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1. Einleitung
1.1 Anwendbares Verfahrensrecht
Vermeintlich scheint klar, dass die strafrechtliche Landesverweisung als neue Massnahme des Strafgesetzbuches ganz einfach nach den Regeln des Strafrechts, das heisst gemäss den Verfahrensvorschriften der StPO, verhängt wird und die migrationsrechtliche Aufenthaltsbeendigung nach jenen des Verwaltungsrechts, in der Regel dem VwVG.
Schaut man genauer hin, wird erkennbar, dass es Konstellationen gibt, bei denen die Migrationsbehörden nach wie vor wegen strafrechtlicher Verfehlungen eine Aufenthaltsbeendigung verfügen dürfen, womit sich bereits die Frage stellt, nach welchem Verfahrensrecht das zu geschehen hat. Dabei ist der Praxis klar, dass zwar nach beiden Verfahrensrechten der Untersuchungsgrundsatz gilt, dass dieser aber im Verwaltungsverfahren durch die Mitwirkungspflicht des Betroffenen stark gemindert, ja teilweise gar aufgehoben wird (so etwa dort, wo es um Umstände und Beweise geht, die der Betroffene besser kennt als die Verwaltungsbehörde, etwa die Zustände im Heimatland des Ausländers und die Beschaffung von Beweisen von dort).
1.2 Konkurrierende Zuständigkeit
Im weiteren gibt es Parallelzuständigkeiten der Straf- und Verwaltungsbehörden, so etwa dann, wenn nicht nur der Aufenthaltsbeendigungsgrund der Straftat vorliegt, sondern kumulativ dazu auch jener beispielsweise der Sozialhilfeabhängigkeit, der ebenfalls zur Aufenthaltsbeendigung führen kann. Kann es dann sein, dass das Strafgericht wegen eines Härtefalles auf die Landesverweisung verzichtet, die Migrationsbehörde aber eine andere Interessenabwägung vornimmt und den Ausländer wegen Sozialhilfeabhängigkeit wegweist?
1.3 Berücksichtigung von Drittinteressen
Schliesslich ist vorweg auf ein absolutes Fehlkonstrukt in der strafrechtlichen Landesverweisung hinzuweisen: Die Landesverweisung betrifft nicht nur diejenige Person, die die Schweiz verlassen muss (in casu also den straffälligen Ausländer), sondern sie greift auch in geschützte Rechte Dritter ein, namentlich seiner Angehörigen, die sich auf den Schutz von Art. 8 EMRK berufen können, somit insbesondere die Kernfamilie der ausländischen Person (Ehegatte und minderjährige Kinder), gegebenenfalls aber auch andere Verwandte, so wenn etwa eine besonders enge Beziehung zu diesen und Abhängigkeit von diesen zur wegzuweisenden Person besteht.
Bei der migrationsrechtlichen Aufenthaltsbeendigung ist unbestritten, dass nicht nur diejenige Person beschwerdebefugt ist, die die Schweiz zu verlassen hat, sondern auch die erwähnten Familienangehörigen, welche auch in eigenem Namen Beschwerde führen können, namentlich wegen Verletzung von Art. 8 EMRK. Bei der strafrechtlichen Landesverweisung ist ein solcher Beschwerdeweg nicht vorgesehen, was wohl Art. 13 EMRK (wirksame nationale Beschwerde) verletzt. Auf jeden Fall ginge es nicht an, diese Drittinteressen erst auf Stufe Vollzug der Landesverweisung zu berücksichtigen. Denn greift die Landesverweisung ungerechtfertigt in das Recht auf Familienleben der Angehörigen ein, ist nicht der Vollzug aufzuschieben, sondern erweist sich die Massnahme, also die Landesverweisung selbst, als unrechtmässig und darf nicht angeordnet werden.
2. Zuständigkeit für Aufenthaltsbeendigung wegen Straffälligkeit
2.1 Strafbehörden
2.1.1 Strafgericht
Nach dem Wortlaut von Art. 66a StGB kann nur ein Gericht einen straffälligen Ausländer des Landes verweisen. Dieser Wortlaut schliesst somit die entsprechende Verfügung durch eine Strafverfolgungsbehörde (insbesondere die Staatsanwaltschaft, aber auch Übertretungsstrafbehörden) aus. Dementsprechend lauten die neuen Bestimmungen in Art. 62 und 63 AuG so, dass der Aufenthaltswiderruf durch eine Migrationsbehörde wegen Straffälligkeit unzulässig ist, wenn er nur damit begründet wird, dass ein Strafgericht trotz Bestrafung von einer Landesverweisung abgesehen hat.
Von diesem Fall zu unterscheiden ist die Erledigung einer Strafsache im abgekürzten Verfahren. Dort handeln die Parteien einen Urteilsvorschlag aus. Dieser wird erst und nur dann zum Urteil, wenn er vom Gericht genehmigt wird. Damit liegt das Urteil eines Gerichts vor und für eine Zuständigkeit der Migrationsbehörden bleibt kein Raum, wenn in diesem Urteil auf die Landesverweisung verzichtet wird.
Dasselbe hat zu gelten, wenn die Staatsanwaltschaft in einem Strafbefehl auf die Landesverweisung verzichtet, wozu sie – wie nachstehend noch auszuführen sein wird – zuständig ist.
2.1.2 Staatsanwaltschaft
2.1.2.1 Landesverweisung im Strafbefehlsverfahren
Nach dem Ausgeführten kann im Strafbefehlsverfahren keine Landesverweisung verhängt werden. Dies hält auch die Botschaft klar so fest1 und begründet das einerseits mit der Schwere der Sanktion (mindestens fünfjähriges Verbot, die Schweiz zu betreten) und mit gewissen rechtsstaatlichen Mängeln des Strafbefehlsverfahrens.
Dem ist beizupflichten und daran ändert auch Art. 354 Abs. 3 StPO nichts, der besagt, dass der Strafbefehl ohne Einsprache zum rechtskräftigen Urteil wird, denn auch dann stammt dieses Urteil nicht von einem Gericht, sondern von einer Strafverfolgungsbehörde.
2.1.2.2 Verzicht auf Landesverweisung im Strafbefehlsverfahren
Fraglich ist, ob die Staatsanwaltschaft auf eine Landesverweisung verzichten und das im Strafbefehl festhalten kann. Es ist unbestritten, dass die Staatsanwaltschaft auf bestimmte Dinge verzichten kann, auch wenn im StGB an der jeweiligen Stelle in der Regel vom «Gericht» die Rede ist, so etwa auf den Widerruf einer bedingten Vorstrafe bei Nichtbewährung während der Probezeit (vgl. Art. 46 Abs. 2 StGB). Weiter ergibt sich aus der Systematik und aus den Wirkungen des Strafbefehls, dass die Staatsanwaltschaft im Strafbefehlsverfahren quasi richterlich tätig ist, somit auch die entsprechenden Kompetenzen hat, was impliziert, dass sie auch auf eine Landesverweisung verzichten kann (vgl. auch vorne Teil I Ziff. 3.3).
Mindestens ist klar, dass die Staatsanwaltschaft in jedem Straffall einer ausländischen Person, die nicht mittels Ordnungsbusse erledigt wird, sich die Frage stellen muss, ob eine Landesverweisung in Frage kommt (sei es obligatorisch bei einer Katalogtat oder fakultativ).
Findet die Staatsanwaltschaft, dass die Landesverweisung auszusprechen ist, muss sie nach dem Gesagten mittels Anklage ans Strafgericht gelangen, das ist unbestritten.
Wenn die Staatsanwaltschaft hingegen der Meinung ist, auf eine Landesverweisung sei zu verzichten, müsste sie – wenn sie diesen Verzicht nicht selbst beschliessen kann – ebenfalls ans Strafgericht gelangen, damit dieses auf die Landesverweisung verzichtet. Das würde aber bei Verfahren mit ausländischen Beschuldigten, die an sich im Strafbefehlsverfahren erledigt werden könnten, dazu führen, dass kein Strafbefehlsverfahren mehr möglich wäre. Hinzu kommt, dass für das Strafgericht dann auch sämtliche Umstände, die für oder gegen die Existenz eines Härtefalls sprechen, umfassend abgeklärt werden müssten, was das Verfahren weiter verlängert und v.a. auch verteuert. Und es werden nicht so wenige Fälle sein, in denen ein Delikt im Strafbefehlsverfahren erledigt wird, für welches Art. 66a StGB eine obligatorische Landesverweisung vorsieht. Neben dem Einbruchsdiebstahl dürfte das insbesondere Verstösse gegen neu Art. 148a StGB (unrechtmässiger Bezug von Leistungen der Sozialversicherung oder Sozialhilfe) betreffen.
Mit anderen Worten: Erlässt die Staatsanwaltschaft bei ausländischen Angeschuldigten einen Strafbefehl, so hat sie sich auch immer Gedanken darüber gemacht, ob allenfalls auch eine Landesverweisung in Frage kommt. Bejaht sie das, muss sie Anklage beim Strafgericht erheben. Verneint sie dies hingegen, so heisst das bei Fällen mit obligatorischer Landesverweisung, dass die Staatsanwaltschaft wegen Vorliegens eines Härtefalles darauf verzichtet, beziehungsweise bei der fakultativen Landesverweisung eine solche als unverhältnismässig erachtet. In beiden Fällen aber hat sie sich mit dieser Frage auseinandergesetzt, womit kein Raum für eine Aufenthaltsbeendigung durch die Migrationsbehörden allein wegen Straffälligkeit besteht. Zudem dürfen die Migrationsbehörden bei Straffälligkeit ohnehin Bewilligungen nur widerrufen, wenn die ausländische Person zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Und längerfristig bedeutet nach Bundesgericht: mehr als ein Jahr.2 Damit kann eine Sanktion, die noch mittels Strafbefehls ausgesprochen werden kann, nie die Schwelle der längerfristigen Freiheitsstrafe erreichen und den Migrationsbehörden wird somit auch nichts vorenthalten, wenn die Staatsanwaltschaft auf die Landesverweisung verzichtet, was somit ebenfalls dafür spricht, dass der Staatsanwaltschaft diese Kompetenz zukommt.
2.1.2.3 Im abgekürzten Verfahren
Im abgekürzten Verfahren ist es allerdings umgekehrt: Die Staatsanwaltschaften wollen dieses Instrument immer stärker zum Einsatz bringen, das zeigen die statistischen Zahlen klar und deutlich. Wenn dem so ist, kann der beschuldigte Ausländer verstärkt seine Zustimmung zu einem abgekürzten Verfahren davon abhängig machen, dass wegen eines Härtefalls auf die Landesverweisung verzichtet wird. Umgekehrt könnte die Staatsanwaltschaft sich dieses Zugeständnis mit höheren Sanktionen, Ersatzforderungen zugunsten des Staates und Ähnlichem abgelten lassen. Beides aber immer unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch das Gericht.
2.2 Migrationsbehörden
Nach den bereits erwähnten Art. 62 Abs. 2 und 63 Abs. 3 AuG ist es den Migrationsbehörden verwehrt, wegen Delinquenz Aufenthaltstitel zu widerrufen, wenn diese Delinquenz von einem Strafgericht beurteilt und dabei auf eine Landesverweisung verzichtet wurde (dasselbe gilt bei Beurteilung durch die Staatsanwaltschaft im Strafbefehl). Nicht ganz klar ist aber, was dann gilt, wenn die Delinquenz in anderen Entscheiden «beurteilt» wird.
2.2.1 Einstellung des Strafverfahrens
2.2.1.1 Einstellung kommt Freispruch gleich
Wird das Strafverfahren eingestellt, bleibt auch für die Migrationsbehörden kein Raum, wegen dieser, eben nicht eingetretenen, Delinquenz den Aufenthaltstitel zu widerrufen. Dies verbietet die Unschuldsvermutung, kommt doch ein Einstellungsbeschluss kraft Gesetzes einem freisprechenden Urteil gleich (vgl. Art. 320 Abs. 4 StPO), beinhaltet also die Feststellung, dass der Betroffene sich nicht strafbar gemacht hat, womit die Grundvoraussetzung für einen ausländerrechtlichen Widerruf wegen Straffälligkeit, eben die Delinquenz, gerade fehlt. Das gilt selbst bei Einstellungen mit Kostenauflage.
2.2.1.2 Materiell entgegenstehende Gründe
Wie steht es aber bei Einstellungen wegen Strafbefreiungsgründen (Art. 52 – 54 StGB, was nach Art. 8 StPO zur Einstellung führt)?
Der Verzicht auf Strafverfolgung hat die Einstellung des Strafverfahrens zur Folge (vgl. Art. 8 und 320 Abs. 1 lit. e StPO) und kommt nach dem Gesagten ebenfalls einem freisprechenden Urteil gleich, obschon in vielen Fällen ja doch eine strafbare Tat begangen worden ist. So wird bei Art. 52 StGB von der Strafverfolgung abgesehen, weil Schuld und Tatfolgen gering sind, obgleich eine rechtswidrige Tat vorliegt.
Unklarer ist es bei Art. 53 StGB, der Schadensdeckung und dem Unrechtsausgleich. Hier kann von der Strafverfolgung abgesehen werden, ohne dass die Frage nach einer rechtswidrigen Tat geklärt wird, indem eben argumentiert wird, dass selbst bei deren Vorliegen der Schaden gedeckt worden ist etc. Am schwierigsten ist der Fall der Strafbefreiung des Beschuldigten nach Artikel 54 StGB wegen eigener Betroffenheit durch die Folgen seiner Tat.3
In diesen Fällen dürfte aber in der Regel auf Seiten des Beschuldigten Fahrlässigkeit vorliegen, sodass keine Katalogtat für eine obligatorische Landesverweisung vorliegt. Der effektive Grund, warum die Migrationsbehörden in diesen Fällen nicht wegen Delinquenz den Aufenthaltstitel widerrufen dürfen, muss darin gesehen werden, dass Voraussetzung für den Widerruf die Verurteilung zu einer Strafe ist – und die Strafe fehlt nun definitiv.
Dürften die Migrationsbehörden auch dann zum Widerruf schreiten, wenn zwar objektiv eine Straftat vorliegt, aber keine Verurteilung erfolgt, wäre das eine krasse Verletzung der Unschuldsvermutung.
2.2.2 Verurteilungen durch andere Behörden als (schweizerische) Gerichte
Aus dem Obigen ergibt sich, dass die Migrationsbehörden immer dann zur Aufenthaltsbeendigung wegen Straffälligkeit zuständig bleiben,
- wenn die Straftat nicht durch ein (inländisches) Gericht beurteilt worden ist, das heisst insbesondere auch bei Bestrafung mittels Strafbefehlen oder Strafmandaten oder Ordnungsbussen,
- wenn der Betroffene durch ausländische Strafbehörden zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, da ausländische Strafgerichte keine Landesverweisung aus der Schweiz verfügen können und auch ausländische Strafurteile im Rahmen von Art. 62 Abs. 1 lit. b beziehungsweise 63 Abs. 1 lit. a AuG berücksichtigt werden dürfen, «wenn es sich bei den infrage stehenden Delikten nach der schweizerischen Rechtsordnung um Verbrechen oder Vergehen handelt und der Schuldspruch in einem Staat erfolgt ist, in dem die Einhaltung der rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze und Verteidigungsrechte als gesichert gelten kann.»4
2.2.3 Unzuständigkeit bei Absehen von einer Landesverweisung im gerichtlichen Urteil respektive Strafbefehl
2.2.3.1 Im Allgemeinen
Wie schon erwähnt erklären Art. 62 Abs. 2 und 63 Abs. 3 AuG den Widerruf des Aufenthaltstitels durch Migrationsbehörden dann für unzulässig, wenn ein (schweizerisches) Strafgericht von einer Landesverweisung abgesehen hat.
Es fragt sich, was und wie viel im Urteil stehen muss, damit davon ausgegangen werden darf, dass das Gericht «von einer Landesverweisung abgesehen hat». Muss das Gericht explizit im Dispositiv festhalten, dass von einer Landesverweisung abgesehen wird? Wenn dies bloss in den Erwägungen des Gerichts festgehalten wird, wäre nicht sichergestellt, dass das auch unzweifelhaft nachvollziehbar ist, da in all jenen Fällen, wo kein schriftlich motiviertes Urteil zu ergehen hat, diese Erwägungen in keinem offiziellen Dokument festgehalten werden.5
Erklärtes Ziel der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative war auch, den früheren Dualismus von strafrechtlicher Landesverweisung und (wie es damals hiess) fremdenpolizeilicher Wegweisung beziehungsweise Aufenthaltsbeendigung nicht wieder aufleben zu lassen.6 Folgerichtig wird deshalb in der Botschaft zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative ausgeführt, dass die Migrationsbehörden wegen eines Delikts, für das ein Strafgericht bereits eine Strafe verhängt und keine Landesverweisung ausgesprochen hat, keine Aufenthaltstitel widerrufen dürfen.7
Daraus folgt, dass immer dann, wenn im Dispositiv des gerichtlichen Strafurteils keine Landesverweisung ausgesprochen wurde, e contrario davon ausgegangen werden muss, dass bewusst auf die Landesverweisung verzichtet wurde, bewusst von der Anordnung einer solchen abgesehen worden ist (vgl. auch vorne Teil I Ziff. 3.3).
Unzulässig ist somit der Umkehrschluss, dass immer dann, wenn im Dispositiv nicht ausdrücklich steht, dass von einer Landesverweisung abgesehen wurde, die Migrationsbehörden zum Widerruf des Aufenthaltstitels zuständig blieben.
Mit anderen Worten:
- liegt ein Fall einer obligatorischen oder fakultativen strafrechtlichen Landesverweisung vor und wurde der Täter dafür durch ein Gericht oder einen Strafbefehl sanktioniert (Strafe oder gewisse Massnahmen), besteht keine Zuständigkeit der Migrationsbehörden für einen Widerruf von Aufenthaltstiteln wegen Straffälligkeit, weil entweder das Gericht eine Landesverweisung ausgesprochen und damit diesen Widerrufsgrund bereits angewendet hat
- oder das Gericht beziehungsweise die Staatsanwaltschaft keine Landesverweisung aussprach, somit davon abgesehen hat, eine solche zu verhängen (sei es nach Art. 66a Abs. 2 oder 3, aber auch nach Art. 66abis StGB), womit nach Art. 62 Abs. 2 beziehungsweise 63 Abs. 3 AuG der Widerruf des Aufenthaltstitels durch Migrationsbehörden unzulässig ist. Dass beide Fälle (Absehen von einer obligatorischen Landesverweisung wegen Härtefalls oder ermessensweiser Verzicht bei der nichtobligatorischen) von Art. 62 Abs. 2 und Art. 63 Abs. 3 AuG erfasst sind, ergibt sich aus dem Wortlaut dieser beiden Bestimmungen, wo nur an ein Delikt angeknüpft und dabei nicht unterschieden wird, ob es ein Delikt ist, das obligatorisch eine Landesverweisung zur Folge hat oder bloss fakultativ. Dürften die Migrationsbehörden bei der nichtobligatorischen Landesverweisung bereits dann Aufenthaltstitel entziehen, wenn im Strafurteil dazu nichts steht (weil das Verhängen der Landesverweisung fakultativ ist, das Gericht sich somit nicht zwingend damit befassen muss), führte das zur paradoxen Situation, dass doch gerade wieder der zu vermeidende Dualismus eingeführt wird, und zwar gerade im weniger «schlimmen» Bereich, eben dort, wo die Landesverweisung nicht obligatorisch ist.
Das heisst, in jedem Fall, in dem ein Delikt – egal ob Katalogtat oder nicht – eines Ausländers durch ein (schweizerisches) Gericht oder mittels Strafbefehl beurteilt wurde, bleibt für migrationsrechtliche Aufenthaltsbeendigungen allein wegen Straffälligkeit kein Raum.
2.2.3.2 Nichtverlängerung einer Aufenthaltsbewilligung wegen Straffälligkeit
Das Migrationsamt kann zwar eine Aufenthaltsbewilligung nicht allein wegen Straffälligkeit widerrufen, wenn das Gericht davon implizit oder explizit abgesehen hat, es stellt sich aber die Frage, ob es befristete Bewilligungen, also Aufenthaltsbewilligungen (die eben im Gegensatz zu Niederlassungen, die unbefristet erteilt werden, immer nur befristet sind) wegen Delinquenz nicht verlängern kann.
Nachfolgend wird die These vertreten, dass der Entscheid des Gerichts, dass ein Härtefall vorliegt (obligatorische Landesverweisung) beziehungsweise dass eine Landesverweisung unverhältnismässig wäre (nichtobligatorische Landesverweisung) für die Migrationsbehörde bindend ist. Das verbietet dann aber auch, bei einer nachfolgenden Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von diesem gerichtlichen Entscheid abzurücken, sofern nicht neue oder andere Umstände eingetreten sind, aufgrund derer der frühere gerichtliche Entscheid betreffend Härtefall oder Verhältnismässigkeit neu zu beurteilen ist.8
2.2.4 Parallele Zuständigkeit zur Aufenthaltsbeendigung durch Strafgericht und Migrationsbehörden
2.2.4.1 Mehrere Widerrufsgründe
Denkbar – und wohl nicht besonders selten – ist, dass einerseits die Voraussetzungen der strafrechtlichen Landesverweisung gegeben sind, andererseits aber auch einer der anderen, rein migrationsrechtlichen Aufenthaltsbeendigungsgründe von Art. 62 und 63 AuG, beispielsweise falsche Angaben im Bewilligungsverfahren oder Sozialhilfeabhängigkeit etc.
Hat das Gericht eine Landesverweisung ausgesprochen, ist der Widerruf des migrationsrechtlichen Aufenthaltstitels nicht nötig, weil mit der Rechtskraft der obligatorischen beziehungsweise dem Vollzug der fakultativen Landesverweisung der migrationsrechtliche Aufenthaltstitel des Betroffenen gemäss Art. 61 Abs. 1 lit. e und f AuG automatisch als erloschen gilt.
Selbst wenn die Migrationsbehörden also einen anderen Widerrufsgrund als gegeben erachten, können sie keinen Widerruf verfügen, da bei dieser Konstellation gar kein Aufenthaltstitel mehr besteht.
2.2.4.2 Bindungswirkung des strafgerichtlichen Verzichts auf eine Landesverweisung für die Migrationsbehörden bezüglich nicht strafrechtlicher Aufenthaltsbeendigungsgründe
Hat das Gericht keine Landesverweisung ausgesprochen, darf das Migrationsamt keinen Aufenthaltstitel allein wegen Straffälligkeit9 widerrufen, es kann das aber prima vista nach wie vor tun, wenn es sich dafür auf einen anderen Widerrufsgrund, beispielsweise die erwähnte Sozialhilfeabhängigkeit, beruft. Allerdings ist fraglich, ob das Migrationsamt diese Möglichkeit tatsächlich hat.
Im Falle einer obligatorischen Landesverweisung kann das Gericht von der Anordnung der Landesverweisung nur dann absehen (Art. 66a Abs. 2 StGB), wenn ein persönlicher Härtefall vorliegt und die öffentlichen Interessen an der Ausweisung des Ausländers dessen private an einem Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen.
Die nichtobligatorische Landesverweisung ist als Kann-Vorschrift ausgestaltet, womit es im pflichtgemässen Ermessen des Strafgerichts liegt, ob eine Landesverweisung ausgesprochen wird oder nicht. Dasselbe gilt für die obligatorische, wenn der Täter in entschuldbarer Notwehr oder Notstand gehandelt hat.
Sieht das Gericht in diesen Fällen von einer Landesverweisung ab, dann stellt es entweder fest, dass ein persönlicher Härtefall vorliegt oder aber dass die Landesverweisung unverhältnismässig wäre. Damit stellt sich die Frage, inwiefern diese Feststellungen für die Migrationsbehörden verbindlich sind oder nicht bei der Beurteilung, ob der Aufenthaltstitel wegen eines anderen Widerrufsgrundes entzogen werden soll.
2.2.4.2.1 Härtefall
Die Feststellung des Strafgerichts, dass ein Härtefall vorliegt, ist für das Migrationsamt verbindlich, es ist daran gebunden, weil das Strafgericht kumulativ neben dem Vorliegen eines Härtefalles auf die Landesverweisung nur verzichten darf, wenn die öffentlichen Interessen die privaten nicht überwiegen (also maximal als gleich schwer zu beurteilen sind), somit keine andere Prüfung vornimmt, wie dies auch das Migrationsamt gemäss Art. 31 VZAE tun muss.
Voraussetzung ist natürlich, dass der Begriff des Härtefalles im Strafrecht derselbe ist wie im Ausländerrecht. Dagegen könnte man einwenden, dass das nicht zwingend sei, weil durch die Aufnahme des Begriffs des Härtefalls im Strafrecht dieser zu einem strafrechtlichen geworden sei, der vom Strafrecht auch autonom ausgelegt werde. Das kann aber nicht zu befriedigenden Resultaten führen. Bei Einführung des Begriffs des Härtefalls ins Strafrecht hat man sich ganz offensichtlich am ausländerrechtlichen Härtefall orientiert, wie er in Art. 30 AuG und Art. 31 VZAE verwendet (dort aber auch nicht definiert wird), wenn sowohl im StGB als auch im AuG vom «schwerwiegenden persönlichen Härtefall» die Rede ist.
Verwaltungsrechtlich ist der «Härtefall» ein unbestimmter Rechtsbegriff, der zudem noch in unterschiedlichen Ausprägungen vorkommt und beispielsweise in Art. 50 AuG spezifischer als in Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG definiert wird (Opfer ehelicher Gewalt oder Zwangsheirat oder erschwerte Wiedereingliederung im Heimatstaat). Die Anlehnung des StGB in dieser Frage an das AuG zeigt sich aber auch daran, dass ein (strafrechtlicher) schwerwiegender persönlicher Härtefall namentlich bei Secondos zu prüfen ist, was ein klassischer ausländerrechtlicher Härtefall ist, wie Praxis und Rechtsprechung zum AuG seit langem anerkennen.
Immerhin ist zuzugestehen, dass im Rahmen der strafrechtlichen Härtefallprüfung auch die Resozialisierungschancen mit zu berücksichtigen sind. Diese dürften in der Schweiz in der Regel besser sein, namentlich bei Personen, die schon länger hier sind und ausgesprochener noch bei solchen, deren soziales Umfeld ebenfalls hier ist (Kernfamilie, Angehörige, sonstige Freunde und Bekannte). Weiter bietet der schweizerische Strafvollzug wohl in vielen Fällen, insbesondere gegenüber der Situation im Heimatland von Angehörigen sogenannter Drittstaaten (also Nicht-EU- beziehungsweise Nicht-Efta-Staaten), mit seinen Vollzugsformen und Vollzugserleichterungen bessere Resozialisierungschancen als in der Situation, wo ein Straffälliger hier die Strafe zu verbüssen und dann auf den Zeitpunkt seiner Entlassung hin in sein Heimatland ausgeschafft wird, unvorbereitet und ohne dass ein sozialer Empfangsraum zur Verfügung stünde. Dieser Umstand ist zwar wohl kein migrationsrechtlicher Härtefall, muss aber im Rahmen der migrationsrechtlichen Verhältnismässigkeitsprüfung, die jede Aufenthaltsbeendigung bestehen muss, sicher berücksichtigt werden.
Die nächste Frage ist, ob sich denn die strafrechtliche Härtefallprüfung von der ausländerrechtlichen unterscheidet. Die strafrechtliche Prüfung verlangt vom Strafrichter, damit er von der obligatorischen Landesverweisung absehen beziehungsweise auf die fakultative verzichten kann, dass er zuerst einen schweren persönlichen Härtefall erkennt und zweitens zum Schluss kommt, dass die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten des Betroffenen am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen.
Umstritten ist allerdings, ob es bei dieser Prüfung effektiv um ein zweistufiges Verfahren geht (zuerst Prüfung, ob ein Härtefall vorliegt, danach Interessenabwägung). Effektiv geht es auch nicht wirklich um eine zweistufige Prüfung, wie Folgendes zeigt:
Wie gesagt entlehnt das Strafrecht den Härtefallbegriff dem AuG, sodass der Strafrichter nicht darum herumkommen wird, diesen unbestimmten Rechtsbegriff analog zu den migrationsrechtlichen Bestimmungen näher zu definieren. Dazu finden sich Vorstellungen in Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG und Art. 31 VZAE. Allerdings definieren weder Art. 30 Abs. 1 lit b AuG noch Art. 31 VZAE den Härtefall.
Art. 30 VZAE als Ausführungsbestimmung zum Härtefallbegriff referiert ganz allgemein auf Art. 30 Abs. 1 lit. b, 50 Abs. 1 lit. b und 84 Abs. 5 AuG sowie auf Art. 14 AsylG und sagt dann bloss, dass bei der Beurteilung, ob ein schwerwiegender persönlicher Härtefall vorliege, insbesondere sieben Gesichtspunkte (nicht abschliessender Katalog, es können auch noch andere hinzukommen) zu berücksichtigen seien, und zwar: Integrationsgrad, Respektierung der Rechtsordnung, Familienverhältnisse, finanzielle Verhältnisse und Teilhabe am Wirtschaftsleben sowie an Bildung, Anwesenheitsdauer, Gesundheitszustand und schliesslich die Wiedereingliederungsmöglichkeiten im Heimatland, zu welchen auch die strafrechtliche Resozialisierung zu zählen ist.
Diese Gesichtspunkte sind einerseits solche, die einen Härtefall begründen können (beispielsweise prekärer Gesundheitszustand oder der Umstand, dass die Kernfamilie in der Schweiz und intakt ist), andererseits sind es solche, die bei der Gewichtung der öffentlichen und privaten Interessen wiederum zu berücksichtigen sind (schlechter Gesundheitszustand oder intakte Kernfamilie impliziert ein hohes privates Interesse am Verbleib in der Schweiz), womit sich die Härtefallbestimmung mit der Interessenabwägung überschneidet beziehungsweise teilweise mit dieser zusammenfällt, sodass von einer echten Zwei-Stufen-Prüfung nicht die Rede sein kann.
Betrachtet man die in Art. 31 Abs. 1 VZAE festgehaltenen öffentlichen Interessen und beachtet man, dass die dortige Aufzählung nicht abschliessend ist, so wird deutlich, dass auch die anderen Gründe, die zu einem Widerruf des Aufenthaltstitels führen können (Art. 62 und 63 AuG, insbesondere Sozialhilfeabhängigkeit, falsche Angaben im Bewilligungsverfahren, wiederholter Verstoss gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit etc.) bereits vom Strafgericht im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt werden müssen (zumindest sollten).
Liegt dann aus Sicht des Strafrichters ein Härtefall vor und verzichtet er deshalb auf eine Landesverweisung, kann der betroffene Ausländer selbst dann nicht weggewiesen werden, wenn er nach Auffassung des Migrationsamts einen anderen Widerrufsgrund erfüllt (beispielsweise jenen der Sozialhilfeabhängigkeit), weil diesfalls zwar die Aufenthaltsbewilligung wegen des nichtstrafrechtlichen Widerrufsgrundes widerrufen werden könnte, dieser Widerrufsgrund aber vom Strafrichter im Rahmen der zu berücksichtigenden öffentlichen Interessen beim Verzicht auf die Landesverweisung bereits gewichtet worden sein muss.
Unabhängig davon, welche Widerrufsgründe der Strafrichter direkt oder indirekt mitberücksichtigt beziehungsweise mitgeprüft hat, muss der Entscheid des Strafrichters, dass ein Härtefall vorliegt und die privaten Interessen des Betroffenen mindestens gleich hoch wie die öffentlichen sind, auch die Migrationsbehörden binden, da die Interessenabwägung keine unterschiedliche sein kann. Zudem: Würde das Migrationsamt bei derselben Härtefallprüfung zu einem anderen Ergebnis gelangen, wäre der Dualismus wieder eingeführt, den zu vermeiden gerade ein explizites Ziel der neuen Regelung ist und somit dem Grundgedanken der Gesetzesrevision widerspräche.10
Zwar wird das in der Botschaft explizit nur bezüglich des Anknüpfungspunktes an die Straffälligkeit gesagt. Aber gerade im früheren Dualismus wurde die fremdenpolizeiliche Sanktion trotz Verzichts auf die strafrechtliche Landesverweisung damit begründet, dass es nicht um die mit der Straffälligkeit verbundenen Gefahren gehe, sondern um andere zu schützende Polizeigüter. Diese anderen Polizeigüter sind aber heutzutage nichts anderes als diejenigen öffentlichen Interessen, die mittels der nichtstrafrechtlichen Widerrufsgründe gewahrt werden sollen, die somit vom Strafrichter ebenfalls berücksichtigt werden müssen und die die privaten Interessen des Delinquenten nicht übersteigen dürfen.
Was hingegen nicht angehen kann, ist, dass Migrationsbehörden die Interessenabwägung des Strafrichters als unzutreffend erachten und – unter dem Deckmantel eines nichtstrafrechtlichen Widerrufsgrundes – bei der Interessenabwägung zu einem anderen Schluss kommen und gestützt hierauf den Härtefall verneinen.
Zu beachten ist, dass die migrationsrechtliche Aufenthaltsbeendigung noch eine weitere Prüfungsstufe enthält, die bei der strafrechtlichen nur im Rahmen der fakultativen eine Rolle spielen dürfte: Liegt ein migrationsrechtlicher Widerrufsgrund vor und fehlt es am (migrationsrechtlichen) Härtefall,11 dann kann der Aufenthalt migrationsrechtlich nur beendet werden, wenn diese Beendigung unter Würdigung sämtlicher Umstände auch als verhältnismässig erscheint. Unverhältnismässigkeit der Aufenthaltsbeendigung liegt aber viel schneller und eher vor, als dass ein Härtefall angenommen wird. Liegt somit ein (strafrechtlicher) Härtefall vor, ist kaum vorstellbar, dass die migrationsrechtliche Aufenthaltsbeendigung verhältnismässig sein soll.
Aus den genannten Gründen ist die gegenteilige Ansicht, dass eben die Migrationsbehörden im Rahmen anderer als rein strafrechtlicher Widerrufsgründe zu einer anderen Gewichtung der öffentlichen und privaten Interessen gelangen können, wie das etwa in der Botschaft vertreten wird,12 abzulehnen.
Die Botschaft geht in diesem Zusammenhang zum einen gar nicht auf die Frage ein, dass damit der zu vermeidende Dualismus gerade wieder eingeführt wird, und zum anderen bezieht sich die Botschaft auf eine andere als die jetzt geltende Regelung, denn die vom Bundesrat vorgeschlagene hat das Parlament abgelehnt und durch eine eigene ersetzt, in welcher es dem Strafrichter eine umfassende Prüfung auch der öffentlichen Interessen aufgetragen hat, bevor er von einer Landesverweisung absehen kann.
Damit bleibt kein Raum für eine nochmalige, identische Interessensprüfung durch das Migrationsamt und die in der Botschaft vertretene Auffassung, dass die Migrationsbehörden eben «über das Delikt hinausreichende Aspekte» in ihre Prüfung einfliessen lassen können,13 die unter anderem rein ausländerrechtliche Gründe betreffen, hat keine Berechtigung mehr, führte sie doch einzig den Dualismus wieder ein, der eben zu vermeiden ist. Zudem muss nach dem Gesagten der Strafrichter diese weiteren öffentlichen Interessen gerade mitberücksichtigen.
2.2.4.2.2 Ermessensweiser Verzicht des Strafgerichts auf eine Landesverweisung: Unverhältnismässigkeit
Das Gericht kann bei Katalogtaten gemäss Art. 66a Abs. 3 und bei Nicht-Katalogtaten nach Art. 66abis StGB ermessensweise auf die Landesverweisung verzichten.14 Es stellt sich damit die Frage, inwiefern diesem Verzicht Bindungswirkung für das Migrationsamt zukommt.
Betätigt das Strafgericht in diesen Fällen das ihm eingeräumte Ermessen, bedeutet das, dass eine Landesverweisung im konkreten Fall als unverhältnismässig erachtet wird.15 Den gleichen Vorgang kennt das Verwaltungsrecht: Verwaltungsrechtliche Sanktionen müssen immer auch verhältnismässig sein. Sind sie es nicht, ist auf ihre Ergreifung zu verzichten. Aus den gleichen Gründen, wie sie beim Verzicht auf die Landesverweisung dargetan wurden, muss auch hier zur Vermeidung eines neuerlichen Dualismus und zur Vermeidung sich widersprechender Entscheide verschiedener Behörden zur gleichen Frage das Ergebnis dieser Verhältnismässigkeitsprüfung durch den Strafrichter auch für die Migrationsbehörden verbindlich sein.
3. Verfahrensvorschriften
3.1 Grundsatz
3.1.1 Die strafrechtliche Landesverweisung ist nach der StPO auszusprechen
Da die Landesverweisung eine Massnahme des StGB darstellt, ist völlig klar, dass sie auch nach dem Verfahrensrecht des Strafrechts ausgesprochen werden muss, also im Verfahren und nach den Regeln, wie sie die StPO aufstellt. Das betrifft insbesondere das Beweisrecht.
3.1.2 Rückkoppelung der Landesverweisung auf die StPO
Zu fragen ist aber auch, inwiefern die Landesverweisung die StPO verändert. Zu denken ist etwa daran, ob eine drohende Landesverweisung einen Einfluss auf die Haftgründe, insbesondere die Fluchtgefahr hat (entweder nie Fluchtgefahr, weil der Ausländer ja eigentlich hierbleiben will, oder immer Fluchtgefahr, weil er sich einer drohenden Landesverweisung entziehen will).
3.2 Anwendung und Auswirkungen weiterer strafprozessualer Verfahrensmaximen auf die Landesverweisung
3.2.1 Notwendige Verteidigung
Neu führt der Umstand, dass dem Beschuldigten eine Landesverweisung droht, dazu, dass ein Fall von notwendiger Verteidigung vorliegt. Art. 130 lit. b StPO wurde entsprechend ergänzt. Fraglich ist allerdings, wann dem Beschuldigten konkret eine Landesverweisung droht.
3.2.1.1 Bei Katalogtat und somit obligatorischer Landesverweisung
Klar ist, dass dies immer der Fall ist, wenn ein Tatverdacht auf eine Katalogtat für eine obligatorische Landesverweisung vorliegt, weil – sollte sich ergeben, dass der Beschuldigte diese Katalogtat begangen hat – die Landesverweisung grundsätzlich zwingende Folge ist. Von der Bestellung einer notwendigen Verteidigung kann nur abgesehen werden, wenn die Staatsanwaltschaft auf die Landesverweisung verzichten will.
Die Belehrungspflicht muss somit auch die Notwendigkeit der Verteidigung umfassen, damit das Verfahren betr. Sicherstellung der notwendigen Verteidigung eingehalten werden kann (vgl. Art. 131 i.V.m. Art. 133 Abs. 2 StPO).
3.2.1.2 Wenn nur fakultative Landesverweisung in Frage kommt
Keine konkrete Landesverweisung droht dem Ausländer nur dann, wenn keine Landesverweisungs-Katalogtat vorliegt und wenn der Staatsanwalt die Sache allein von der drohenden Strafhöhe her gesehen im Strafbefehlsverfahren erledigen könnte, weil er ja keine Landesverweisung aussprechen kann und damit eine solche auch nicht droht. Da es schwierig vorherzusagen ist, ob nun eine Strafe von vier, fünf oder sieben Monaten droht, wäre es relativ einfach, die drohende fakultative Landesverweisung analog zur amtlichen Verteidigung wegen des Drohens einer Strafe, die nicht mehr als Bagatelle bezeichnet werden kann, zu beurteilen.
Damit müsste eine notwendige Verteidigung wegen Drohens einer fakultativen Landesverweisung dann sichergestellt werden, wenn wegen der drohenden Sanktion eine amtliche Verteidigung verlangt werden könnte, also nach Art. 132 Abs. 3 StPO (und ohne Berücksichtigung von Abs. 2!).
3.2.1.3 Zeitpunkt der Sicherstellung der notwendigen Verteidigung, Folgen bei Verspätung
Liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, so hat die Verfahrensleitung dafür zu sorgen, dass unverzüglich eine Verteidigung bestellt wird (Beschuldigter mandatiert Wahlverteidigung oder die Staatsanwaltschaft muss eine amtliche Verteidigung einsetzen). Bezüglich des Zeitpunkts, wann dies erkennbar war und wann somit die Verteidigung sichergestellt sein muss, gelten die Grundsätze, wie sie bislang zu Art. 131 StPO entwickelt wurden.
Namentlich ist nicht die förmliche Eröffnung eines Verfahrens wegen einer Katalogtat für die Landesverweisung massgebend für den Zeitpunkt der Bestellung der amtlichen Verteidigung, sondern der Zeitpunkt, ab wann erkennbar war, dass der Tatverdacht auf eine Landesverweisungs-Katalogtat besteht (materielle, das heisst objektive Betrachtungsweise). Werden von der Polizei etwa zwei ausländische Personen angehalten, die soeben eine fremde Liegenschaft verlassen haben und entweder verdächtiges Werkzeug oder sogar Deliktsgut mit sich tragen, dann ist bereits klar, dass sie eines Katalogdelikts (nämlich Diebstahl mit Hausfriedensbruch) verdächtig sind und somit amtlich verteidigt werden müssen.
Wechselt der Tatvorwurf während des Verfahrens und wird neu eine Katalogtat mit einer zwingenden Landesverweisung vorgeworfen, so muss natürlich auch die notwendige Verteidigung sichergestellt werden.
Weiter gelten die Konsequenzen einer verspätet errichteten Verteidigung für diese Fälle ebenso, v.a. das Beweisverwertungsverbot nach Art. 131 Abs. 3 StPO.
3.2.2 Information, Tatvorwurf nach Art. 158 StPO
Im Rahmen der Information bei der ersten Einvernahme nach Art. 158 StPO muss über die drohende Landesverweisung nicht aufgeklärt werden, da dies keine dem Beschuldigten vorgeworfene Tat ist (sofern nicht auch ein Verstoss gegen das AuG vorliegt).
Aber mit dem Tatvorwurf kann die Staatsanwaltschaft steuernd einwirken: Läuft es auf eine obligatorische Landesverweisung hinaus (versuchte schwere Körperverletzung, Angriff) mit einer zwingenden Sicherstellung der amtlichen Verteidigung oder tut er das nicht (beispielsweise bei bloss einfacher Körperverletzung). Es wird darauf zu achten sein, dass nicht missbräuchlich Tatvorwürfe im Sinne der Salamitaktik erst im Laufe des Verfahrens gesteigert werden, um nicht von Beginn weg eine notwendige Verteidigung installieren zu müssen.
3.3 Beweisrecht und Auswirkungen der strafprozessualen Beweisvorschriften auf die Landesverweisung
Gegenstand der Beurteilung durch ein Strafgericht ist der in der Anklage umschriebene Sachverhalt. An diesen ist das Strafgericht gebunden, nicht aber an die rechtliche Würdigung desselben.
Nicht zwingend Gegenstand der Anklageschrift ist die von der Staatsanwaltschaft beantragte Sanktion oder der Verzicht darauf.
Die Praxis in den Kantonen dazu ist denn auch unterschiedlich: In einigen Kantonen wird dem Gericht zusammen mit der Anklageschrift auch die Ankündigung unterbreitet, welche Sanktion in welcher Höhe beziehungsweise welchem Umfang beantragt werden wird; in anderen Kantonen wird lediglich angegeben, welche Abteilung des Gerichts die Sache beurteilen soll (also zum Beispiel Einzelrichter, Dreiergericht, Fünfergericht etc., aus deren Strafkompetenz ergibt sich dann die Maximalhöhe der Sanktion, welche die Staatsanwaltschaft im Plädoyer beantragen kann, beziehungsweise dass die Kompetenz zum Erlass bestimmter Massnahmen nicht gegeben ist).
Art. 6 StPO verpflichtet die Strafbehörden, von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen abklären. Daraus ergibt sich, dass die Abklärungspflicht nicht nur den Sachverhalt betrifft, der Gegenstand der Anklage ist beziehungsweise werden soll, sondern auch alle für die Beurteilung der beschuldigten Person bedeutsamen Umstände. In der Regel wird dazu auf Art. 47 StGB referiert, gemäss welchem das Gericht bei der Strafzumessung nebst dem Verschulden auch das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten berücksichtigt.
Daraus ergibt sich folgendes Frageschema, das auch für die Klärung des Sachverhaltes gilt:
- Was muss Gegenstand des Beweises sein, was ist Beweisthema?
- Wen trifft die Beweislast für die relevanten Beweisthemen?
- Wie sind die erhobenen Beweise zu würdigen, insbesondere die Beweislosigkeit?
3.3.1 Beweisthema
Was zur Bestimmung der persönlichen Verhältnisse als Grundlage für die Bestimmung der angemessenen Sanktion gilt, muss mutatis mutandis auch für die Verhängung von Massnahmen gelten, hat das Bundesgericht doch immerhin erkannt, dass aufgrund von Art. 329 Abs. 2 StPO die Rückweisung an die Staatsanwaltschaft zur Erhebung unverzichtbarer Beweise zulässig ist (1B_304/2011 vom 26. Juli 2011 E. 3, in Pra 2012 Nr. 54, unter der gebotenen Zurückhaltung in Anbetracht der gerichtlichen Beweisabnahmepflicht nach Art. 343 StPO). Soll auf eine Landesverweisung nicht verzichtet werden, weil kein Härtefall vorliegt und die öffentlichen Interessen die privaten überwiegen, müssen diese Fragen Beweisthema sein, spätestens dann, wenn der Betroffene einen solchen Härtefall geltend macht.
Quasi ex lege liegt ein Härtefall dann vor, wenn der Ausländer ein solcher zweiter Generation ist (also seit Geburt in der Schweiz lebt, mindestens seit den prägenden Jahren der Schulzeit hier lebt), sodass diese Abklärungen in diesem Fall nicht unterlassen werden können.
3.3.2 Beweislast: Untersuchungsgrundsatz
Wie erwähnt sind insbesondere auch die persönlichen Verhältnisse durch die Staatsanwaltschaft abzuklären und kann ein Mangel in dieser Abklärung zur Rückweisung der Anklage gemäss Art. 329 StPO führen. Ob auf eine Landesverweisung zu verzichten ist, hat wesentlich mit den persönlichen Verhältnissen des Beschuldigten zu tun.
3.3.2.1 Frage- und Abklärungspflicht der Strafbehörden
Aus dem erwähnten Untersuchungsgrundsatz und der daraus abzuleitenden Fragepflicht ergibt sich, dass die Strafbehörden das Vorliegen eines Härtefalls abzuklären haben, und zwar in einem zweistufigen Verfahren: Zuerst ist im Rahmen der Fragepflicht zu klären, ob der Betroffene einen Härtefall geltend macht, beziehungsweise ob Hinweise darauf bestehen, dass ein solcher gegeben sein könnte.
Ist das zu bejahen, ist in einem zweiten Schritt zu klären, ob die Gründe, welche zu einem Härtefall führen könnten, erwiesen sind oder nicht. Zwar enthält das Gesetz selbst keine Abklärungspflicht, diese ist aber bei anderen Massnahmen durchaus ausdrücklich verankert, so etwa bei der stationären Behandlung nach Art. 59 StGB. Diese dauert im Regelfall fünf Jahre und somit gleich lang, wie die Mindestdauer der Landesverweisung. Wenn dort zwingend eine sachverständige Begutachtung gefordert ist, muss hier mindestens eine Fragepflicht mit gegebenenfalls folgender Abklärungspflicht bestehen. Zudem kann der Betroffene nur dadurch, dass die Landesverweisung nun im Rahmen des Strafrechts ausgesprochen wird, nicht schlechter gestellt werden, als er es im verwaltungsrechtlichen Verfahren war beziehungsweise nach wie vor ist. In jenem muss ihm vorweg mitgeteilt werden, dass diese Massnahme erwogen werde, und es muss ihm Gelegenheit zur Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs gegeben werden. Dabei stellen die Migrationsbehörden dem Betroffenen oft einen Fragenkatalog zu, der Elemente des Härtefalls erfragt (familiäre Situation, Gesundheit, Folgen bei einer Rückkehr ins Heimatland etc.). In gleichem Mass wie im Verwaltungsverfahren das rechtliche Gehör zu gewähren ist, muss das auch im Strafverfahren erfolgen.
3.3.2.2 In-dubio-Grundsatz als Beweislastregel
Der In-dubio-Grundsatz ist nicht nur eine Beweiswürdigungsregel, gemäss welcher nicht unterdrückbare Zweifel sich zugunsten des Beschuldigten auswirken müssen (vgl. dazu vorne Teil I Ziff. 2.3.2), sondern auch eine Beweislastregel.
Der In-dubio-Grundsatz als Beweislastregel wäre verletzt, wenn das Gericht fälschlicherweise davon ausgeht, der Beschuldigte habe seine Unschuld zu beweisen, und ihn verurteilt, weil ihm dieser Beweis misslingt.16 Konkret liegt eine Verletzung dieser Beweislastregel vor,
- wenn Angeschuldigte nicht zum Gegenbeweis zugelassen werden,
- wenn Beweisanträge von Angeschuldigten abgewiesen werden, im Urteil aber das Gegenteil dessen angenommen wird, was mit dem abgewiesenen Beweisantrag hätte bewiesen werden sollen,
- und wenn dem Beschuldigten vorgeworfen wird, er habe nicht nachgewiesen, worauf er sich berufe.
Ergibt die Befragung zur Landesverweisung, dass der Betroffene explizit oder implizit einen Härtefall geltend macht, führt das zu einer entsprechenden Sachverhaltsabklärungspflicht der Strafbehörden.
Sinnvollerweise müssen die Härtefallumstände bereits von der Staatsanwaltschaft abgeklärt werden und nicht erst vom Gericht, weil solche Abklärungen im Rahmen der mittelbaren Hauptverhandlung gar nicht möglich sind beziehungsweise zu einer Unterbrechung und Verschiebung der Hauptverhandlung führen werden, wenn etwa Abklärungen über die Botschaft zu spezifischen Situationen im Heimatland erfolgen müssen oder wenn schon nur Länderberichte des SEM einzuholen sind, ganz zu schweigen davon, wenn es darum ginge, solche Abklärungen auf dem Rechtshilfeweg vorzunehmen.
Sämtliche geltend gemachten Umstände müssen somit von Amtes wegen abgeklärt werden. Ein Verzicht auf Abklärungen aufgrund antizipierter Beweiswürdigung ist nur im beschränkten Umfang von Art. 318 Abs. 2 StPO zulässig (diese Bestimmung gilt mutatis mutandis auch für das Hauptverfahren vor Gericht). Das wäre etwa dann gegeben, wenn ein Härtefall offensichtlich nicht gegeben ist (die geltend gemachte gesundheitliche Beeinträchtigung ist eine völlig banale oder das behauptete Familienleben findet gar nicht mehr statt, weil die Ehegatten schon getrennt sind, etc.).
Ungeklärt ist dabei, inwiefern Drittinteressen mitberücksichtigt, abgeklärt werden und ins Verfahren einfliessen und wie sich zudem Dritte, die von der Landesverweisung mitbetroffen werden, gegen diese zur Wehr setzen können. Dazu unten mehr (Ziff. 3.4).
3.3.2.3 Aktenbeizug und Nemo-tenetur-Grundsatz
Beweise können am einfachsten durch den Beizug bestehender Akten beschafft werden. Gerade im Bereich der Landesverweisung sind solche bei den Migrationsbehörden für jeden Ausländer und jede Ausländerin in mehr oder weniger grossem Umfang vorhanden, führt doch die Migrationsbehörde für jede ausländische Person ein Dossier, welche über eine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung verfügt. Es ist damit naheliegend, bei einer ausländischen Person, die als beschuldigte Person in ein Strafverfahren verwickelt ist, routinemässig die Akten des Migrationsamtes beizuziehen, so wie routinemässig beispielsweise auch ein Strafregisterauszug (oft auch aus dem Heimat- oder von früheren Wohnsitzstaaten) einverlangt wird.
3.3.2.3.1 Durch die Strafbehörden
Der Beizug der Akten der Migrationsbehörde wird zwar wohl routinemässig erfolgen, ist dennoch nicht unproblematisch, und zwar dann, wenn der Beschuldigte gegenüber den Migrationsbehörden ihn belastende Angaben machte, ja evtl. sogar machen musste (wenn man schon nur an den Widerrufsgrund des Verschweigens wesentlicher Tatsachen denkt).
Dann kollidiert der Beizug dieser Informationen mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz. Dies ist damit zu beheben, dass Informationen, welche der Ausländer wegen seiner Mitwirkungspflicht gegenüber den Migrationsbehörden machen musste, für das Strafverfahren nicht zu seinem Nachteil verwertet werden dürfen (so mindestens die anerkannte Lösung beispielsweise im Bereich der Steuern und Steuerdelikte: Was im Rahmen der strafbewehrten Mitwirkungspflicht im Veranlagungsverfahren offenbart werden muss, darf im Strafsteuerverfahren nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen verwendet/verwertet werden).
Dasselbe gilt, wenn im Migrationsdossier belastende Angaben von dritter Seite vorhanden sind. Da es um deren Verwertung im Strafverfahren geht, stehen dem Beschuldigten die gleichen Mitwirkungs-, Frage- und Konfrontationsrechte zu, wie sie im Strafverfahren sonst auch gelten. Bestreitet der Beschuldigte die Richtigkeit dieser Akten und macht er sein Frage- und Konfrontationsrecht geltend, muss der Strafrichter diese Rechte gewähren oder aber auf die Verwertung der Angaben verzichten.
Denn es ist kein Grund erkennbar, warum die strafrechtliche Verwertung von Akten Dritter nach anderen Grundsätzen und Regeln erfolgen können soll als nach strafprozessualen. Würde man das zulassen, würde der Umgehung der Schutzvorschriften in der StPO Tür und Tor geöffnet, indem die Strafverfolgungsbehörde durch Auslagerung der Beweissammlung an andere Behörden oder gar an Privatpersonen, die beide nicht an die Vorschriften der StPO gebunden sind, die Einhaltung der strengeren Vorschriften der StPO verhindern könnte.
3.3.2.3.2 Durch die Migrationsbehörden
Die Migrationsbehörden werden bereits jetzt laufend von den Strafbehörden mit Orientierungskopien versehen. So müssen etwa Anzeigen, Anklagen und Strafurteile den Migrationsbehörden gemeldet werden (vgl. Art. 97 Abs. 3 AuG und Art. 82 VZAE). Der verwaltungsrechtlichen Verwertung dieser Akten steht nichts im Wege, dessen muss sich die Verteidigung im Strafverfahren bewusst sein.
3.3.3 Beweiswürdigung: In-dubio-Grundsatz
Unstrittig ist, dass im Strafverfahren der In-dubio-Grundsatz als Beweiswürdigungsregel gilt. Er besagt, dass im Zweifel das Gericht zugunsten des Angeschuldigten zu entscheiden, im Zweifel also vom für den Beschuldigten günstigeren Sachverhalt auszugehen hat.
Dass der In-dubio-Grundsatz uneingeschränkt für den Schuldpunkt gilt (also die Frage, inwiefern der angeklagte Sachverhalt erwiesen ist und der Angeklagte sich somit des entsprechenden Delikts schuldig gemacht hat), ist unbestritten.
Anders ist es für die Fragen betr. Sanktion. Hier entfaltet die Unschuldsvermutung nicht den gleichen Schutz wie im Schuldpunkt. Dennoch, auch hier liegt die Beweislast primär bei der Strafverfolgungsbehörde und die Folge, dass der Beweis nicht erbracht wird, geht zulasten derjenigen Partei, die etwas behauptet und aus dem (misslungenen) Beweis ableiten will.17 So hat etwa dann, wenn eine Verwahrung ausgesprochen werden soll, die Strafbehörde den Nachweis zu erbringen, dass die Voraussetzungen von Art. 64 StGB gegeben sind (Rückfallprognose, keine genügenden Erfolgsaussichten bei einer medizinischen Behandlung). Art. 56 Abs. 3 StGB verpflichtet dabei das Gericht, sich bei diesem Entscheid auf eine sachverständige Begutachtung abzustützen, verpflichtet also die Behörden, ein entsprechendes Gutachten in Auftrag zu geben.
Nun ist im Fall der Landesverweisung die Sache umgekehrt: Die Strafbehörden sollen eine Landesverweisung anordnen, wenn eine Katalogtat vorliegt, und nur dann davon absehen, wenn ein Härtefall vorliegt und die privaten Interessen am Verbleib in der Schweiz mindestens gleich gross sind wie die öffentlichen an der Entfernung.
Dass ein Härtefall vorliegt, ist vom Betroffenen geltend zu machen, nicht aber zu beweisen.18 Die Beweislast bleibt beim Gericht, denn nur dieses weiss am Schluss, welche Beweise gegeben sein müssen, damit der Härtefall als bewiesen erachtet wird, und welche Beweise somit zu erheben sind. Demzufolge hat die Beweislosigkeit der Härtefallgründe nicht den Beschuldigten zu treffen, sondern die Behörde. Bestehen Zweifel bezüglich der tatsächlichen Verhältnisse, so ist von den für den Beschuldigten günstigeren auszugehen. Nicht damit zu verwechseln ist der Umstand, dass die Abklärungen der Behörden dazu geführt haben, dass der geltend gemachte Härtefall nicht vorliegt (der Gesundheitszustand ist nur marginal beeinträchtigt oder die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland sind genügend, das Familienleben in der Schweiz wird kaum oder gar nicht mehr geführt, Verwandte im Ausland existieren noch).
Ein Weiteres kommt hinzu: Der Beschuldigte, der einen Härtefall geltend macht, macht in der Regel negative Umstände geltend: keine Wiedereingliederungsmöglichkeit im Heimatland, keine genügende medizinische Versorgung für die bestehende Krankheit, keine unterstützenden familiären Bande im Heimatland vorhanden. Dieser negative Beweis ist kaum zu erbringen, sodass es darum geht, den positiven Beweis des Gegenteils anzutreten: dass die medizinische Versorgung gut ist, dass familiäre Bande zum Heimatland bestehen (beispielsweise anhand von Passeinträgen bei Ein- und Ausreise), dass die Ausbildung des Betroffenen in dessen Heimatland nachgefragt wird und damit die berufliche Wiedereingliederung wenig problematisch erscheint etc. Diesen positiven Beweis kann nur die Behörde erbringen, die zudem daraus etwas ableiten will, in der Regel, dass eben kein Härtefall gegeben ist.
Was die abzuwägenden öffentlichen und privaten Interessen angeht, so bedürfen die öffentlichen Interessen kaum des Beweises (restriktive Einwanderungspolitik insbesondere gegenüber Drittstaaten) oder sind durch einfache Nachfragen zu klären (Respektierung der Rechtsordnung: Strafregisterauszug; finanzielle Situation und berufliche Integration: Betreibungsregisterauszug und Arbeitszeugnisse).
Schwieriger ist wiederum der Nachweis der privaten Interessen. Dabei sind die objektiven Interessen wie lange Aufenthaltsdauer und Anwesenheit der Kernfamilie und der erweiterten Familie sowie Gesundheitszustand wiederum relativ einfach abzuklären. Schwieriger sind Interessen wie der Integrationsgrad, insbesondere aber die Situation im Heimatland beweismässig zu erstellen. Das Erste ist oft eine Einschätzungsfrage, beim anderen besteht die Gefahr, dass vereinfachend und pauschal auf Länderberichte des Bundes abgestellt wird, die nur ungenügend auf spezielle Situationen eingehen können.
Da es aber bei der Landesverweisung um einen schwerwiegenden Eingriff geht, müssen Einwände gegen die Landesverweisung von der Behörde genau geprüft und abgeklärt werden, wie das auch bei Einwänden gegen den Schuldspruch der Fall ist, also wenn ein Rechtfertigungsgrund geltend gemacht wird, ist dem nachzugehen, wenn nicht bereits auf der Hand liegt, dass ein solcher gar nicht gegeben ist. Nichts anderes gilt bei Einwänden zur Schuldfähigkeit. Somit kann zum Vorbringen eines Härtefalls auch nichts anderes gelten.
3.4 Berücksichtigung Interessen Dritter, Rechtsweggarantie der Dritten (Familienangehörige)
Wie erwähnt ist völlig unklar, inwiefern Dritte, die von der Landesverweisung betroffen werden, sich gegen eine solche zur Wehr setzen können. Im Migrationsrecht ist die Legitimation betroffener Dritter zur Anfechtung von Widerrufsverfügungen unbestritten. Durch Verschieben der Zuständigkeit zur Landesverweisung ins Strafrecht kann diese Legitimation nicht einfach abgeschafft werden. Wahrscheinlich müssten solche Drittbetroffene wie andere Dritte im Strafprozess behandelt werden, beispielsweise als durch Verfahrenshandlungen beschwerte Dritte im Sinne von Art. 105 Abs. 1 lit. f StPO, und das mit der Folge von Art. 105 Abs. 2 StPO, dass ihnen die erforderlichen Verfahrensrechte einer Partei zustehen, wenn sie in ihren Interessen unmittelbar betroffen sind.
Wird eine Landesverweisung ausgesprochen, so ist beispielsweise die Kernfamilie des wegzuweisenden Ausländers direkt in ihren Ansprüchen aus Art. 8 EMRK betroffen und müsste deshalb zum einen im Verfahren als Partei mitwirken können (rechtliches Gehör, Beweisantragsrecht, Recht auf Teilnahme an Verhandlungen etc.) und es muss ihr der Entscheid zugestellt werden mit der Möglichkeit, diesen selbständig und in jenen Punkten anzufechten, wo er in diese Drittrechte eingreift, was nach dem Gesagten bei der Landesverweisung der Fall ist. Somit müsste beispielsweise der Schweizer Ehefrau eines Secondos eine eigenständige Berufung gegen die Landesverweisung zugestanden werden, ebenso dem Kind dieses Secondos, das hier eingeschult und integriert ist.
Angedacht scheint diese Beteiligung Dritter bei der strafrechtlichen Landesverweisung aber nicht, mindestens wird diese Frage soweit erkennbar bislang nicht diskutiert.
4. Fazit
Die Übertragung der fremdenpolizeilichen Landesverweisung ins Strafrecht ist nicht so einfach, wie es die Revision des StGB glauben macht. Gerade im Bereich der Untersuchungsmaxime und der Beweisabnahmepflicht sowie der Beweiswürdigungsgrundsätze bestehen viele offene Fragen, die aber bei der konsequenten Anwendung der bekannten strafprozessualen Grundsätze beantwortet werden, wenn wohl auch nicht immer im Sinne der Ausschaffungsinitiative. Daran führt aber kein Weg vorbei, wie auch die Beachtung und der Vorrang des Völkerrechts wohl zu anderen Resultaten führen muss, als gemeinhin angenommen wird.1
Der grösste ungeklärte Bereich scheint aber der Einbezug Dritter, die von der Landesverweisung ebenfalls betroffen werden und denen in diesem Bereich rechtlich geschützte Ansprüche zustehen (insbesondere aus Art. 8 EMRK, aber etwa auch aus der UN-Kinderrechtskonvention): Inwiefern haben sie Parteistellung, und wenn ja, welche Rechte können sie aus dieser für sich ableiten und geltend machen? Insbesondere stellt sich die Frage, inwieweit sie Entscheide über eine Landesverweisung eigenständig anfechten können.
Im Ergebnis wird klar, dass die Praxis noch viele Fragen zu beantworten haben wird und dabei einen schwierigen Slalomkurs zwischen Beachtung des Auftrags des Gesetzgebers, Beachtung des sonst geltenden nationalen Rechts, insbesondere aber Beachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen wird finden müssen.