1. Einleitung
Die Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO)2 ist am 1. Januar 2011 in Kraft getreten. Nach etwas mehr als sechseinhalb Jahren kann heute – ohne dem Nachfolgenden vorgreifen zu wollen – festgestellt werden, dass sich die ZPO insgesamt in der Praxis bewährt hat. So wurde das Gesetz entweder als Ganzes oder zumindest in Teilen als Erfolgsmodell3 oder Zukunftsmodell4 bezeichnet. Dessen ungeachtet hat die ZPO seit ihrem Erlass bereits zahlreiche Anpassungen erfahren. Die Zeiten (und der Zeitgeist!) haben sich seit Justinian oder Napoleon, die ihren Gesetzen bekanntlich ewigen Bestand zuerkannten, zweifellos geändert.
Auf Initiative und Auftrag des Parlaments laufen derzeit Revisionsarbeiten an der ZPO mit dem Ziel, deren Praxistauglichkeit weiter zu verbessern.5 Im Folgenden sollen diese Arbeiten zur Entwicklung eines entsprechenden Revisionsvorentwurfs vorgestellt und einige Punkte und Fragen herausgegriffen und erläutert werden. Nach derzeitigem Stand ist zu erwarten, dass der Bundesrat Anfang 2018 die Vernehmlassung über einen Vorentwurf zur Anpassung der ZPO eröffnen wird.
2. Bisherige Anpassungen
Als eines von ganz wenigen Bundesgesetzen wurde die ZPO bereits vor ihrem Inkrafttreten revidiert:6 Durch die Revision des Zivilgesetzbuchs (Bedenkzeit im Scheidungsverfahren auf gemeinsames Begehren),7 das neue Erwachsenenschutzrecht (Änderung des Zivilgesetzbuches; Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht)8 sowie den Bundesbeschluss zur Umsetzung des Lugano-Übereinkommens 20079 wurde die ZPO bereits vor Inkrafttreten angepasst.10
Seit dem Inkrafttreten hat die ZPO mittlerweile durch nicht weniger als zehn Vorlagen zahlreiche Anpassungen unterschiedlicher Tragweite erfahren, die sich inhaltlich grob in vier Kategorien aufteilen lassen. Diese Aufteilung erscheint insofern bemerkenswert, als sich daraus auch gewisse Grundzüge ableiten lassen, die laufende und sogar zukünftige Anpassungen und Revisionen prägen dürften.
2.1 Allgemeines Verfahrensrecht
Als erste «materielle» Anpassung der ZPO seit ihrem Inkrafttreten wurden per 1. Mai 2013 die Protokollierungsvorschriften angepasst, indem die Möglichkeiten der technischen Aufzeichnung von Zeugeneinvernahmen, Einvernahmen von Gutachtern sowie (förmlichen) Parteibefragungen und Beweisaussagen durch eine Änderung von Art. 176 ZPO flexibilisiert und erweitert wurden.11 Gleichzeitig wurde Art. 160 Abs. 1 lit. b ZPO betreffend Editionsverweigerungsrecht für dem anwaltlichen Berufsgeheimnis unterliegende Dokumente durch das Bundesgesetz über die Anpassung von verfahrensrechtlichen Bestimmungen zum anwaltlichen Berufsgeheimnis vom 28. September 2012 «rein redaktionell»12 angepasst.13 Mit der Totalrevision des Bundesgesetzes über die elektronische Signatur (ZertES)14 wurden die Bestimmungen über die Form und die Zustellung im elektronischen Rechtsverkehr in Art. 130, 139 und 143 ZPO revidiert und vereinheitlicht mit dem Ziel, den elektronischen Rechtsverkehr mit den Justizbehörden zu erleichtern und zu fördern, indem Rechtsunsicherheiten geklärt wurden.15 Die angepassten Bestimmungen sind auf den 1. Januar 2017 in Kraft getreten.
2.2 Familienverfahrensrecht
Das materielle Familienrecht war in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher und bedeutender Revisionsvorhaben, und es zeichnet sich ab, dass dieser Revisionsprozess noch weitergehen wird.16 Die per 1. Januar 2017 in Kraft getretene Revision des Kindesunterhaltsrechts hat zu Anpassungen in Art. 166 Abs. 1 lit. d ZPO (Mitwirkungsverweigerungsrecht für Ehe- oder Familienberaterin oder -berater), in Art. 198 lit. bbis ZPO (Wegfall Schlichtungsverfahren bei Klagen über Unterhalt und weitere Kinderbelange, wenn vorher bereits Kindesschutzbehörde angerufen wurde), in Art. 218 Abs. 2 ZPO (Ausdehnung des Anspruchs auf unentgeltliche Mediation auf sämtliche kinderrechtlichen Angelegenheiten) sowie umfassende Anpassungen in den Bestimmungen zu den Kinderbelangen in familienrechtlichen Angelegenheiten von Art. 299–304 ZPO bezüglich Vertretung des Kindes und deren Kompetenzen, Eröffnung des Entscheides und insbesondere Pflicht zur Angabe der massgeblichen Berechnungsgrundlagen von Unterhaltsbeiträgen in Entscheiden (neu Art. 301a ZGB) geführt.17
Durch die ebenfalls auf den 1. Januar 2017 erfolgte Neuregelung des Vorsorgeausgleichs bei Scheidung wurden sodann die Bestimmungen des Scheidungsverfahrens von Art. 280 ZPO (Genehmigung von Vereinbarungen über die berufliche Vorsorge), Art. 281 ZPO (Fehlende Einigung über den Vorsorgeausgleich), Art. 283 Abs. 3 ZPO (Möglichkeit eines separaten Verfahrens betr. Vorsorgeansprüche im Ausland) und Art. 284 Abs. 1 ZPO (Anpassung Verweise bei Änderung rechtskräftig entschiedener Scheidungsfolgen) angepasst.18
Auch die Revision des Adoptionsrechts, mit der im Kern die Stiefkindadoption auch Paaren in einer eingetragenen Partnerschaft oder einer faktischen Lebensgemeinschaft offenstehen wird und allgemein die Adoptionsvoraussetzungen gelockert werden, führt zu einer Anpassung der ZPO (Neuregelung der Kinderbelange in Verfahren bei eingetragener Partnerschaft, neu Art. 307a ZPO).19 Diese Änderung wird auf den 1. Januar 2018 in Kraft treten.
2.3 Zuständigkeit der Zivilgerichte
Im Zuständigkeitsrecht haben sich seit Inkrafttreten bereits verschiedene Anpassungen ergeben, die alle wirtschaftsrechtlicher Natur sind. Mit Inkrafttreten der Revision des Börsengesetzes am 1. Mai 2013 wurde die Bestimmung von Art. 41 ZPO betreffend Zuständigkeit der Zivilgerichte am Sitz der Zielgesellschaft für Stimmrechtssuspendierungsklagen gestrichen.20 Umgekehrt wurden weitere Streitigkeiten der Zuständigkeit der einzigen kantonalen Instanz gemäss Art. 5 ZPO unterstellt;21 mit der am 1. Januar 2017 in Kraft getretenen Totalrevision des Wappenschutzgesetzes gilt dies gemäss Art. 5 Abs. 1 lit. i ZPO auch für Streitigkeiten nach diesem und verwandten Gesetzen.22
2.4 “Redaktionelle Anpassungen”
Eine letzte Kategorie von bereits erfolgten Anpassungen an der ZPO betrifft sogenannt «(rein) redaktionelle Anpassungen», also Gesetzesänderungen, mit denen der Gesetzgeber meist nach ausdrücklich geäussertem Willen keine inhaltliche Veränderung der Rechtslage bewirken will. Dieser Gedanke liegt denn auch verschiedenen Anpassungen zugrunde, die im Rahmen einer (punktuellen) Revision des SchKG über die gewerbsmässige Vertretung im Zwangsvollstreckungsverfahren erfolgt sind und per 1. Januar 2018 in Kraft treten werden.23
Inhaltlich werden damit Anpassungen an Art. 198 lit. d ZPO, Art. 229 Abs. 1 lit. a ZPO (Korrektur der allseits kritisierten Regelung,24 wonach nicht nur nachträglich entstandene Tatsachen und Beweismittel echte Noven sind), Art. 230 Abs. 1 lit. b und Art. 317 Abs. 2 lit. b ZPO, Art. 250 lit. c ZPO, Art. 258 Abs. 1 erster Satz ZPO (französische Fassung) und Art. 305 Einleitungssatz ZPO vorgenommen.
3. Parlamentarische Aufträge
Die laufenden Revisions- und Anpassungsarbeiten an der ZPO beruhen auf entsprechenden parlamentarischen Aufträgen, die allesamt mit klaren Mehrheiten überwiesen wurden. Allen Aufträgen ist gemeinsam, dass sie inhaltlich bewusst (ergebnis-) offen gehalten sind und insbesondere keine spezifischen Aufträge zur Anpassung ganz bestimmter Regelungen in der ZPO enthalten.
3.1 Motion der Rechtskommission des Ständerats
Im Zentrum steht die Motion 14.4008 der Rechtskommission des Ständerats (nachfolgend: RK-S) «Anpassung der Zivilprozessordnung» vom 17. November 2014.25 Damit wird der Bundesrat beauftragt, dem Parlament «nach einer Prüfung der Praxistauglichkeit der geltenden Zivilprozessordnung die erforderlichen Gesetzesanpassungen bis Ende 2018 zu beantragen». Mangels weiterer Begründung kann diesbezüglich auf zwei andere Vorstösse abgestellt werden.
Zum einen auf die Motion 14.3383 RK-S «Anpassung der Strafprozessordnung» vom 15. Mai 2014,26 welche dem Bundesrat für die StPO exakt den gleichen Auftrag erteilt. Hintergrund dieses Vorstosses war wiederum die Erkenntnis, dass nach Inkrafttreten der zwei eidgenössischen Verfahrensordnungen eine Vielzahl von Vorstössen zu einzelnen Themen oder gar Artikeln eingereicht wurde.27
3.2 Postulat Vogler: Revisionsbedarf aufzeigen
Zum andern ist auf das Postulat 14.3804 Vogler «Zivilprozessordnung. Erste Erfahrungen und Verbesserungen» vom 24. September 2014 28 abzustellen, welches den Bundesrat «beauftragt, in Zusammenarbeit mit den Kantonen, den Gerichten sowie den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten und weiteren Stakeholdern zu prüfen und in einem Bericht darzulegen, wie eine erste Zwischenbilanz zur ZPO ausfällt, und gestützt darauf aufzuzeigen, wie bereits heute erkannte Mängel und Schwachpunkte beseitigt werden können und das Zivilprozessrecht weiter vereinheitlicht und verbessert werden kann».
Der Begründung des Postulats 14.3804 Vogler ist bezüglich Inhalt immerhin zu entnehmen, welche Punkte nach Auffassung des Parlaments auf ihre Praxistauglichkeit und damit auf ihre Anpassungsbedürftigkeit zu prüfen sind: «Dabei ist der bereits geäusserten Kritik, namentlich im Bereich der Handelsgerichtsbarkeit, des Noven- und Kostenrechts, der Parteivertretung, der Rechtsmittel sowie des elektronischen Rechtsverkehrs, besonders Rechnung zu tragen und möglicher Revisionsbedarf aufzuzeigen.»
3.3 Motion Birrer-Heimo: Kollektiver Rechtsschutz
Neben den genannten Aufträgen ist ein weiterer parlamentarischer Auftrag zu erfüllen, der im Kern eine Anpassung der ZPO verlangt und daher vorliegend ebenfalls von Bedeutung ist: Die Motion 13.3931 Birrer-Heimo «Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung» vom 27. September 2013 29 verlangt vom Bundesrat «die Ausarbeitung der notwendigen Gesetzesänderungen, die es einer grossen Anzahl gleichartig Geschädigter erleichtern, ihre Ansprüche gemeinsam vor Gericht geltend zu machen. Es sollen einerseits die bereits bestehenden Instrumente ausgebaut und andererseits auch neue Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes geschaffen werden. Deren Ausgestaltung trägt den spezifischen schweizerischen Gegebenheiten sowie der Verhinderung von Missbräuchen Rechnung und orientiert sich an den Erfahrungen, die in anderen europäischen Ländern mit solchen Modellen gesammelt wurden.»
Bemerkenswerterweise wurde auch diese Motion von beiden Räten oppositionslos angenommen, nachdem der Bundesrat die Annahme empfohlen hatte. Inhaltlich geht die Motion auf den Bericht «Kollektiver Rechtsschutz in der Schweiz – Bestandesaufnahme und Handlungsmöglichkeiten» des Bundesrats vom 3. Juli 2013 zurück.30 Darin lieferte der Bundesrat eine breit angelegte Untersuchung der Möglichkeiten der kollektiven Rechtsdurchsetzung insbesondere von sogenannten Massen- und Streuschäden, bei denen es um die (gerichtliche) Durchsetzung von (Schadenersatz-)Ansprüchen einer Vielzahl von gleich oder gleichartig geschädigten Personen geht.31 Der Bundesrat beschränkte sich in diesem Bericht bewusst auf die Bestandesaufnahme und Skizzierung möglicher Massnahmen zur Verbesserung der Möglichkeiten des kollektiven Rechtsschutzes, insbesondere die Erweiterung des sachlichen und inhaltlichen Anwendungsbereichs der Verbandsklage, aber auch die Schaffung neuer Instrumente der echten kollektiven Rechtsdurchsetzung wie z. B. eines Gruppenvergleichsverfahrens.
Nachdem sich der Bundesrat angesichts der Ablehnung seiner Vorschläge zur Schaffung eines Gruppenvergleichsverfahrens sowie einer erweiterten Verbandsklage im Bereich der Finanzdienstleistung32 gegen einen sektoriellen Ansatz und für eine horizontale sektorübergreifende Umsetzung ausgesprochen hat,33 stehen bei der Umsetzung Vorschläge für Anpassungen der ZPO im Zentrum. Allein schon deswegen, aber auch aus rein zeitlichen Überlegungen spricht vieles dafür, die Umsetzung der Motion 13.3931 Birrer-Heimo zusammen mit den allgemeinen Anpassungsarbeiten an der ZPO gemäss Motion 14.4008 RK-S vorzunehmen. Dafür sprechen aber auch inhaltliche Gründe, zumal sich die beiden Vorstösse in zentralen Anliegen durchaus überschneiden, wenn nicht sogar decken, wie nachfolgend noch zu zeigen sein wird (vgl. hinten Ziffer 4.4).
4. Laufende Revisionsarbeiten
4.1 Vorfrage der Praxistauglichkeit der ZPO
Ausgangspunkt und erster Schritt der laufenden Revisionsarbeiten zur Anpassung der ZPO bildet somit die Prüfung der Praxistauglichkeit der ZPO, wie sie die Motion 14.4008 und das Postulat 14.3804 verlangen (vgl. dazu vorne Ziffer 3.1 und 3.2). Gemäss Auftrag sollte dies in Zusammenarbeit mit den Stakeholdern, das heisst vorab mit den Kantonen, den Gerichten sowie den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten und weiteren Stakeholdern erfolgen.
Wie schon eingangs erwähnt, steht die Praxistauglichkeit der ZPO zum heutigen Zeitpunkt nicht ernsthaft in Frage – jedenfalls nicht insgesamt oder grundsätzlich. Dieser Befund bestätigte sich auch im Austausch mit den Stakeholdern, die das Bundesamt für Justiz zu dieser Frage und damit verbunden zur Frage des Anpassungsbedarfs führte. Zu diesem Zweck fanden Gespräche mit Vertretern der kantonalen Gerichte, des Schweizerischen Anwaltsverbands, der Zivilprozessrechtslehrerinnen und -lehrer sowie des Bundesgerichts statt. Allenfalls folgen bis zur Eröffnung der Vernehmlassung weitere Gespräche.
Daraus wurde deutlich, dass die ZPO im Alltag aller Anwenderinnen und Anwender ein praktikables Gesetz ist.
Entscheidend dafür waren die Entwicklung der Praxis und der Rechtsprechung seit ihrem Inkrafttreten, die beide zweifellos stark, wenn auch unterschiedlich, vom früheren kantonalen Recht geprägt bleiben. So sind bis heute die bekannten kantonalen Unterschiede auszumachen. Nach etwas mehr als sechseinhalb Jahren Praxis mit der ZPO besteht kein Bedürfnis nach tiefgreifenden Anpassungen. Im Gegenteil – überwiegend herrscht die Meinung vor, dass es dafür zu früh ist und sich heute noch offene oder unklare Punkte auf der Grundlage einer längerdauernden Praxis klären werden.
Für gesetzgeberischen Aktivismus besteht somit derzeit kein Anlass. Dennoch besteht durchaus Bedarf nach punktuellen Anpassungen der ZPO, sodass das Anliegen des Parlaments weder voreilig oder rein politisch motiviert noch überflüssig erscheint. Vielmehr können und sollen bereits erkannte Schwachpunkte angegangen und hoffentlich auch gelöst werden. Auf einige dieser Punkte soll nun im Folgenden etwas genauer, jedoch nicht abschliessend eingegangen werden.
Zur Ermittlung der Praxistauglichkeit hat das Bundesamt für Justiz im Zeitraum Ende 2016/Anfang 2017 mittels eines Fragebogens an die kantonalen Gerichte eine Praxisauswertung der ZPO mit Geschäftszahlen und Statistiken durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass eine Vielzahl zum Verständnis der Praxis der ZPO bedeutsamer Zahlen und Statistiken derzeit nicht schweizweit verfügbar sind. Soweit es um das Vorhandensein zentraler Geschäftszahlen und weiterer statistischer Angaben zum Zivilprozess geht, ist die derzeitige Lage nur beschränkt praxistauglich. Darauf ist noch zurückzukommen.
Betrachtet man die Gesamtzahl von Zivilverfahren (im Sinne von Art. 1 ZPO) in erster Instanz, so zeigt sich über sämtliche Kantone, dass diese stabil, stagnierend oder sogar rückläufig sind. Ein ähnliches Bild zeigt sich für die zweite Instanz in der Mehrheit der Kantone, in vielen ist aber auch ein gegenläufiger Trend zu beobachten.
Diese Erkenntnisse decken sich mit den Zahlen der Cepej-Evaluation, einer Kommission des Europarats für die Effizienz der Justiz für die Jahre 2010, 2012 und 2014.34 Stagnierend und tendenziell rückläufig sind auch die Schlichtungsgesuche im Sinne von Art. 197 ff. ZPO. Zu diesem Schluss kamen freilich auch bereits andere.35
Zugleich ist unbestritten, dass im Schlichtungsverfahren Erfolgsquoten von knapp 50 bis zu 80 Prozent für Erledigungen durch Einigung der Parteien erreicht werden – auch wenn diese im Einzelnen durchaus umstritten sein mögen.36 Dies dürfte zum Beispiel mit ein Grund dafür sein, Art. 198 ZPO betreffend die Ausnahmen vom Schlichtungsverfahren dahingehend anzupassen, dass ein solches fakultativ auch möglich ist, wenn eine einzige kantonale Instanz laut Art. 5 und 6 ZPO zuständig ist. Damit liessen sich auch Schwierigkeiten mit der Verjährungsunterbrechung vermeiden.
Zu Anzahl und Verbreitung zentraler Verfahrensinstrumente (z. B. Streitgenossenschaften, Haupt- und Nebeninterventionen) und Klagearten (namentlich Streitverkündungs- und Verbandsklagen) liegen schweizweit keine Zahlen vor. Das ist sehr bedauerlich, wenn es doch auch darum gehen sollte, allfälliges Anpassungspotenzial auch zahlenmässig zu identifizieren.
4.2 Problematik der Prozesskosten
Wenn seit ihrem Inkrafttreten gerade auch ausserhalb der juristischen Literatur über die ZPO diskutiert wurde, ging und geht es meist um die Kosten. Als Beispiele dafür mögen Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften aus jüngerer und jüngster Zeit dienen.37 Da wird gar von einer «Justiz hinter der Paywall» gesprochen.38
Bereits im Postulat 14.3804 Vogler (vgl. dazu vorne unter Ziffer 3.2) wird das Kostenrecht ausdrücklich als kritisierter und daher zu untersuchender Punkt genannt, worin auch ein Grund für den Negativtrend bei der Anzahl Zivilverfahren gesehen wird.
Neustens verlangt die Motion 17.3868 Janiak «Zugang zu den Zivilgerichten erleichtern» die Anpassung des «Prozesskostenrechts», namentlich die Reduktion der Kostenvorschüsse.39
Bei den gesamten Diskussionen geht es im Kern um drei separate Aspekte: die Höhe der Prozesskosten, den Kostenvorschuss und die Liquidation der Prozesskosten.
4.2.1 Höhe der Prozesskosten (Art. 96 ZPO)
Soweit die Höhe der Prozesskosten diskutiert und kritisiert wird, geht es um die Regelung von Art. 96 ZPO, wonach die Kantone die Tarife für die Prozesskosten festsetzen, d.h. sowohl für die Gerichtskosten als auch die Parteientschädigung. Vorab die Gerichtskosten und damit die dafür massgebenden kantonalen Tarife werden auf breiter Front als zu hoch erachtet und als Hürde des Zugangs zum Gericht kritisiert. Kritisiert wird namentlich auch, dass es zwischen den Kantonen grosse, zu grosse Differenzen gebe. Beides führt zur Forderung nach einer Anpassung von Art. 96 ZPO und der Einführung bundesrechtlicher Tarife oder zumindest von Rahmentarifen.40
So konsequent und zielführend die Forderungen nach einer Anpassung von Art. 96 ZPO zugunsten einer bundesrechtlichen Tarifordnung – und sei es nur in der Form eines Rahmentarifs – sein mögen, so tiefgreifend wären die Folgen – auch wenn man hier gerne die Gebührenverordnung zum SchKG41 als Vorbild heranziehen mag, wo seit 1958 schweizweit einheitliche Tarife gelten. Der Bundesgesetzgeber hat beim Erlass der ZPO bewusst und ausdrücklich gegen einen «Bundestarif» entschieden, nachdem dieser im Vorentwurf als Variante zur Diskussion gestellt worden war.42
Dagegen sprechen insbesondere folgende zwei Überlegungen: Zum einen sollte es beim Gleichlauf zwischen Organisationszuständigkeit einerseits und «Tarifhoheit» andererseits bleiben, um letztlich auch einem Kernanliegen bei der Vereinheitlichung treu zu bleiben, dass nämlich den Kantonen keine Mehrkosten entstehen sollen.43 Zum andern beanspruchte der Bundesgesetzgeber beim Erlass der ZPO ja durchaus bestimmte Elemente des Kostenrechts für sich und legiferierte entsprechend. Konkret sind dies die Regelungen zu Kostenvorschuss und Sicherheitsleistung (Art. 98 ff. ZPO), der Verteilung und Liquidation der Prozesskosten (Art. 104 ff. ZPO), besondere Kostenregelungen und damit auch Kostenbefreiungen (Art. 113 ff. ZPO) sowie auch der unentgeltlichen Rechtspflege (Art. 117 ff. ZPO). Daher erscheint es umso naheliegender, wenn der Bundesgesetzgeber den nun festgestellten Schwierigkeiten und Mängeln im Kostenrecht durch Anpassung ebendieser Regelungen begegnet. Damit ist aber auch gesagt, dass die vielstimmige Kritik an der Höhe der Prozesskosten nach wie vor an die Kantone gerichtet werden sollte.44
4.2.2 Kostenvorschuss (Art. 98 ZPO)
Trotz der kantonalen Tarifhoheit regelt Art. 98 ZPO bundesrechtlich die Möglichkeit eines Kostenvorschusses bis zur Höhe der mutmasslichen Gerichtskosten zulasten der klagenden Partei. Bereits in dieser Form stellt die Regelung eigentlich einen massiven Eingriff in die kantonale Tarifhoheit dar; diesen Eingriff hat der Bundesgesetzgeber bereits mit der geltenden ZPO vollzogen. Will er nun auf die Kritik am Kostenrecht reagieren, die sich gerade gegen die Regelung von Art. 98 ZPO und ihre praktische Handhabung im Sinne einer Vorschusspflicht für klagende Parteien richtet, so bietet sich eine Anpassung von Art. 98 ZPO geradezu an. Denn ungeachtet der zweifellos berechtigten Warn- und Filterfunktion sowie der Sicherstellungsfunktion einer Vorschussleistung45 erweist sich die Verpflichtung zur Leistung eines Vorschusses durchaus als faktische Schranke für den Zugang zum Gericht.
Entsprechend wurde zum Teil bereits gefordert, den Kostenvorschuss auf maximal 20 oder 50 Prozent der mutmasslichen Gerichtskosten zu begrenzen.46 Der Vorschlag von 50 Prozent entspricht auch dem Vernehmlassungsentwurf zur ZPO. Die Expertenkommission unterstrich damals, dass es sich dabei um eine «mittlere Linie zwischen den kantonalen Regelungen» handle und damit der Vorschuss nicht so hoch sei, dass der Zugang zu den Gerichten übermässig erschwert würde.47 An dieser Feststellung dürfte sich bis heute nichts geändert haben. Für diesen Vorschlag spricht sodann, dass sich das Kostenrisiko abstrakt je zur Hälfte auf die klagende und die beklagte Partei verteilt.
Einer solchen Anpassung allein finanzpolitische Überlegungen sowie die Gefahr von Mehrkosten für die Kantone entgegenzuhalten, dürfte allein schon angesichts des unveränderten Charakters als Kann-Vorschrift, der Abhängigkeit von den zugrunde liegenden Tarifen sowie der Abhängigkeit von den Bestimmungen über die Verteilung und Liquidation der Prozesskosten zu kurz greifen. Sodann könnte auch ins Auge gefasst werden, für bestimmte Streitigkeiten Kostenvorschüsse bundesrechtlich ausdrücklich auszuschliessen.
4.2.3 Liquidation der Prozesskosten (Art. 111 ZPO)
Mit Art. 111 ZPO wird das Inkassorisiko für die Gerichtskosten vollständig den Parteien bzw. der obsiegenden Partei überbunden, indem diese für die Rückforderung geleisteter Kostenvorschüsse ausschliesslich an die Gegenpartei verwiesen wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass eine aus gutem Grund klagende und in der Folge vollumfänglich obsiegende Partei vorab auch die Gerichtskosten zu tragen hat und dafür lediglich eine Ersatzforderung gegenüber dem Prozessgegner hat.
Dieser Regelung erwuchs bereits im Zug der Schaffung der ZPO-Kritik. Bereits die Expertenkommission hielt eine solche Regelung für unzulässig, weil «der Staat […] sein Inkassorisiko nicht auf die vorschiessende – aber nachträglich ‹kostenbefreite› – Partei überwälzen [darf].»48 Dass der Entwurf in der Folge aufgrund der diesbezüglichen Forderungen der Kantone dennoch die Überbindung auf die Parteien vorgesehen hatte, wurde ebenfalls stark kritisiert und mag als Verabsolutierung des Grundsatzes, dass den Kantonen keine Mehrkosten entstehen dürfen, erscheinen. Seither wurde die Regelung verschiedentlich kritisiert49 und ihre Anpassung gefordert.50
Gute Gründe sprechen daher heute dafür, das Kostenrecht der ZPO gerade in diesem Punkt anzupassen und im Kern auf den Stand des früheren kantonalen Rechts zurückzuführen, indem die Verrechnungsmöglichkeit wieder abgeschafft wird.51 Dafür spricht insbesondere auch, dass gerade auch ein funktionierendes Inkassowesen des Staats bei der Eintreibung ausstehender Gerichtskostenforderungen (und -nachforderungen) das Inkassorisiko für die Kantone deutlich senkt.
4.3 Umgang mit bundesgerichtlicher Rechtsprechung
Seit Inkrafttreten der ZPO hat sich zu dieser eine umfangreiche bundesgerichtliche Rechtsprechung entwickelt. Viele dieser Entscheide haben die ZPO und ihre Auslegung in zentralen Punkten geklärt, konkretisiert und präzisiert. Zweifellos hat gerade diese bundesgerichtliche Rechtsprechung dazu beigetragen, dass die ZPO heute als praxistauglich gilt.
Im Kontext der laufenden Anpassungsarbeiten stellt sich somit die Frage des Umgangs mit dieser bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Dabei geht es nicht um die Frage des Ob, sondern vielmehr des Wie. Es kann nicht um eine systematische Kodifikation der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur ZPO gehen; eine solche wäre nicht nur gänzlich untypisch für das schweizerische Recht – sieht man vielleicht von der laufenden Revision des 12. Kapitels des IPRG zur Schiedsgerichtsbarkeit ab, wo es gerade um die Nach- und Überführung zentraler Elemente der Rechtsprechung des Bundesgerichts in das Gesetz geht.52 In vielen Fällen könnte der Spezifizität der Rechtsprechung kaum Rechnung getragen werden. Letztlich wäre damit auch die kontinuierliche Weiterentwicklung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung tangiert, zumal diese in vielen Fällen kaum als gefestigt zu betrachten ist.
Demgegenüber erscheint es aber mit dem Fokus Praxistauglichkeit sinnvoll, die gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung herrschende Rechtslage mittels punktueller Anpassungen in die ZPO zu überführen. Dafür ist vorauszusetzen, dass es sich erstens um eine verallgemeinerungsfähige Präzisierung oder Klarstellung der ZPO handelt, die zweitens eine zentrale Frage der Zuständigkeit, der Prozessvoraussetzungen oder der Rechtsmittel betrifft und diese sich drittens auf den einzelnen Rechtsunterworfenen auswirkt. Umgekehrt kommt konsequenterweise auch eine Anpassung in Betracht, wo der Gesetzgeber mit einem Auslegungsergebnis der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht einverstanden ist, wenn dies ebenfalls der Praxistauglichkeit dient. Als Beispiel mag hier die umfangreiche bundesgerichtliche Rechtsprechung zur handelsgerichtlichen Zuständigkeit nach Artikel 6 ZPO oder die Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Rechtsmitteln dienen.53
4.4 Kollektive Rechtsdurchsetzung
Gegenstand der laufenden Revisionsarbeiten bilden sodann die Arbeiten zur Umsetzung der Motion 13.3931 Birrer-Heimo «Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung» (vgl. dazu vorne Ziffer 3.3), denn dieser parlamentarische Auftrag deckt sich mit den Feststellungen zur Praxistauglichkeit der ZPO: Es hat sich gezeigt, dass bei der kollektiven Rechtsdurchsetzung von Streu- und Massenschäden das geltende Recht nicht in jeder Hinsicht als praxistauglich erachtet wird. Dieser Befund besteht bereits für spezifische Rechtsgebiete, so für den Finanzdienstleistungsbereich,54 das Datenschutzrecht 55 sowie das Diskriminierungsrecht.56 So ist beispielsweise bis heute keine einzige Verbandsklage gemäss Art. 89 ZPO bekannt oder aktenkundig. Dies zeigt erneut, dass echte Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes in der ZPO derzeit fehlen, was im Übrigen bereits seit ihrem Erlass kritisiert wurde.57
Im Zuge der Arbeiten zur Schaffung eines Finanzdienstleistungsgesetzes (Fidleg) verzichtete der Bundesrat angesichts des Vernehmlassungsergebnisses58 auf seine Vorschläge zur Schaffung eines Gruppenvergleichsverfahrens und einer spezialgesetzlichen Verbandsklage mit dem ausdrücklichen Hinweis, im Rahmen der Umsetzung der Motion 13.3931 Birrer-Heimo gerade ein allgemeines Gruppenvergleichsverfahren vorzuschlagen und die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Verbandsklage in der ZPO zu prüfen.59 Diese Absicht deckt sich heute insbesondere mit der Erkenntnis, dass die Verbandsklage in ihrer Ausgestaltung gemäss Art. 89 ZPO kaum praxistauglich ist und hier somit durchaus allgemeiner Anpassungsbedarf besteht.
Im Kern wird es bei dieser Prüfung um drei Punkte gehen: erstens die Voraussetzungen der Klagelegitimation der Verbände, zweitens die Beschränkung der Verbandsklage auf Persönlichkeitsverletzungen und drittens die zentrale Frage, ob und inwiefern die Verbandsklage auch reparatorisch sein sollte. Zu prüfen ist dabei sinnvollerweise auch das Verhältnis zwischen allgemeiner Verbandsklage gem. Art. 89 ZPO und den vorbehaltenen (vgl. Art. 89 Abs. 3 ZPO) spezialgesetzlichen Verbandsklagen, was nach geltendem Recht alles andere als klar ist.60 Hinsichtlich Gruppenvergleichsverfahren wird es darum gehen, ein solches in einer möglichst einfachen und konzisen, dem schweizerischen Zivilprozessrecht angepassten Form zu fassen. Daneben kommt möglichen Anpassungen im Bereich des Individualrechtsschutzes ebenso grosse Bedeutung zu, um damit gerade die Durchsetzung von Massenschäden zu verbessern.61
Anzufügen ist hier, dass derzeit in andern Ländern ähnliche Bestrebungen laufen; so wurde z. B. unlängst in Deutschland im Kontext des Diesel-Skandals ein Vorschlag für die Schaffung einer Musterfeststellungsklage präsentiert.62
4.5 Rechtstatsachen und Justizstatistik
Wie bereits erwähnt (vgl. dazu vorne unter Ziffer 4.1), sind heute kaum schweizweit Geschäftszahlen und Statistiken zu zentralen Instrumenten und Abläufen des Zivilprozesses verfügbar, geschweige denn, dass solche einheitlich und vergleichbar wären. Daher liegen derzeit eigentlich nur die im Rahmen des erwähnten Cepej-Evaluationsprogramms des Europarats verfügbaren Angaben vor, wobei auch diese teilweise nicht vollständig sind und für den Zivilprozess nur sehr beschränkt aussagekräftig sind.63 Verlässliche Informationen zu den massgebenden Rechtstatsachen stellen unbestrittenermassen eine zentrale Grundlage für Gesetzesanpassungen und -revisionen dar.64
Im Rahmen der laufenden Anpassungsarbeiten kann daher auch geprüft werden, ob und inwiefern in der ZPO eine gesetzliche Grundlage gelegt werden könnte, damit in absehbarer Zukunft auch für das schweizerische Zivilprozessrecht Statistiken und Geschäftszahlen zu den massgeblichen Kennzahlen der praktischen Anwendung der ZPO vorliegen, konkret zu Anzahl, Art, Dauer und Kosten der Verfahren vor den Gerichten aller Instanzen und den Schlichtungsbehörden.
Ein Gesetzgeber, der an Formulare für Gerichtsurkunden und Parteieingaben (Art. 400 Abs. 2 ZPO) dachte und auch Pilotprojekte bereits regelte (Art. 401 ZPO), sollte eigentlich auch die Frage der Justizstatistik regeln. Sinnvollerweise sollten Bund und Kantone und natürlich die Gerichte nur schon aus Kostengründen gemeinsam dafür sorgen. Damit würden insbesondere für zukünftige Revisionen der ZPO sowie auch deren spätere Gesamtevaluation wesentliche Grundlagen bereits vorliegen.
5. Ausblick und Schlussbemerkungen
Auch wenn die ZPO unbestrittenermassen praxistauglich ist, besteht durchaus noch Verbesserungs- und damit Anpassungspotenzial. Die bestehenden parlamentarischen Aufträge erscheinen daher sinnvoll und erfüllbar, getreu nach dem Motto «Gutes noch besser machen».
Nachdem die wesentlichen Elemente einer solchen Anpassungsrunde bekannt sind – neben den erwähnten gibt es zweifellos noch weitere, namentlich die Verfahrenskoordination (in den Fällen von Streitgenossenschaft, Klagenhäufung, Widerklage usw.) –, ist nun eine Vernehmlassungsvorlage auszuarbeiten. Nach derzeitigem Stand dürfte dies bis Anfang 2018 geschehen. Bereits heute ist absehbar, dass die Anpassung der ZPO noch viel zu reden geben wird, denn bei zwei der zentralen Themen, bei den Kosten und beim kollektiven Rechtsschutz, handelt es sich um eigentliche «Dauerbrenner» des Zivilprozessrechts der letzten Jahre.
Es ist zu hoffen, dass darüber nicht der Blick für das Wesentliche und damit die Zielsetzung der Anpassungsbemühungen verlorengehen wird, nämlich die Praxistauglichkeit der ZPO weiter zu verbessern und Lücken, Mängel und Schwachpunkte zu beseitigen – nicht mehr und nicht weniger. Dabei sollten wir uns freilich stets dessen bewusst sein, was schon der österreichische Rechtsgelehrte Joseph Unger im vorletzten Jahrhundert treffend bemerkte: «Das Gesetz ist lückenhaft, das Recht ist lückenlos.»
Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte Version des Referats vom 21.9.2017 an der 6. PraxiZ-Tagung zum Zivilprozessrecht «Updates und neueste Entwicklungen im schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht»; die vollständige schriftliche Fassung erscheint im gleichnamigen Tagungsband im Schulthess-Verlag Zürich (voraussichtlich Dezember 2017). Der Referatsstil wurde teilweise beibehalten. Bei den vorliegenden Äusserungen handelt es sich um die persönliche Meinung des Autors.
Philipp Weber
Rechtsanwalt, stellvertretender Leiter Fachbereich Zivilrecht und Zivilprozessrecht im Bundesamt für Justiz, Bern, und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich
Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19.12.2008 (ZPO); SR 272.
So beispielsweise die Standesinitiative 16.302 des Kantons Bern «Erfolgsmodell Schlichtungsverhandlung ausbauen» vom 13.1.2016 (vom Ständerat behandelt und nicht Folge gegeben; abrufbar unter www.parlament.ch/rm/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft? AffairId=20160302) sowie Daniel Kettiger, «Die Schlichtungsbehörde im Kanton Bern als Erfolgsmodell? Anmerkungen zu einer Untersuchung der Universität Zürich»,
in: Richterzeitung / «Justice – Justiz – Giustizia» 3/2014.
Vgl. Thomas Sutter-Somm, «Die neue Schweizerische Zivilprozessordnung – ein Zukunftsmodell?», in: Zeitschrift für Zivilprozess 1/2017, S. 61 ff.
Vgl. die Motion 14.4008 der Rechtskommission des Ständerats «Anpassung der Zivilprozessordnung» vom 17.11.2014 (überwiesen; abrufbar unter
www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20144008).
Vgl. dazu ausführlich Philipp Weber, «Aktuelle Rechtsetzung und Gesetzgebungsprojekte im Zivilprozessrecht», in: Zeitschrift für Zivilprozess 25/2011, S. 84 ff.; ders., «Aktuelle Rechtsetzung und Gesetzgebungsprojekte im Zivilprozessrecht», in: AJP 7/2012, S. 894 ff.; ders., «Aktuelle Rechtsetzung und Gesetzgebungsprojekte im Zivilprozessrecht», in: Zeitschrift für Zivilprozess 29/2013, S. 75 ff.
Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 25.9.2009 (Bedenkzeit im Scheidungsverfahren auf gemeinsames Begehren), AS 2010, S. 281 ff., und der Verordnung über die abschliessende Inkraftsetzung der Änderung vom 25.9.2009 des Zivilgesetzbuches (Bedenkzeit im Scheidungsverfahren auf gemeinsames Begehren) vom 31.3.2010, AS 2010, S. 1861 ff.
Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 19.12.2008 (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht), AS 2011, S. 725 ff., und der Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 19.12.2008, Anhang 2, Ziffer 3 «Koordination mit der Änderung vom 19.12.2008 des ZGB (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht)», AS 2010, S. 1739 ff., S. 1859.
Bundesbeschluss über die Genehmigung und die Umsetzung des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen) vom 11.12.2009, AS 2010, S. 5601 ff.
Präzisierend anzufügen ist, dass die Anpassungen gemäss neuem Erwachsenenschutzrecht zusammen mit diesem erst auf den 1.1.2013 in Kraft getreten sind.
Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung und der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 28.9.2012 (Protokollierungsvorschriften), AS 2013, S. 851 ff.
Botschaft zum Bundesgesetz über die Anpassung von verfahrensrechtlichen Bestimmungen zum anwaltlichen Berufsgeheimnis vom 26.10.2011, BBl 2011, S. 8181 ff., S. 8187.
Bundesgesetz über die Anpassung von verfahrensrechtlichen Bestimmungen zum anwaltlichen Berufsgeheimnis vom 28.9.2012, AS 2013, S. 847 ff.
Bundesgesetz über Zertifizierungsdienste im Bereich der elektronischen Signatur und anderer Anwendungen digitaler Zertifikate (Bundesgesetz über die elektronische Signatur, ZertES) vom 18.3.2016 (SR 943.03), Anhang Ziff. II 5.
Vgl. Botschaft zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die elektronische Signatur (ZertES) vom 15.1.2014, BBl 2014, S. 1001 ff.
Vgl. dazu insb. auch Bericht «Modernisierung des Familienrechts» des Bundesrates zum Postulat 12.3607 von Jacqueline Fehr vom März 2015 (abrufbar unter
www.ejpd.admin.ch/dam/data/bj/aktuell/news/2015/2015-03-250/ber-br-d.pdf).
Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (Kindesunterhalt) vom 20.3.2015, AS 2015, S. 4299 ff. und S. 5017 ff. (Berichtigung).
Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (Vorsorgeausgleich bei Scheidung) vom 19.6.2015, AS 2016, S. 2313 ff.
Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (Adoption) vom 17.6.2016, AS 2017, S. 3699 ff.
Änderung des Bundesgesetzes über die Börsen und den Effektenhandel (Börsengesetz, BEHG) vom 28.9.2012, AS 2013, S.1103 ff., S. 1108.
Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG) vom 19.6.2015, AS 2015, S. 5339 ff.
Bundesgesetz über den Schutz des Schweizer Wappens und anderer öffentlicher Zeichen (Wappenschutzgesetz) vom 21.6.2013, AS 2015, S. 3679 ff., Anhang 3 Ziff. II 3.
Änderung des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs (Gewerbsmässige Vertretung im Zwangsvollstreckungsverfahren) vom 25.9.2015, AS 2016, S. 3643 ff.
Vgl. Christoph Leuenberger, Art. 229 N 6, in: Zürcher Kommentar zur ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016, mit dem Hinweis, dass mehrheitlich von einem «redaktionellen Versehen» gesprochen werde; demgegenüber unmissverständlich Nationalrätin Margret Kiener-Nellen in den parlamentarischen Beratungen zu 14.073: «wirklichen Fehler», Amtliches Bulletin des Nationalrats 2015, S. 919.
Abrufbar unter www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20144008.
Abrufbar unter www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20143383.
Vgl. dazu Votum von Ständerat Stefan Engler, Amtliches Bulletin des Ständerats 2015, S. 292 f.
Abrufbar unter www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20143804.
Abrufbar unter www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20133931.
Abrufbar unter www.ejpd.admin.ch/dam/data/bj/aktuell/news/2013/2013-07-03/ber-br-d.pdf.
Vgl. zum Begriff Massen- und Streuschäden den Bericht des Bundesrats vom 3.7.2013, S. 10 bzw. S. 12 m.w.H.
Vgl. dazu den Bericht des Eidgenössischen Finanzdepartements über die Vernehmlassungsergebnisse zum Finanzdienstleistungsgesetz (Fidleg) und zum Finanzinstitutsgesetz (Finig) vom 13.3.2015, S. 42 ff.
Vgl. die Stellungnahme des Bundesrats vom 17.2.2016 zur Interpellation 15.4171 von Prisca Birrer-Heimo «Kollektive Rechtsdurchsetzung. Umsetzung der versprochenen Massnahmen» vom 17.12.2015 (abrufbar unter www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/ geschaeft?AffairId=20154171).
Abrufbar unter www.coe.int/t/dghl/cooperation/cepej/evaluation/2016/STAT/default.asp.
Vgl. z. B. Marlis Koller-Tumler, «Das Schlichtungsverfahren im Kanton Bern», in: Civpro (Hrsg.), Das Schlichtungsverfahren nach ZPO, Bern 2016, S. 47 ff., S. 78, sowie den Tätigkeitsbericht der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern 2016 (abrufbar unter www.justice.be.ch " Obergericht " Downloads & Publikationen).
Vgl. dazu Isaak Meier / Sarah Scheiwiller, «Erfolg des Schlichtungs- und Urteilsvorschlagsverfahrens nach neuer ZPO», in: ZSR 2014 I, S. 155 ff., sowie Daniel Kettiger, a.a.O.
Vgl. Isaak Meier, «Hohe Prozesskosten: Den Zugang zu den Gerichten öffnen», in: NZZ vom 20.6.2017, S. 10; Arnold Marti, «Die Kosten im heutigen Zivilprozess», in: «Justice – Justiz – Giustizia» 3/2017; ders., «Teures Prozessieren: Rechtsschutz auch für Nicht-Gutbetuchte», in: NZZ vom 26.2.2016, S. 12; Katharina Fontana, «Hoher Preis für Justitia», in: NZZ vom 12.2.2016, S. 56; Mario Stäuble, «Wenn die Unschuld 31400 Franken kostet», in: «Tages-Anzeiger» vom 3.8.2016; Gian Andrea Schmid, «Kostenvorschuss als Prozesshindernis», in: plädoyer 5/14, S. 73 ff.
Mario Stäuble, «Die Justiz hinter der Paywall», in: «Tages-Anzeiger» vom 3.8.2016.
Motion 17.3868 von Claude Janiak «Zugang zu den Zivilgerichten
erleichtern» vom 28.9.2017
(abrufbar unter www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20173868); die Stellungnahme des Bundesrates dazu sowie die parlamentarische Beratung des Vorstosses stehen derzeit noch aus.
Für einen bundesrechtlichen Tarif z. B. Isaak Meier, a.a.O.,
S. 10; für einen bundesrechtlichen Rahmentarif z. B. Arnold Marti, «Die Kosten im heutigen
Zivilprozess», in: «Justice – Justiz – Giustizia» 3/2017, Rz. 33.
Gebührenverordnung zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (GebV SchKG) vom 23.9.1996, SR 281.35.
Vorentwurf der Expertenkommission zur ZPO, Juni 2003, Art. 86 Abs. 4 Variante VE-ZPO (abrufbar unter www.bj.admin.ch/dam/data/bj/ staat/gesetzgebung/archiv/zivilprozessrecht/entw-zpo-d.pdf).
Vgl. Botschaft zur ZPO, BBl 2006, S. 7221 ff., S. 7223.
Vgl. z. B. die Revisionsbestrebungen im Kanton Waadt, wonach Konsumentenstreitigkeiten gem. Art. 32 ZPO von den Gerichtskosten befreit werden sollen; Projet du Conseil d’Etat du 21.1.2017 modifiant le code de droit privé judiciaire vaudois du 12.1.2010 (CDPJ)
(abrufbar unter www.vd.ch/fileadmin/user_upload/organisation/gc/fichiers_pdf/2012-2017/343_TexteCE.pdf).
Wohl zu Recht wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass die Vorschussregelung gemäss Art. 98 ZPO überwiegend oder ausschliesslich die Sicherstellung der Gerichtskosten bezweckt, vgl. Dheden C. Zotsang, Prozesskosten nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung, Diss., Zürich 2015, S. 82.
Vgl. dazu Isaak Meier, a.a.O., S. 10, und Arnold Marti, «Die Kosten im heutigen Zivilprozess», in: «Justice – Justiz – Giustizia» 3/2017, Rz. 35.
Bericht der Expertenkommission zum Vorentwurf ZPO vom Juni 2003, S. 52 (abrufbar unter
www.bj.admin.ch/dam/data/bj/staat/gesetzgebung/archiv/zivilprozessrecht/vn-ber-d.pdf).
Bericht der Expertenkommission zum Vorentwurf ZPO vom Juni 2003, S. 52 und S. 57.
Vgl. zum Beispiel in jüngster Zeit Arnold Marti, «Teures Prozessieren: Rechtsschutz auch für Nicht-Gutbetuchte», in: NZZ vom 26.2.2016, S. 12; Dheden C. Zotsang, a.a.O., S. 257 f.; Martin H. Sterchi, Art. 111 N 2 f., in: Berner Kommentar ZPO, Bern 2012.
Z.B. Arnold Marti, «Teures Prozessieren: Rechtsschutz auch für Nicht-Gutbetuchte», in: NZZ vom 26.2.2016, S. 12.
Vgl. Arnold Marti, «Die Kosten im heutigen Zivilprozess», in: «Justice – Justiz – Giustizia» 3/2017, Rz. 36.
Vgl. dazu Vorentwurf und Erläuternder Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (Internationale Schiedsgerichtsbarkeit) vom 11.1.2017 (abrufbar unter
www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/news/2017/2017-01-11.html).
Vgl. zum Beispiel zur Frage der rechtsmittelweisen Geltendmachung von nach Abschluss des Verfahrens entdeckten Ausstandsgründen BGE 139 III 466 E. 3.4;
BGE 139 III 120 E. 2;
BGE 138 III 702 E. 3.4.
Vgl. Erläuternder Bericht zur Vernehmlassungsvorlage für ein Bundesgesetz über die Finanzdienstleistungen (Fidleg) und ein Bundesgesetz über die Finanzinstitute (Finig) vom 25.6.2014 und Bericht des Eidgenössischen Finanzdepartements über die Vernehmlassungsergebnisse zum Finanzdienstleistungsgesetz (Fidleg) und zum Finanzinstitutsgesetz (Finig) vom 13.3.2015, S. 42 ff.
Botschaft zum Bundesgesetz über die Totalrevision des Bundesgesetzes über den Datenschutz und die Änderung weiterer Erlasse zum Datenschutz vom 15.9.2017, Ziff. 1.7.3. (abrufbar unter www.bj.admin.ch/dam/data/bj/staat/gesetzgebung/datenschutzstaerkung/bot-d.pdf).
Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats 12.3543 von Martin Naef «Recht auf Schutz vor Diskriminierung» vom 25.5.2016, Ziff. 4.3.2 (abrufbar unter
www.parlament.ch/centers/eparl/curia/2012/20123543/Bericht%20BR%20D.pdf).
Vgl. z. B. Alfred Bühler, «Es fehlt ein Instrument für den kollektiven Rechtsschutz», in: NZZ vom 9.6.2010, S. 21; Ivo Schwander, «Wie müsste eine moderne Zivilprozessordnung aussehen?», in: Zeitschrift für Zivilprozess 2004, S. 3 ff.; Nicolas Jeandin, Parties au procès, Mouvement et (r)évolution, Zürich 2003, S. 143 ff.
Vgl. Erläuternder Bericht zur Vernehmlassungsvorlage für ein Bundesgesetz über die Finanzdienstleistungen (Fidleg) und ein Bundesgesetz über die Finanzinstitute (Finig) vom 25.6.2014 und Bericht des Eidgenössischen Finanzdepartements über die Vernehmlassungsergebnisse zum Finanzdienstleistungsgesetz (Fidleg) und zum Finanzinstitutsgesetz (Finig) vom 13.3.2015, S. 42 ff.
Vgl. Botschaft zum Finanzdienstleistungsgesetz (Fidleg) und zum Finanzinstitutsgesetz (Finig) vom 4.11.2015, BBl 2015, S. 8901 ff., S. 8914.
Vgl. Philipp Weber, «Art. 89 N 22», in: Kuko ZPO, 2. Aufl., Basel 2014 m.w.H.
Vgl. dazu auch den Bericht des Bundesrats vom 3.7.2013, S. 19 ff., S. 56 ff. Zu denken ist hier z. B.
an die Bestimmung von Art. 106 Abs. 3 ZPO.
Vgl. den Diskussionsentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Musterfeststellungsklage (abrufbar unter www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Musterfeststellungsklage.html).
Vgl. dazu auch Isaak Meier, «Evaluative Justizstatistik – am Beispiel des Einleitungsverfahrens», in: Zeitschrift für Zivilprozess 37/2016, S. 5 ff.
Vgl. ders., a.a.O., S. 6 f.