Für Untersuchungshäftlinge gilt gemäss Artikel 10 der schweizerischen Strafprozessordnung die Unschuldsvermutung. Trotzdem ist die U-Haft in der Praxis die härteste Form des Freiheitsentzugs. Einige Beispiele:
Untersuchungshäftlinge müssen im Gegensatz zu Gefangenen im Strafvollzug in vielen Kantonen 23 Stunden pro Tag in der Zelle verbringen.
Sie dürfen nur einmal pro Woche für eine Stunde Besuch empfangen. In vielen Kantonen sitzen die Besucher hinter Trennscheiben – selbst wenn Kinder dabei sind.
Oft gilt ein Telefonverbot. In BS, BE, SG und ZH ist nicht einmal der telefonische Kontakt mit dem Anwalt möglich.
Meist gibt es weder Arbeits- noch Sportmöglichkeiten.
Hafturlaube sind nicht vorgesehen.
Die Kantone regeln den Vollzug der U-Haft auch in ihren kantonalen Gesetzen und Verordnungen. Deshalb ist die Praxis nicht einheitlich – obwohl die U-Haft auf Bundesebene in der Strafprozessordnung (StPO) in den Artikeln 220 ff. geregelt ist. Artikel 235 Absatz 1 StPO lautet: «Die inhaftierte Person darf in ihrer persönlichen Freiheit nicht stärker eingeschränkt werden, als es der Haftzweck sowie die Ordnung und Sicherheit in der Anstalt erfordern.» Und in Absatz 4 heisst es: «Die inhaftierte Person kann mit der Verteidigung frei und ohne inhaltliche Kontrolle verkehren.»
Doch diese StPO-Grundsätze bleiben oft toter Buchstabe. Der Zürcher Rechtsanwalt Thomas Heeb kritisiert: «Die grundrechtlichen und gesetzlichen Normen werden in der Praxis regelmässig missachtet.» Teilweise seien die Lebensbedingungen in Untersuchungshaft menschenunwürdig. Was Heeb ebenfalls stört: «Man behandelt alle Inhaftierten gleich – nämlich wie hochgefährliche Leute.» Oft werde die U-Haft auch missbraucht. Heeb: «Sie wird in vielen Fällen nicht zur Sicherung des Haftzwecks, sondern zur Erreichung eines anderen Zieles eingesetzt. Nämlich als Beugehaft, um ein Geständnis zu erreichen.»
Harte Zürcher Praxis in der Kritik
Als besonders hart gilt unter Anwälten die U-Haft im Kanton Zürich. Laut Rebecca de Silva vom Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich verbringt ein Untersuchungshäftling an Wochentagen in der Regel nicht mehr als durchschnittlich 19 Stunden in der Zelle. Der Zürcher Rechtsanwalt Stephan Bernard hält diese Aussage aber für beschönigend: «Der Ausnahmefall wird häufig zur Regel.» Auch nach den Erfahrungen des Zürcher Rechtsanwalts Matthias Brunner ist der Häftling mit Ausnahme von Spazieren und Duschen sowie Besuchen und Einvernahmen im Regelfall in seiner Zelle eingeschlossen. Der Zürcher Anwalt Diego Gfeller ergänzt: «Selbst 19 Stunden wären völlig unverhältnismässig.»
Telefonate mit dem Verteidiger werden gemäss de Silva «in Notfällen und bei terminlichen Engpässen» von der Gefängnisleitung bewilligt. Sie würden jedoch unter Aufsicht stattfinden und seien somit sehr personalintensiv. Laut Bernard werden Anwaltstelefontermine jedoch praktisch nie bewilligt. Und Gfeller hält fest: «In anderen Kantonen ist der Telefonkontakt mit dem Verteidiger möglich. Es ist untolerierbar, dass in Zürich die Gespräche unter Aufsicht stattfinden.» Laut de Silva wird in vier der fünf Untersuchungsgefängnisse des Kantons ein Gruppenvollzug praktiziert. Doch von plädoyer angefragten Verteidigern ist diese Praxis nicht bekannt. Gfeller: «Es gibt keinen Gruppenvollzug.»
Zwei-Phasen-Modelle in mehreren Kantonen
Immerhin: In einigen Kantonen wird die Untersuchungshaft phasenweise ausgestaltet, wie das etwa der Staatsrechtler Jörg Künzli fordert (siehe Unten). Eine Möglichkeit besteht in einem Zwei-Phasen-Modell. Dabei wird in einer ersten, zeitlich beschränkten Phase, in der Verdunkelungsgefahr herrscht, ein strenges Regime angewandt. Fällt sie weg, folgt eine erleichterte Haft.
Basel-Stadt praktiziert das Zwei-Phasen-Modell seit 1995. Toprak Yerguz vom Justiz- und Sicherheitsdepartement erklärt: «Personen, die sich in U-Haft befinden, sind mit Ausnahme des täglichen einstündigen Spaziergangs während der ersten Haftzeit 23 Stunden in ihren Zellen eingeschlossen.» Bei gutem Verhalten würden sie in der Regel «nach einigen Tagen» in den Gruppenvollzug verlegt. «Sie können sich dann während mindestens acht Stunden pro Tag ausserhalb der Zelle frei im Gemeinschaftsraum bewegen, die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen, einer Beschäftigung nachgehen und Gruppensport treiben.»
Der Basler Rechtsanwalt Alain Joset weiss, dass der Begriff «einige Tage» sehr dehnbar ist. Er werde je nach Verfahrensverlauf anders interpretiert. «Ich kenne Fälle, in denen ‹einige Tage› einen Monat gedauert haben.» Josets Verdacht: Beschuldigte, die schweigen oder die Vorwürfe bestreiten, bleiben länger in Einzelhaft als jene, die kooperieren.
Einige Kantone versprechen bald Verbesserungen
Luzern arbeitet nach eigenen Angaben in der Justizvollzugsanstalt Grosshof seit vielen Jahren mit einem Drei-Phasen-Modell. Stefan Weiss von der Dienststelle für Justizvollzug erklärt: «Die erste Stufe besteht in Einzelhaft, die zweite in einem reduzierten Gruppenvollzug ohne Arbeitsmöglichkeit und die dritte in einem Gruppenvollzug mit Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten.» Einzelhaft werde am Anfang jeweils angeordnet, da dann in der Regel erhöhte Verdunkelungsgefahr vorliege. Stefan Weiss betont: «Die Anordnung betreffend Art der Haft kommt von der Staatsanwaltschaft.»
Der Aargau will laut eigenen Angaben im ersten Quartal 2018 mit einem Zwei-Phasen-Modell im Zentralgefängnis Lenzburg starten. Auch für den Kanton Bern hat die Einführung eines Mehrphasenmodells angeblich hohe Priorität. Erste Umsetzungsmassnahmen sollten dieses Jahr erfolgen. Der Kanton Zürich stellt dieses Jahr ebenfalls eine Praxisänderung in Aussicht. «Das Zwei- Phasen-Modell soll in allen Gefängnissen für Untersuchungshaft im Kanton Zürich Anwendung finden, wobei die zweite Phase vorerst in einem Gefängnis – dem Gefängnis Limmattal – vollzogen wird», erklärt Rebecca de Silva vom Amt für Justizvollzug. Dafür sollen Gefangene für die zweite Phase in dieses Gefängnis versetzt werden.
“Kein pönaler Charakter”
Der Berner Staatsrechtsprofessor Jörg Künzli und die Oberassistentin Nula Frei von der Universität Freiburg haben einen Artikel unter dem Titel «Ansätze zu einer völker- und verfassungskonformen Ausgestaltung der Untersuchungshaft» verfasst. Darin halten sie fest: «Die Untersuchungshaft hat keinen pönalen Charakter – ihre Rechtfertigung liegt einzig in der störungsfreien Durchführung des Strafverfahrens.» Für U-Häftlinge gelte immer die Unschuldsvermutung.
Die Autoren plädieren deshalb für Stufenmodelle in der U-Haft: «Grundstufe sollte ein Normalvollzug sein, der in Gruppen vollzogen wird und eine möglichst liberale Regelung der Aussenkontakte vorsieht.» Davon abgewichen werden sollte nur, «wenn eine Person eine Gefahr für Dritte darstellt, die Anstaltsordnung auf andere Weise erheblich gefährdet oder Verdunkelungsgefahr vorliegt».
Der Artikel ist erschienen in der «Schweizerischen Zeitschrift für Kriminologie» (Ausgabe 1/2017).