Das Fachgebiet ist geprägt von Geld und Macht, also von Politik. Es geht um die unterschiedlichen Interessen von Invaliden und ihrer Versicherung. Gabriela Riemer-Kafka kann auf eine intensive, über 30-jährige Tätigkeit im Sozialversicherungsrecht zurückblicken. Trotzdem zeigt sie keinerlei Ermüdungserscheinungen – und nimmt auch keine zynische Haltung ein. An der heiteren Gemütsverfassung der Professorin prallt alles ab.
Bei Praktikern aus dem Sozialversicherungsrecht hingegen enden Diskussionen zuweilen in Wutausbrüchen und/oder Resignation. Die Probleme sind bekannt: Die Praxis der Invalidenversicherung (IV) etwa hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren so stark verschärft, dass sich die Anzahl der Neurenten praktisch halbierte. Kritiker werfen der IV vor, den Invaliditätsgrad bewusst aufgrund realitätsfremder statistischer Einkommenswerte festzulegen. Das Bundesgericht stützt diese Praxis bis heute.
«Natürlich sind mir alle diese Probleme bekannt», sagt die Professorin dazu. «Etliche Invalidenrenten sind viel zu tief, weil die Invalidenversicherung mit ungeeigneten Lohndaten rechnet. Und ja, der Bund ignoriert diese Probleme seit Jahren. «Das ist wirklich nicht vertrauensbildend. Aber statt sieben Mal das Bundesgericht zu kritisieren oder das Bundesamt für Sozialversicherungen, suche ich nach konkreten Lösungen.» Sie sei schliesslich Wissenschaftlerin. Ihre Professur an der Universität Luzern habe sie 2004 auch mit dem Ziel angetreten, «aus der Arbeit innovative Lösungsvorschläge anzubieten, die Sozialversicherung weiterzuentwickeln und mit neuen Ideen in die Zukunft zu führen».
So viel Selbstbewusstsein und Optimismus in einem einzigen Atemzug macht zuerst einmal misstrauisch. Doch was wie eine Floskel aus dem Munde einer Politikerin klingt, hat bei Riemer-Kafka Gehalt: Ihre zusammen mit Urban Schwegler und einer hochkarätigen Arbeitsgruppe verfasste, Ende 2021 erschienene Abhandlung mit dem Titel «Der Weg zu einem invaliditätskonformeren Tabellenlohn» zerlegt die bisher angewandte Methode der Invaliditätsbemessung bis ins kleinste Detail und bietet neue konkrete Lösungsinstrumente an. Sie zeigt zum Beispiel auf, wie die bestehende Tabelle der Lohnstrukturerhebung angepasst werden kann, damit sie besser auf die verbleibenden Einkommenspotenziale von Leuten mit einer körperlichen Behinderung zugeschnitten ist. Das Problem: Die IV geht bei der Bemessung des Invaliditätsgrads von einem fiktiven Einkommen der Betroffenen aus, das auf dem real existierenden Arbeitsmarkt nicht erreicht werden kann. Daraus resultiert ein tieferer Invaliditätsgrad und somit eine tiefere Rente als bei einer realistischen Berechnung.
Die Arbeit, die in der «Schweizerischen Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge» SZS erschien, löste in Fachkreisen ein enormes Echo aus. Das Bundesgericht sah sich in einem Fall, in dem es um die umstrittene Berechnung der IV-Renten ging, gezwungen, die auf vergangenen November angesetzte Verhandlung zu verschieben. Und Anfang Januar sandten mehr als ein Dutzend namhafte Sozialversicherungsrechtler aus den Schweizer Universitäten einen Brief an Bundesrat Alain Berset mit der Aufforderung, «die aktuell überhöhten Tabellenlöhne» endlich anzupassen. Der Zürcher Sozialversicherungsexperte Ueli Kieser kennt Riemer-Kafka seit über dreissig Jahren und sagt: «Sie gehört zu den nicht so zahlreichen Personen in der Akademie, die mit einem wissenschaftlichen Beitrag etwas für die Praxis erreichen konnten.»
Das war schon früher der Fall: Riemer-Kafka entwickelte bereits als junge Juristin 1987 im Rahmen ihrer Dissertation mit dem Titel «Rechtsprobleme der Mutterschaft im Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht» das heutige Modell der Erwerbsersatzordnung für die Mutterschaft. Die Schweiz war damals noch weit entfernt von einer Taggeldversicherung für junge Mütter. «Heute ist das eine Selbstverständlichkeit», so die 63-Jährige nicht ohne Stolz.
Hände weg vom Arbeitsgesetz
Blickt Gabriela Riemer-Kafka in die Zukunft, sieht sie weiterhin enormen Handlungsbedarf – zum Beispiel bei der immer stärker aufkommenden Arbeit für Unternehmen, die via Internetplattformen Arbeit vermitteln. Die Juristin meint damit Berufe wie etwa «Uber-Fahrer», bei denen die sozialversicherungsrechtliche Einstufung als Angestellte oder Selbständigerwerbende unklar ist. «Der Bundesrat sieht keinen Handlungsbedarf und schiebt die Sache vor sich her», sagt die Juristin. Ihr Vorschlag: «Den sozialen Schutz für Selbständigerwerbende generell mittels einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung ausbauen. «So ist der Anschluss an die Invalidenversicherung nahtlos gewährleistet.» Oder man löse das Problem so, wie es bei den Verwaltungsräten gemacht werde. Auf die Uber-Fahrer umgemünzt, würde die Tätigkeit sozialversicherungsrechtlich als unselbständig qualifiziert. «Wir müssen die soziale Absicherung dieser Leute gewährleisten, sonst droht eine neue Armut.» Die Plattformarbeit werde sich in den kommenden Jahren unaufhaltsam ausbreiten. «Das ist wie mit der industriellen Revolution, das frisst sich durch!»
Besorgt konstatiert die Juristin, heute zähle einzig der wirtschaftliche Erfolg. «Menschen werden vermehrt als Mittel zum wirtschaftlichen Zweck degradiert und sind zur Produktionsmaschine geworden.» Diese «Entmenschlichung der Gesellschaft» und als Kompensation «ein übertriebener Individualismus» beschäftige sie sehr. Die Gespräche mit ihrem Mann, dem emeritierten Privatrechtsprofessor Hans Michael Riemer, würden bei langen Spaziergängen in der Natur oft um dieses Thema kreisen. Sie ist deshalb dezidiert gegen die «permanenten Versuche, das Arbeitsgesetz punkto Arbeitszeiten zu flexibilisieren». Wenn einzelne Branchen – zum Beispiel Treuhänder – wirklich unter Druck seien, könnte man für diese Branchen Bewilligungspflichten für verlängerte Arbeitszeiten einführen. «Im Rahmen des Bestehenden gibt es sicherlich Spielraum dafür.» Es dürfe aber kein Einfallstor sein, um die Leute rund um die Uhr arbeiten zu lassen.»