Staats-/Verwaltungsrecht
Der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt erliess 2021 ein partielles Bettelverbot. Unter anderem wurde verboten, in organisierter Art und Weise zu betteln. Zudem wurden das aggressive Betteln und das Betteln an bestimmten Orten wie Haltestellen des öffentlichen Verkehrs, Restauranteingängen, Parks, Spielplätzen und Friedhöfen verboten. Das Bundesgericht hat eine Beschwerde gegen dieses partielle Verbot teilweise gutgeheissen und das Bettelverbot in Parks aufgehoben. Es lässt sich nicht durch ein überwiegendes öffentliches Interesse rechtfertigen. Die angedrohten Bussen – bei passivem Betteln 50 Franken – sind nur dann grundrechtskonform, wenn zuvor mildere Massnahmen zur Durchsetzung des Bettelverbots ergriffen wurden. Denn bei den meist mittellosen Personen, ist die Busse oft ein Zwischenschritt zum Freiheitsentzug.
1C_537/2021 vom 13.3.2023
Das Zürcher Stimmvolk nahm 2021 in einer Referendumsabstimmung ein Verbot von Elektroheizungen und -boilern an. Solche Geräte müssen bis Ende 2030 grundsätzlich ersetzt werden. Vorsätzliche Zuwiderhandlungen werden mit Bussen bis zu 20'000 Franken bestraft. Zwei Personen erhoben Beschwerde ans Bundesgericht und führten an, das Gesetz verstosse gegen die Eigentumsgarantie. Ohne Erfolg. Angesichts des drohenden Stromengpasses dienen die Massnahmen dem Umweltschutz und der genügenden Elektroversorgung. Sie liegen im öffentlichen Interesse. Das Verbot erweise sich als verhältnismässig, da der Bund bereits 1990 eine strenge Bewilligungspflicht für Elektroheizungen einführte und die Anlagen nun das Ende ihrer üblichen Lebensdauer erreicht haben. Im Übrigen gilt das Verbot nicht absolut. Ob allenfalls eine Entschädigung wegen Enteignung in Frage kommt, ist im konkreten Einzelfall zu entscheiden.
1C_37/2022 vom 23.3.2023
Ein im Kanton Aargau wohnhafter Mann ist Eigentümer eines Landwirtschaftsgrundstücks im Kanton Wallis mit einem Steuerwert von 151 Franken. Die dortige Gemeinde erhob für das Steuerjahr 2019 eine Minimalgrundsteuer von 25 Franken statt der effektiven Grundstücksteuer von 15 Rappen (1 Promille des Steuerwerts). Diese Minimalgrundsteuer von 25 Franken wird nur von Auswärtigen eingefordert, die nicht in der Gemeinde wohnen. Einheimische zahlen immer nur 1 Promille des Steuerwerts. Das Bundesgericht hat diese Ungleichbehandlung im Walliser Steuergesetz (Artikel 181 Absatz 2) als bundesrechtswidrig bezeichnet. Sie sei sachlich nicht zu rechtfertigen und verstosse gegen Artikel 8 BV.
2C_340/2022 vom 20.3.2023
In einem Strafverfahren wegen Nötigung gegen zwei Aktivistinnen der Organisation «Extinction Rebellion» hatte die Zürcher Staatsanwaltschaft beim Obergericht ein Ausstandsgesuch gegen Bezirksrichter Roger Harris gestellt. Grund: Harris habe in einem Parallelverfahren, bei dem es zu einem Freispruch kam, den Eindruck erweckt, er werde in künftigen Fällen ohne Rücksicht auf die Umstände gleich entscheiden. Als das Obergericht das Gesuch guthiess, riefen die beiden Aktivistinnen das Bundesgericht an. Es hiess die Beschwerde gut und schickte den Fall zur Neuentscheidung zurück: Bei einem Ausstandsgesuch ist die Behörde verpflichtet, die Gegenpartei ins Verfahren einzubeziehen. Das war unterblieben.
1B_10/2023, 1B_643/2022, 1B_645/2022 vom 6.4.2023
Zivilrecht
Gemäss Artikel 650 Absatz 1 ZGB hat jeder Miteigentümer das Recht, die Aufhebung des Miteigentums zu verlangen. Können sich die Miteigentümer über die Art der Aufhebung nicht einigen, wird nach Anordnung des Gerichts körperlich geteilt oder, wenn dies ohne wesentliche Verminderung des Wertes nicht möglich ist, öffentlich oder unter Miteigentümern versteigert. In der Lehre wird die öffentliche Versteigerung nach Artikel 651 Absatz 2 ZGB nicht als Zwangsversteigerung gemäss SchKG verstanden. Vielmehr liegt es am Teilungsgericht, die Steigerungsbedingungen festzulegen. Das Bundesgericht stützt in seinem Grundsatzentscheid diese Auffassung und wies eine Beschwerde ab.
5A_784/2021, 5A_793/2021 und 5A_794/2021 vom 27.2.2023
Will der Betriebene Rechtsvorschlag erheben, muss er dies sofort dem Überbringer des Zahlungsbefehls mitteilen oder innert zehn Tagen dem Betreibungsamt mitteilen. Der Rechtsvorschlag kann formfrei erklärt werden. Auch ein Rechtsvorschlag per Telefon oder Fax – und wie jetzt das Bundesgericht entschieden hat – per E-Mail ist gültig. Allerdings gilt bei E-Mail-Eingaben ein strenges Empfangsprinzip und es bestehen erhebliche Beweisrisiken. Angesichts der mangelnden Zuverlässigkeit des elektronischen Verkehrs sollte vom Empfänger eine Bestätigung verlangt werden. Es gilt das Regelbeweismass der vollen Überzeugung. Diesen Beweis konnte der Kanton Basel-Landschaft in einem gegen den Kanton geführten Betreibungsverfahren über 70 Millionen Franken nicht erbringen, weil ein an sich rechtzeitig abgeschicktes E-Mail des Kantons beim Betreibungsamt nicht mehr auffindbar war. Im konkreten Fall war deshalb von einem unterbliebenen Rechtsvorschlag auszugehen.
5A_514/2022 vom 28.3.2023
Strafrecht
Ein gebürtiger Tibeter war 2012 in die Schweiz geflüchtet und wurde vorläufig aufgenommen. Wegen Diebstahls, Hehlerei, Raub und weiteren Delikten wurde der Mann zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt. Das Gericht sprach zusätzlich eine Landesverweisung von acht Jahren aus, wobei er in «ein Land mit Ausnahme der Volksrepublik China» auszuweisen sei. Das Bundesgericht bezeichnet diesen Ausweisungsentscheid als bundesrechtswidrig. Die Ausweisung in ein Drittland setze voraus, dass sie auch tatsächlich möglich ist, die betroffene Person also über eine Aufenthaltsbewilligung in einem Drittland verfügt. Im konkreten Fall ist nicht bekannt, ob der Mann in einem anderen Land als China eine Aufenthaltsbewilligung erlangen könnte.
6B_627/2022 vom 6.3.2022
Sozialversicherungsrecht
Eine junge Frau wurde 2016 aus der Wohnung ihrer Mutter in Weinfelden TG gewiesen, worauf sie sich bei der Einwohnerkontrolle nach «Unbekannt» abmeldete. Sie hielt sich in der Folge bei Bekannten in Frauenfeld und Niederhelfenschwil SG auf. 2017 trat sie im Hinblick auf eine Geburt ins Kantonsspital Münsterlingen TG ein, wobei sie angab, ohne Wohnsitz zu sein und aktuell keine Leistungen der Krankenkasse beziehen zu können. Der Spitalaufenthalt kostete schliesslich 38 500 Franken. Die Thurgauer Justiz entschied auf Gesuch der Spital Thurgau AG, dass die Gemeinde Münsterlingen als Aufenthaltsgemeinde eine subsidiäre Kostengutsprache zu erteilen habe. Das Bundesgericht schützte dieses Vorgehen. Da die junge Frau im Zeitpunkt des Spitaleintritts weder über einen Wohnsitz noch über einen fürsorgerechtlichen Unterstützungswohnsitz verfügte, muss sie vom Aufenthaltsort und im konkreten Fall von der Standortgemeinde des Spitals unterstützt werden.
8C_293/2021 vom 1.3.2023
Analog zur Verzugszinspflicht im Privatrecht (Artikel 104 OR) besteht auch im Verwaltungsrecht ein Rechtsgrundsatz, wonach der Schuldner Verzugszins zu bezahlen hat, wenn er mit der Zahlung in Verzug ist. Dies gilt auch im Berufsvorsorgerecht. Was die Höhe anbetrifft, ist hier in erster Linie das Reglement massgebend. Fehlt eine Regelung, kommt Artikel 104 Absatz 1 OR zur Anwendung, wonach ein Verzugszins von 5 Prozent geschuldet ist. Unzulässig ist es, im Reglement bei rückwirkender Rentenausrichtung Verzugszins zu verweigern. Der Verzugszins darf den BVG-Mindestzinssatz (zurzeit 1 Prozent; Artikel 12 litera j BVV2) nicht unterschreiten.
9C_165/2022 vom 16.3.2023
Im Urteil 139 V 108 hat das Bundesgericht entschieden, dass die durch einen Versicherungsfall verursachten Anwaltskosten in die Überentschädigungsberechnung gemäss Artikel 69 Absatz 2 ATSG miteinbezogen werden dürfen. Kürzlich stellte sich dem Bundesgericht die Frage, ob solche Mehrkosten auch im Rahmen der Berechnung der UVG-Komplementärrente im Sinne von Artikel 20 Absatz 2 UVG zu berücksichtigen sind. Das Opfer eines Gewaltverbrechens verlangte, dass Anwaltskosten in der Höhe von fast 28 000 Franken bei der Komplementärberechnung zu berücksichtigen sind. Es argumentierte, Artikel 69 ATSG enthalte die allgemeinen Wertvorstellungen des Gesetzgebers, Artikel 20 UVG stelle lediglich eine singuläre Ausnahme dar. Fürs Bundesgericht besteht hingegen keine Gesetzeslücke und kein triftiger Grund, Anwaltskosten entgegen dem klaren Gesetzeswortlaut in die Komplementärrechnung im Sinne von Artikel 20 UVG einzubeziehen.
8C_382/2022 vom 27.3.2023