachte daraufhin einen Kommentar an, der von der SRF-News-Redaktion wenige Stunden später wegen angeblicher Verletzung der «Netiquette» gelöscht wurde. Die Autorin des Kommentars gelangte dagegen zunächst an die Ombudsstelle, welche die Beanstandung nicht weiter behandelte. Auf die dagegen erhobene Beschwerde der Autorin trat die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen nicht ein. Das ist laut Bundesgericht nicht zulässig. Mit der Löschung von Kommentaren oder dem individuellen, vorübergehenden oder dauernden Ausschluss von Personen von der Kommentarfunktion greife die SRG in die Meinungsäusserungsfreiheit der Betroffenen ein. Dagegen müsse ein Rechtsweg offenstehen, der den Anforderungen von Artikel 29a der Bundesverfassung genügt. Dies umso mehr, als zivil- oder strafrechtliche Rechtsmittel in diesem Zusammenhang nicht hinreichend wirksam seien. Nach einem Schlichtungsversuch bei der Ombudsstelle SRG ist eine Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz möglich. Inzwischen hat die Ombudsstelle festgestellt, dass der Kommentar nicht gegen die «Netiquette» verstiess und nicht hätte gelöscht werden dürfen.
2C_1023/2021 vom 29.11.2022
Zivilrecht
Die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege setzt voraus, dass eine Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt. Dabei sind – im Rahmen einer umfassenden Mitwirkungsobliegenheit – die Einkommens- und Vermögensverhältnisse darzulegen. In der Lehre ist umstritten, ob allein aus dem Bezug von Sozialhilfe auf die armenrechtliche Mittellosigkeit geschlossen werden kann. Das Bundesgericht hat nun entschieden, dass eine Bestätigung über den Bezug von Sozialhilfeleistungen für sich allein nicht genügt, um die Bedürftigkeit zu beweisen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass für Sozialhilfebezüger bei der zivilprozessualen Einkommens- und Notbedarfsberechnung Überschüsse resultieren, welche zur Deckung der Prozesskosten aufgewendet werden könnten. Zudem sei die Gerichtsbehörde bei der Beurteilung der zivilprozessualen Bedürftigkeit nicht bedingungslos an den Entscheid einer Verwaltungsbehörde über sozialrechtliche staatliche Unterstützungsleistungen gebunden.
4A_333/2022 vom 9.11.2022
Der Dispositionsgrundsatz ist Ausdruck der Privatautonomie und besagt, dass das Gericht einer Partei nicht mehr und nichts anderes zusprechen darf, als sie verlangt, und nicht weniger, als die Gegenpartei anerkannt hat (Artikel 58 Absatz 1 ZPO). In diesem Zusammenhang stellte sich dem Bundesgericht die Frage, ob es in einem Eheschutzprozess zulässig ist, den Betreuungsunterhalt für das Kind zu reduzieren und die dadurch frei werdenden Mittel neu für den Ehegattenunterhalt zu verwenden, obwohl die unterhaltsberechtigte Ehefrau den erstinstanzlichen Entscheid nicht anfocht. Bereits vor einiger Zeit entschied das Bundesgericht, dass die umgekehrte Ausgangslage – Reduktion des Ehegattenunterhalts zugunsten des Kindesunterhalts – zulässig ist (5A_112/2020 vom 28. März 2020 E.2.3). In einem neuen Urteil lässt das Bundesgericht die Reduktion des Betreuungsunterhalts für das Kind zugunsten des Ehegattenunterhalts ebenfalls zu – jedenfalls dann, wenn die Ehegattin dadurch insgesamt nicht besser gestellt wird als im erstinstanzlichen Entscheid.
5A_60/2022 vom 5.12.2022
Strafrecht
Nach Artikel 333 Absatz 1 StPO gibt das Gericht der Staatsanwaltschaft Gelegenheit, die Anklage zu ändern, wenn nach seiner Auffassung der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen anderen Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht. Mit dieser Bestimmung wird verhindert, dass schwere Straftaten mit einem Freispruch enden, nur weil sich bei der Beweisaufnahme vor Gericht eine mögliche neue Tatvariante ergibt. In der Lehre wird vereinzelt diskutiert, ob Artikel 333 Absatz 1 StPO über seinen klaren Wortlaut hinaus auch Anwendung finden soll, wenn die Anklage innerhalb des angeklagten Straftatbestands geändert werden soll. Dieser Auffassung hat das Bundesgericht nun jedoch eine Absage erteilt; Artikel 333 Absatz 1 StPO sei eng auszulegen. Im Gerichtsverfahren gelte grundsätzlich das Immutabilitätsprinzip, welches besagt, dass das Gericht an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden ist. «Die Unterlassung der Staatsanwaltschaft, in der Anklageschrift alle tatsächlichen Feststellungen darzulegen, aus denen sich allenfalls die Pflichtwidrigkeit des inkriminierten Verhaltens ergeben könnte, kann somit nicht zur Verpflichtung des Gerichts führen, ihr Gelegenheit zur Anklageänderung zu geben.»
6B_171/2022 vom 29.11.2022
Sozialversicherungsrecht
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt trat nach Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und nach durchgeführtem Schriftwechsel wegen örtlicher Unzuständigkeit nicht auf eine Beschwerde ein und überwies die Sache zuständigkeitshalber an das Thurgauer Verwaltungsgericht. Dieses teilte der Anwältin in der Folge mit, die unentgeltliche Rechtsverbeiständung könne grundsätzlich nur im Anwaltsregister des Kantons Thurgau eingetragenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten bewilligt werden. Dagegen wehrte sich die Anwältin vor Bundesgericht mit dem Argument, die Sache sei bei der Überweisung an das Thurgauer Verwaltungsgericht spruchreif und der Rechtsschriftenwechsel sei abgeschlossen gewesen. Es widerspreche der Prozessökonomie, dem Gutglaubensschutz und dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, wenn ihr Mandant für das restliche Verfahren noch eine im Thurgauer Anwaltsregister eingetragene Rechtsverbeiständung suchen müsse. Das Bundesgericht ist dieser Argumentation gefolgt und hat den Kanton Thurgau dazu verpflichtet, die Anwältin als unentgeltliche Rechtsvertreterin zu akzeptieren.
8C_374/2022 und 8C_421/2022 vom 5.12.2022