Ende März wurde im Kanton Bern der Regierungsrat gewählt. Nach dem Wahlsonntag war bereits alles entschieden und sämtliche Regierungsratssitze waren besetzt. Das hat mit dem dort verwendeten absoluten Mehr zu tun. Würde Bern mit einem echten absoluten Mehr wählen, wäre ein zweiter Wahlgang nötig geworden. Wie zum Beispiel in Obwalden.
Dort kam es am 8. April bei den Regierungsratswahlen zu einem spannenden zweiten Durchgang. Drei Kandidaten stritten sich um die beiden noch freien Sitze in der Regierung. Sie alle hatten im ersten Wahlgang das absolute Mehr verpasst. Dass es im Kanton Obwalden zu einem zweiten Durchgang kam, hat damit zu tun, dass hier noch mit einem richtigen absoluten Mehr gewählt wird.
Das absolute Mehr ist eigentlich eine einfache Angelegenheit: Abgestellt wird auf die Anzahl der gültigen Wahlzettel. Diese wird durch zwei geteilt. Die nächsthöhere Zahl ergibt das absolute Mehr. Mit diesem «echten» absoluten Mehr wählen heute neben Obwalden noch die Kantone Uri, Luzern und Basel-Stadt.
So wie im Kanton Bern wird aber in vielen Deutschschweizer Kantonen bei den Majorzwahlen das absolute Mehr anders berechnet: Die Gesamtzahl der gültigen Stimmen wird durch die doppelte Zahl der zu vergebenden Mandate geteilt. Die nächsthöhere ganze Zahl ergibt dann das absolute Mehr. Wichtig dabei: Die leeren und ungültigen Stimmen werden für die Berechnung des absoluten Mehrs nicht berücksichtigt. Mit dieser Methode liegt das absolute Mehr deutlich tiefer.
Zuletzt hat der Kanton Nidwalden im Frühjahr 2017 zu diesem System gewechselt – und folgte damit einem Trend: In der Deutschschweiz wählen auch die Kantone Aargau, Appenzell-Ausserrhoden, Baselland, Bern, Glarus, Graubünden, Schaffhausen, Schwyz, Thurgau, Zug und Zürich mit dem tiefer angesetzten absoluten Mehr. Und im Kanton St. Gallen wird das Parlament demnächst über eine entsprechende Anpassung entscheiden.
Bei der Debatte im Nidwaldner Landrat vom letzten Frühjahr wurden diverse Gründe für den Systemwechsel genannt. So etwa administrative Vereinfachungen, Angleichung an andere Kantone oder auch Kosteneinsparungen von rund 42 000 Franken. Der grüne Landrat Thomas Wallimann hatte sich damals im Parlament vergeblich gegen die Verwässerung des absoluten Mehrs gewehrt. Aufgrund des Ausgangs der diesjährigen Nidwaldner Regierungsratswahlen fühlt er sich in seinen damaligen Einschätzungen bestätigt. Seiner Ansicht nach könnte man nun ebenso gut gleich von Anfang an das blosse relative Mehr gelten lassen.
Anfang März wählten die Nidwaldner ihre Regierung erstmals nach der neuen Berechnungsmethode. Das absolute Mehr lag demnach bei tiefen 6128 Stimmen. Nach dem früheren Modus wäre die Hürde hingegen bei 8649 Stimmen gelegen. Das ist ein markanter Unterschied. Darum war in Nidwalden wie im Kanton Bern schon nach dem ersten Durchgang alles entschieden. Bei Anwendung der früheren Berechnungsweise wäre es zu einem zweiten Wahlgang gekommen – mit offenem Ausgang.
Der Kanton Luzern lehnte den Systemwechsel ab
Andreas Glaser, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Zürich und Direktor des Zentrums für Demokratie Aarau, spricht bei einem derartig tief angesetzten absoluten Mehr von einem «Etikettenschwindel». Mit der Vorstellung, der Begriff absolutes Mehr bedeute 50 Prozent plus 1 Stimme habe dies jedenfalls nichts mehr zu tun.
Der Kanton Luzern hingegen lehnte im Jahr 2013 einen Systemwechsel ab. In der Vernehmlassung zu einem entsprechenden Postulat wurde unter anderem erklärt, dass der Wählerwille mit dem bisherigen System besser abgebildet werde. Die Stimmberechtigten hätten so insgesamt mehr demokratische Mitsprachemöglichkeiten. Es wurde auch befürchtet, dass aufgrund der direkten Wahlchancen bei einem tieferen absoluten Mehr die Bedeutung der parteiinternen Ausmarchungen zunehmen werde. Weil diese aber jeweils in einem kleinen Rahmen stattfinden, würde dies einem Demokratieverlust entsprechen.
Luzern blieb in der Folge bei seinem strenger definierten absoluten Mehr. Zumindest auf der Stufe Regierungsrat sind in Luzern zweite Wahlgänge demnach weiterhin fast der Normalfall. So wurden Marcel Schwerzmann und Paul Winiker im Wahljahr 2015 erst im zweiten Durchgang in die Regierung gewählt.
Für den Luzerner Politologen Olivier Dolder steht fest, dass die Art, wie das absolute Mehr berechnet wird, beträchtliche Auswirkungen auf den Ausgang von Wahlen haben kann. Das Grundproblem liege darin, dass ein tief angesetztes absolutes Mehr die direkte Wahl von Kandidaten ermögliche, die keine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben. Das könne ganz konkrete politische Folgen haben. Würde etwa der Kanton Uri das absolute Mehr in der gleichen Art wie Nidwalden berechnen, wäre die SP in Uri heute nicht mehr in der Regierung. Der heutige Urner SP-Regierungsrat Dimitri Moretti hätte dann nämlich im Jahr 2016 im ersten Wahlgang zwar das absolute Mehr erreicht, wäre aber als Überzähliger ausgeschieden. An seiner Stelle wäre ein weiterer FDP-Vertreter in die Regierung eingezogen, obwohl dieser im ersten Durchgang nur eine Minderheit von 41,6 Prozent hinter sich hatte.
Tieferes absolutes Mehr schadet kleinen Parteien
Im Kanton Schwyz ist die SP seit dem Wahljahr 2012 nicht mehr in der Regierung vertreten. Wäre damals noch das frühere «richtige» absolute Mehr zur Anwendung gelangt, hätte es einen zweiten Wahlgang gegeben. Olivier Dolder hält es für gut möglich, dass das Schwyzer Stimmvolk die SP in einem zweiten Durchgang doch wieder in die Regierungsverantwortung einbezogen hätte. Dolder vertritt denn auch die Auffassung, dass ein tief angesetztes absolutes Mehr in der Tendenz den kleinen Parteien schadet. Eine Mittepartei mit einer Hausmacht von beispielsweise 25 Prozent brauche in der Regel nämlich nur noch rund 10 Prozent an zusätzlichen Stimmen, um schon im ersten Wahlgang für ihre Kandidaten alles klarzumachen.
Auch Andrea Töndury, Wahlrechtsspezialist und Privatdozent an der Universität Zürich, hat sich schon verschiedentlich kritisch gegenüber einem tief angesetzten absoluten Mehr geäussert. Die Idee des absoluten Mehrs sei Ausdruck der alten Landsgemeinde, wo ausgemehrt wurde, bis eine Person wirklich die Mehrheit der Stimmenden hinter sich hatte. Ein echtes absolutes Mehr garantiere den Gewählten eine hohe demokratische Legitimation. Zweite Wahlgänge seien deshalb aus demokratischer Sicht zu begrüssen. Für ganz wichtig hält Töndury, dass auch die leeren Stimmen für die Ermittlung des absoluten Mehrs berücksichtigt werden. Dies seien ganz wesentliche und bewusste Meinungsäusserungen, die keinesfalls unter den Tisch gewischt werden dürften (siehe dazu auch die untenstehende Box). Die Frage, ob die leeren Stimmen einberechnet werden, könne das Ergebnis einer Wahl entscheidend beeinflussen.
Das lässt sich gut anhand der Resultate der letzten Zürcher Regierungsratswahlen illustrieren: Die heutigen Zürcher Regierungsräte wurden im Jahr 2015 alle bereits im ersten Wahlgang gewählt. Der Grüne Martin Graf erreichte damals das absolute Mehr zwar ebenfalls, schied hingegen als überzählig aus. Hätte man aber die leeren Stimmen miteinberechnet, hätte das absolute Mehr 132 443 Stimmen (statt 90 888 Stimmen) betragen. Drei der sieben heutigen Regierungsräte hätten so das absolute Mehr verpasst und es wäre zu einem zweiten Wahlgang gekommen.
Das Bundesgericht und die Frage der leeren Stimmen
In einem Urteil vom 24. August 2016 befasste sich auch das Bundesgericht mit der Frage, ob bei der Berechnung des absoluten Mehrs die leeren Stimmen mitberücksichtigt werden müssen oder nicht.
Im konkreten Fall ging es um die Berner Regierungsratsersatzwahlen vom 28. Februar 2016. Ein Mitglied der Grünliberalen legte damals gegen das provisorische Ergebnis Beschwerde ein. Es argumentierte, dass die leer gelassenen Linien bei einem nur teilweise ausgefüllten Wahlzettel bei der Ermittlung des absoluten Mehrs ebenfalls hätten berücksichtigt werden müssen.
Das Bundesgericht erwähnt zwar in seinen Erwägungen jenen Teil der Lehre, welche die Auffassung vertritt, dass leeren Stimmen materielle Bedeutung zukomme, weil die Wähler dadurch zum Ausdruck bringen würden, dass sie alle nicht aufgeführten Kandidaten ablehnten.
Das höchste Gericht stellt sich aber auf den Standpunkt, dass ein Stimmbürger, der einen nicht vollständig ausgefüllten Wahlzettel einlegt, von seinem Stimmenthaltungsrecht Gebrauch macht. Die Lausanner Richter gehen entsprechend davon aus, dass «die Wähler das Ziel verfolgen, vakante Regierungssitze nach Möglichkeit zu besetzen». Das Bundesgericht kommt deshalb zum Schluss, aus dem Wahlverhalten der Stimmbürger könne «kein zwingendes logisches System» für die Berechnung des absoluten Mehrs abgeleitet werden. Entsprechend wies es die Beschwerde ab.
BGE 1C_210/2016