Artikel 56 des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes (SchKG) räumt dem Schuldner Zeiten ein, in denen er Ruhe vor seinen Gläubigern haben soll: zwischen 20 Uhr und 7 Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen (geschlossene Zeiten), sieben Tage vor und sieben Tage nach Ostern und Weihnachten sowie in den letzten zwei Juliwochen (Betreibungsferien) oder im Fall eines Rechtsstillstands – etwa wenn ein Schuldner verhaftet wurde, Militär-, Zivil- oder Zivilschutzdienst leistet oder schwer erkrankt ist.
In diesen Schonzeiten dürfen die Behörden gemäss Definition des Bundesgerichts keine Handlungen vornehmen, «die den Gläubiger näher zu seinem Ziel bringen und die in die Rechte des Schuldners eingreifen». Zu den verbotenen Handlungen gehört zum Beispiel die Zustellung des Zahlungsbefehls, der Vollzug der Pfändung oder die Publikation der Versteigerung.
Im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnt sind die Folgen, wenn eine Behörde die Schonzeiten missachtet. Hansjörg Peter, Professor an der Universität Lausanne, vertritt die Ansicht, dass Handlungen, die während dieser Zeit vorgenommen werden, für nichtig erklärt werden müssen. Nach Peter gilt die Nichtigkeit für alle drei Kategorien der Schonzeiten. Denn im Gesetz fehlt ein Hinweis, dass die Rechtsfolgen einer verbotenen Betreibungshandlung je nach Schonzeit unterschiedlich zu behandeln sind.
«Schwankende Rechtsprechung»
Anders sieht es das Bundesgericht. Dominik Balmer, Gerichtsschreiber am Obergericht des Kantons Bern, untersuchte die «schwankende Rechtsprechung» während der letzten 125 Jahre in der Fachzeitschrift «Blätter für Schuldbetreibung und Konkurs» (BlSchK), dem Organ der Konferenz der Betreibungs- und Konkursbeamten der Schweiz.
Missachtet eine Behörde die Schonzeit, kann dies laut Bundesgericht je nach Schonzeit und Interessenlage dazu führen, dass die verbotene Betreibungshandlung entweder als nichtig oder nur als anfechtbar gilt. Bestimmte Betreibungshandlungen können nach Ansicht des Bundesgerichts nicht einmal angefochten werden, sie sind einfach nach Ablauf der Schonfrist gültig. Einige Beispiele dieses Zickzack-Kurses des Bundesgerichts:
1898 hob das höchste Gericht noch ohne Begründung eine vom Betreibungsamt vollzogene Nachpfändung eines Schuldners nach einer Anfechtung auf, weil dieser in Haft sass und noch keinen Vertreter bestellt hatte.
Fünf Jahre später hielt das Bundesgericht erstmals fest, dass das Verbot einer Betreibungshandlung dem Schuldner «Schonung gewähren» soll. Trotzdem entschied das Gericht, dass eine dem Schuldner am Sonntag zugestellte Konkursandrohung nur anfechtbar und nicht nichtig sei.
1906 musste das Bundesgericht die Zustellung einer Pfändungsurkunde an eine Schuldnerin prüfen, die im Basler Gefängnis Lohnhof inhaftiert war. Es kam zum Schluss: Die Betreibungshandlung sei nicht nichtig, sondern nur anfechtbar, wobei «diese Anfechtung freilich in jedem Stadium der Betreibung erfolgen kann».
Zehn Jahre später änderte das Bundesgericht seine Meinung bei einem Zahlungsbefehl radikal, der einem Schuldner an Auffahrt zugestellt wurde. Die Zustellung sei nicht anfechtbar, sondern nur so «zu behandeln, wie wenn sie erst am darauffolgenden Werktag vorgenommen wäre» – also nach Ablauf der Schonzeit. Begründet wurde dies damit, dass bei einer Anfechtung und anschliessenden Aufhebung der Betreibung «die Kosten unnütz vermehrt würden».
1941 standen die Schweizer Soldaten an der Landesgrenze. Das Bundesgericht nahm darauf Rücksicht und erklärte den Zahlungsbefehl an einen Soldaten als nichtig. Begründung: «Der Wehrmann darf den ihm während des Militärdienstes zugestellten Zahlungsbefehl ohne Nachteil vergessen.»
Zwölf Jahre später kippte das Bundesgericht wieder ins andere Extrem. Ein Betreibungsbeamter pfändete mit Polizeiunterstützung an einem Abend während der geschlossenen Zeiten einem Schuldner zwei Franken seines Tageslohns. Das Bundesgericht verwies auf seine frühere Rechtsprechung und hielt dazu lapidar fest, dass die ungültige Betreibungshandlung «erst am folgenden Tag zu wirken beginnt».
Das Bundesgericht blieb mehr als 30 Jahre bei dieser Rechtsprechung. 1988 fällte es einen widersprüchlichen Entscheid: Es bestätigte die Regel, wonach Betreibungshandlungen während der Schonzeiten zwar zulässig, aber erst nach deren Ablauf gültig seien. Dies gelte etwa für die Betreibungsferien oder neu auch den Rechtsstillstand. Für die geschlossenen Zeiten sollte diese Regel jedoch gemäss den Lausanner Richtern nicht mehr gelten.
Sieben Jahre später beurteilte das Gericht die Zustellung einer Versteigerungsanzeige während der Osterbetreibungsferien erneut als anfechtbar und nicht als später gültig. Begründung für diese plötzliche Kehrtwendung: «Berechtigte Interessen des Schuldners werden nicht verletzt.»
Fünf Monate später änderte das Bundesgericht bei der Zustellung eines Zahlungsbefehls an einen Schuldner seine Meinung wieder, ohne auf das frühere Urteil Bezug zu nehmen. Es schrieb: «Wird eine Betreibungshandlung während der Betreibungsferien vorgenommen, entfaltet sie ihre Rechtswirkung erst am ersten Tag nach Ablauf der Betreibungsferien.»
Einmal «nichtig» – ein andermal nur «anfechtbar»
Anfang 2001 folgte die nächste Kehrtwendung: Gegen einen im Kanton Luzern wohnhaften Mann, der Zivildienst leistete, wurden diverse Zahlungsbefehle öffentlich publiziert. Das Bundesgericht qualifizierte die Zahlungsbefehle als nichtig und hob sie auf. Zwei Jahre später galt dies für einen schwer kranken Schuldner nicht mehr. Diesem wurden trotz eines bewilligten Rechtsstillstands Zahlungsbefehle zugestellt. Die Betreibungshandlungen seien nur anfechtbar und nicht nichtig.
2021 entschied das höchste Gericht erneut anders: Der einem Schuldner zugestellte Zahlungsbefehl während des vom Bundesrat verfügten allgemeinen Covid-19-Rechtsstillstands sei nichtig und nicht nur anfechtbar.
Fazit: Die Rechtsprechung des Bundesgerichts ist uneinheitlich. Dominik Balmer hält zu Recht fest, dass verschiedene Rechtsfolgen je nach Schonzeit mit dem Gesetz nicht vereinbar sind. Entgegen dem Bundesgericht hat er sich die Mühe genommen, Artikel 56 SchKG zu den Schonzeiten auszulegen – nach der grammatikalischen, historischen und teleologischen Regel. Er kommt zum Schluss, dass Betreibungshandlungen nie nichtig, sondern immer nur anfechtbar seien.