Mit zwei Checklisten will die «paritätische Kommission Rechtsschutzversicherung» des Schweizerischen Anwaltsverbands (SAV) und des Schweizerischen Versicherungsverbands «Unsicherheiten und Ungereimtheiten» beseitigen, die im komplexen Dreiecksverhältnis zwischen Mandant, Rechtsschutzversicherung und Anwalt entstehen. So umschrieb es Kommissionsmitglied Manfred Dähler, Rechtsanwalt in St. Gallen, in einem Aufsatz in der «Anwaltsrevue», der die Veröffentlichung der beiden Empfehlungen Ende Januar begleitete.
Die erste Checkliste richtet sich an die Versicherungen. Unter dem Titel «Empfehlungen für Rechtsschutzversicherer im Umgang mit unabhängigen Anwälten» enthält sie insgesamt 25 Punkte. Dabei handelt es sich zum Teil um blosse Hinweise auf zwingendes Recht. Hinzu kommen verschiedene praktische Anliegen, etwa bei der Kostengutsprache, sowie gewisse Punkte mit deklaratorischem Charakter. So heisst es zum Beispiel, «die Rechtsschutzversicherung respektiert die Standesregeln» des Rechtsanwalts. Die zweite Checkliste enthält Empfehlungen für Rechtsanwälte im Umgang mit Rechtsschutzversicherern. Sie ist mit 29 Punkten noch etwas länger.
Die beiden neuen Schriftstücke ergänzen die schon früher veröffentlichte «Checkliste für den Umgang mit Rechtsschutzversicherungen», mit denen sich die paritätische Kommission SAV/SVV an die Versicherten richtete. Damit sind nun alle Beteiligten im besagten Dreiecksverhältnis bedient. Dabei fällt auf: Die Checkliste für die Versicherten wurde zuerst formuliert – und schon im Jahr 2015 erlassen. Die Versicherten sind in der Kommission nicht vertreten.
“Wettbewerbsrecht könnte verletzt werden”
Mehr als drei Jahre später konnte sich die Kommission nun auf Empfehlungen für die Anwälte und für die Rechtsschutzversicherungen einigen. Dähler beschreibt den Verhandlungsprozess als «ein mühsames Ringen um einzelne Fortschritte, die über das Gesetz hinausgehen». Nicht alle Versicherungen sind mit dem Resultat einverstanden. So die Assista des TCS, eine der wenigen Rechtsschutzversicherungen, die unabhängig sind von einem Versicherungskonzern. Sie trat per Ende 2018 aus dem Versicherungsverband aus. Sprecher Lukas Reinhardt begründet diesen Schritt: «Es geht hier um eine Absprache zwischen Leistungserbringern, die nach Schweizer Wettbewerbsrecht nur zulässig ist, soweit sie dem Konsumenten zum Vorteil gereicht. Aus Sicht der Assista besteht die latente Gefahr, dass Wettbewerbsrecht verletzt wird.»
Tatsächlich konnten sich die Anwälte mit ihrem Anliegen durchsetzen, beim Honorar zum Nachteil des Versicherten für Zusatzforderungen eine Hintertür offen zu lassen. Punkt 11 der «Empfehlungen für Rechtsanwälte» hält fest: «Zur Wahrung der Unabhängigkeit achtet der Anwalt darauf, dass die Kostengutsprache nicht zur alleinigen Schuldübernahme durch den Rechtsschutzversicherer führt, sondern zum solidarischen Schuldbeitritt.»
Dählers Aufsatz liefert den Berufskollegen eine Vorlage, die man vom Klienten standardmässig unterschreiben lassen solle. Diese Klausel will verhindern, dass die Versicherung mit ihrer Kostengutsprache die Honorarschuld des Versicherten zu ihrer eigenen macht (privative Schuldübernahme gemäss Artikel 176 Obligationenrecht). Wenn eine Rechtsschutzversicherung eine Anwaltsrechnung als zu hoch taxiert, müsste sich der Anwalt bei einer privativen Schuldübernahme mit ihr auseinandersetzen. Bei einem solidarischen Schuldbeitritt hingegen kann er sich den Streit mit der Versicherung ersparen und die Differenz beim Mandanten einfordern.
Eine solche Regelung mag für den Anwalt vorteilhaft sein. Was aber hat sie mit der wohlklingenden «Wahrung der Unabhängigkeit» zu tun? Dähler entgegnet, einige Fälle und gewisse Klienten seien aufwendiger, als es die Rechtsschutzversicherung gerne hätte. «Wenn der Druck der Versicherung aufs Honorar zu gross wird, kann sich der Anwalt dann nicht mehr richtig für den Klienten einsetzen.»
“Die Anwälte schaffen sich ein Hintertürchen”
Diese Argumentationslinie hat das Zürcher Obergericht bereits einmal verworfen. Ein Anwalt forderte von seinem Klienten knapp 14 000 Franken, nachdem die Rechtsschutzversicherung nur einen Teil seines Honorars bezahlt hatte. Es überstieg den Streitwert bei weitem. Der Kläger machte geltend, bei einer privativen Schuldübernahme werde der Anwalt am Gängelband der Versicherung gehalten. Er könne nicht mehr unabhängig über die Art und den Umfang der Mandatsführung entscheiden, sondern müsse «die Kosteninteressen des Rechtsschutzversicherers über die Interessen des Klienten setzen». Das Obergericht konnte dieser Sichtweise nichts abgewinnen. Eine Gefährdung der «anwaltlichen Unabhängigkeit bei der Mandatsführung zufolge Bejahung einer privativen Schuldübernahme ist nicht auszumachen», hielt das Obergericht mit Urteil vom 9. April 2015 fest (NP140016-O/U).
Für Stephan Fuhrer, Titularprofessor für Privatversicherungsrecht an den Universitäten Basel und Freiburg, steht die Empfehlung für Anwälte «schräg in der Landschaft». Die neuere Rechtsprechung habe den Charakter der Kostengutsprache als privative Schuldübernahme bestätigt. Der Versicherte habe gemäss Versicherungsvertrag einen klagbaren Anspruch darauf, schadlos gehalten zu werden. Das bedeute, dass das Anwaltshonorar von der Versicherung bezahlt werden müsse. Dennoch erstaunt ihn die Empfehlung zum Nachteil der Versicherten nicht: «Die Interessen der Anwälte treffen sich in dieser Sache mit den Interessen der Versicherungen: Die Anwälte schaffen sich so ein Hintertürchen, wenn es zu Honorardifferenzen mit der Rechtsschutzversicherung kommt. Zugleich kann es den Versicherungen nur recht sein, wenn der Klient einen Teil des Honorars zahlt. Das könnte dazu führen, dass die Versicherungen damit beginnen, die Stundensätze der Anwälte zu plafonieren.»
Dem widerspricht die Versicherungsseite. Daniel Siegrist zum Beispiel, der Geschäftsleiter von Coop Rechtsschutz, bezeichnet den Vorwurf als «Chabis». Coop Rechtsschutz wolle nicht den tiefsten Stundenansatz, sondern den kompetentesten Anwalt. «Für uns ist der günstigste Anwalt jener, der mit hoher Fachkompetenz in einen Prozess geht oder einen solchen vermeidet, den Fall effizient führt und ihn auch gewinnt – und nicht einer, der uns vom Küchentisch aus irgendwelche Angebote mit Stundensätzen von 180 oder 200 Franken macht.» Siegrist beruft sich auf die Erfahrung aus rund 10 000 extern vergebenen Mandaten pro Jahr. Sie besagt: Lieber 8 Stunden zu 300, 350 oder 400 Franken als 30 Stunden zu 190 Franken.
Laut Siegrist klappt die Zusammenarbeit in den meisten Fällen reibungslos, und die Anwaltsrechnungen seien angemessen. Es gebe allerdings Ausnahmen. Rechtsschutzversicherungen hätten zunehmend mit grossen Wirtschaftskanzleien zu tun, die in die Niederungen der «profanen» Advokatur vorstossen und «honorarmässig jede Scheu abgelegt haben». Die Coop Rechtsschutz habe aber kein Problem damit, wenn der Anwalt den Klienten in der Honorarverantwortung behalten wolle. Andere Gesellschaften sehen es ähnlich. «Für die Axa-Arag spricht nichts gegen einen kumulativen Schuldbeitritt», sagt Sprecherin Olivia Guler. Gemäss geltenden Vertragsbedingungen begründe die Kostengutsprache der Versicherung an den Anwalt keinen Antrag auf alleinige Schuldübernahme.
Assista und CAP gehen einen anderen Weg
Die Assista hingegen erklärt, sie bevorzuge im Sinne der Konsumentenfreundlichkeit die privative Schuldübernahme. Das werde sie auch künftig so handhaben. Man erteile die Kostengutsprache grundsätzlich direkt dem Anwalt. Ähnlich äussert sich die CAP, die zum Allianz-Konzern gehört. «Die CAP verfasst ihre Kostengutsprache explizit als privative Schuldübernahme», sagt Geschäftsleiter Daniel Eugster. Das habe «für die versicherte Person den Vorteil, dass allfällige Honorarstreitigkeiten direkt zwischen Anwalt und Rechtsschutzversicherung auszutragen sind». Eine typische Formulierung in einer solchen Kostengutsprache an den Rechtsanwalt lautet etwa so: «Mit Annahme der Kostengutsprache durch den Anwalt tritt die Rechtsschutzversicherung als alleinige Schuldnerin in das zwischen Anwalt und der versicherten Person abgeschlossene Mandatsverhältnis ein.»
Wird damit das Hintertürchen für Zusatzforderungen des Anwalts an den Klienten geschlossen? Thierry Luterbacher, Verfasser des 2018 erschienen Standardwerks «Rechtsschutzversicherung» erläutert gegenüber plädoyer: Weder das Gesetz noch die Bundesgerichtspraxis würden die Rechtsnatur der Kostengutsprache in allgemeiner Form festlegen. Den Rechtsschutzversicherern bleibe es deshalb unbenommen, gestützt auf Artikel 176 Absatz 1 OR mit dem Anwalt eine privative Schuldübernahme zu vereinbaren. Dies könne bei der Mandatserteilung oder in Rahmenverträgen erfolgen.
Wird die Frage zwischen Versicherung und Rechtsanwalt nicht klar geregelt, muss dieser Punkt laut Luterbacher jeweils im konkreten Fall durch Auslegung nach dem Vertrauensprinzip beantwortet werden. «Diese Auslegung erfasse sowohl Antrag und Annahme im Verhältnis Anwalt und Versicherung: «So kann sich ergeben, dass eine ausdrückliche Vereinbarung zwischen Anwalt und Klient, wonach die Kostengutsprache der Rechtsschutzversicherung bloss einen Schuldbeitritt bewirke, wirkungslos ist, wenn die Auslegung zeigt, dass zwischen Anwalt und Versicherung eine privative Schuldübernahme zustande kam.»
Am Anwaltskongress vom Juni in Luzern geht der Anwaltsverband in einem Workshop mit Manfred Dähler auf das Thema «Anwalt und Rechtsschutzversicherung» noch vertieft ein. Für Gesprächsstoff ist gesorgt.